Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Der rote Faden

Der rote Faden

Gottesdienst am 12. Oktober
Pastorin

Andrea Busse

Predigt zum 17. Sonntag nach Trinitatis

Predigt zu Josua 2, 1-21

Bibeltext:

Josua aber, der Sohn Nuns, sandte von Schittim zwei Männer heimlich als Kundschafter aus und sagte ihnen: Geht hin, seht das Land an, auch Jericho. Die gingen hin und kamen in das Haus einer Hure, die hieß Rahab, und kehrten dort ein. Da wurde dem König von Jericho angesagt: Siehe, es sind in dieser Nacht Männer von den Israeliten hereingekommen, um das Land zu erkunden. Da sandte der König von Jericho zu Rahab und ließ ihr sagen: Gib die Männer heraus, die zu dir in dein Haus gekommen sind; denn sie sind gekommen, um das ganze Land zu erkunden. Aber die Frau nahm die beiden Männer und ver­barg sie. Und sie sprach: Ja, es sind Männer zu mir hereinge­kommen, aber ich wusste nicht, woher sie waren. Und als man das Stadttor schließen wollte, da es finster wurde, gingen die Männer hinaus, und ich weiß nicht, wo sie hingegangen sind. Jagt ihnen eilends nach, dann werdet ihr sie ergreifen. Sie aber hatte sie auf das Dach steigen lassen und unter den Flachs­stängeln versteckt, die sie auf dem Dach ausgebreitet hatte. Die Verfolger aber jagten ihnen nach auf dem Wege zum Jordan bis an die Furten, und man schloss das Tor zu, als sie draußen waren. Und ehe die Männer sich schlafen legten, stieg Rahab zu ihnen hinauf auf das Dach und sprach zu ihnen: Ich weiß, dass der HERR euch das Land gegeben hat; denn ein Schrecken vor euch ist über uns gefallen, und alle Bewohner des Landes sind vor euch feige geworden. Denn wir haben gehört, wie der HERR das Wasser im Schilfmeer ausgetrocknet hat vor euch her, als ihr aus Ägypten zogt, und was ihr den beiden Königen der Amoriter, Sihon und Og, jenseits des Jordans getan habt, wie ihr an ihnen den Bann vollstreckt habt. Und seitdem wir das gehört haben, ist unser Herz verzagt und es wagt keiner mehr, vor euch zu atmen; denn der HERR, euer Gott, ist Gott oben im Himmel und unten auf Erden. So schwört mir nun bei dem HERRN, weil ich an euch Barmherzigkeit getan habe, dass auch ihr an meines Vaters Hause Barmherzigkeit tut, und gebt mir ein sicheres Zeichen, dass ihr leben lasst meinen Vater, meine Mutter, meine Brüder und meine Schwestern und alles, was sie haben, und uns vom Tode errettet. Die Männer sprachen zu ihr: Tun wir nicht Barm­herzigkeit und Treue an dir, wenn uns der HERR das Land gibt, so wollen wir selbst des Todes sein, sofern du unsere Sache nicht verrätst. Da ließ Rahab sie an einem Seil durchs Fenster hinab; denn ihr Haus war an der Stadtmauer, und sie wohnte an der Mauer. Und sie sprach zu ihnen: Geht auf das Gebirge, dass eure Verfolger euch nicht begegnen, und verbergt euch dort drei Tage, bis zurückkommen, die euch nachjagen; danach geht eures Weges. Die Männer aber sprachen zu ihr: So wollen wir den Eid einlösen, den du uns hast schwören lassen: Wenn wir ins Land kommen, so sollst du dies rote Seil in das Fenster knüpfen, durch das du uns herabgelassen hast, und zu dir ins Haus versammeln deinen Vater, deine Mutter, deine Brüder und deines Vaters ganzes Haus. So soll es sein: Wer zur Tür deines Hauses herausgeht, dessen Blut komme über sein Haupt, aber wir seien unschuldig; doch das Blut aller, die in deinem Hause bleiben, soll über unser Haupt kommen, wenn Hand an sie gelegt wird. Und wenn du etwas von dieser unserer Sache verrätst, so sind wir frei von dem Eid, den du uns hast schwören lassen. Sie sprach: Es sei, wie ihr sagt!, und ließ sie gehen. Und sie gingen weg. Und sie knüpfte das rote Seil ins Fenster. (Josua 2)

Predigt:

Sie hat es in sich diese Geschichte von Rahab und den beiden Kundschaftern in Jericho. Man könnten sie problemlos als Spio­nage­thriller inszenieren. Ich erinnere mich, dass ich als Kind diese Geschichte unglaublich spannend fand und Rahab war meine Heldin. (Vermutlich habe ich damals noch nicht so genau begriffen, was eine Hure ist.) Jedenfalls fieberte ich mit den Is­rae­liten mit, die doch in das Land einziehen sollten, das Gott ihnen verheißen hatte, in das Land, wo Milch und Honig fließt.
Heute frage ich mich natürlich: Und was ist mit denen, die da schon wohnen und die auch Milch und Honig wolltn und dort weiterhin in Frieden leben?

Diese Erzählung ist eine Episode der durchaus gewaltsamen Landnahmetradition, so nennt man das in der Theologie. Und Landnahme ist dabei ein relativ harmloser Begriff dafür, dass die Israeliten auf Gottes Geheiß und mit seinem Schutz, die in diesem Land lebenden Menschen überfielen und – auch Rahab weiß davon, sie spricht es direkt an, den Bann an ihnen voll­strecken. Bann heißt: vernichten, Zitat aus dem 5. Buch Mose: „alles auslöschen, was Odem hat.“ (5. Mose 20,16). „Seitdem wir das gehört haben“ sagt Rahab „ist unser Herz verzagt und keiner wagt mehr vor euch zu atmen.“ Die Israeliten – samt ihrem Gott – verbreiten Angst und Schrecken – und Blutver­gießen. Nach den Amoritern und ihren beiden Königen Sihon und Og sind nun die Kanaaniter dran und ihre Stadt Jericho.
Und ich denke: Auch in Jericho wohnten doch Leute, wo sollen die denn hin?

Diese Fragen sind so schmerzhaft aktuell, dass ich zu­mindest die heutige Situation nicht ausblenden kann, wenn ich diese Geschich­ten lese. Auch in Gaza wohnen Menschen und im Westjordanland und auf den Golanhöhen.

Das, was damals – angeblich in Gottes Namen – passiert, ist weit weg von der „territorialen Unversehrtheit“, die in der Charta der Ver­einten Nationen festgeschrieben ist. Da ist er der garsti­ge Graben der Geschichte, der sich zwischen uns heute und den biblischen Texten auftut und den zu ignorieren, sehr gefähr­lich ist. Denn natürlich berufen sich heute ultrarechte Israelis genau auf diese biblischen Erzählungen und be­gründen damit ihr Recht auf das Land, ganz egal ob da andere Men­schen leben oder nicht. Und mich schmerzt es zu hören, wie da biblische Geschichten auch miss­braucht werden.

Der historische Graben kann und darf nicht so einfach über­sprun­gen werden. Und ich werde nicht aufhören zu predigen, dass es so, wie die biblischen Geschichten es erzäh­len, nicht stattge­funden hat. Archäologisch ist belegt, dass Jericho längst zer­stört war, bevor der Volksstamm der Israeliten in dieser Gegend auftauchte. Heute weiß man, dass es keine brutale Land­nahme gab, also keine große militärische Erobe­rung mit viel Blutvergie­ßen, sondern dass es friedlich und über einen längeren Zeit­raum ablief: dass gleichzeitig mit einem Nieder­gang der kananäischen Stadtstaaten andere Stämme in diesen Land­strich einwanderten und sich mit der dortigen Bevölkerung mischten.

Und doch gibt es diese für uns heute eher grausam anmuten­den Eroberungsgeschichten in der Bibel – erzählt allein aus der Sicht der Sieger. Warum hat man sie so aufgeschrieben? Heute weiß man, dass die Texte viel später entstanden sind, nämlich in der Zeit, in der man das Land, das hier so glorreich einge­nom­­men wird, wieder verloren hatte. Im babylonischen Exil. Vermut­lich brauchte man damals die Vergewisserung, dass dieses Land nach Gottes Willen doch dem Volk Israel gehört, und sich damit die Hoffnung auf Rückkehr verbinden konnte. Diese Erzählungen hatten ihre Trostfunktion im Glaubensleben der Menschen damals und haben in dieser Hinsicht ihren wahren Kern.

Auf jeden Fall hat man – wiederrum etwas später – in diese Erzählungen die Episode mit Rahab aufgenommen. Sie ver­schafft uns einen kleinen Perspektivwechsel: Wir bekommen einen, wenn auch sehr begrenzten Einblick, in die Seite der anderen, der Gegner der Israeliten. Aus der Masse tritt eine Person hervor. Sie hat einen Namen, sie spricht, sie handelt, sie beeinflusst das Geschehen.

Auch die Person Rahab bleibt dabei schillernd: Ist sie eine Heldin oder eine Verräterin? Leuchtendes Vorbild, geschickte Diplomatin oder Kollaborateurin, eine die ihr Fähn­chen nach dem Wind hängt und versucht, sich und die Ihren zu retten um den Preis, ihre Landsleute zu verraten?

Man weiß nicht mal mit Sicherheit, ob sie das war, was Luther übersetzt hat: eine Hure. „Issah zonah“ steht im hebräischen Text, das heißt wörtlich eine „ungebundene Frau“ und kann faktisch alles mögliche bedeuten. Manche haben vermutet, dass sie kein Prostituierte war, sondern eine Gastwirtin, die an der Stadtmauer den Durchreisenden eine Unterkunft bot. Wenn eine unverheiratete Frau fremde Männer übernachten ließ, war das schon anrüchig und zack hatte sie ihren Stempel als Hure weg. Der Name Rahab kann soviel bedeuten wie „weit machen, öffnen“ und könnte durchaus eine sexuelle Konnotation haben. Er kann aber auch einfach davon erzählen, dass Rahab offen ist – gastfreundlich auch für Fremde.

Ich muss gestehen, ich kann mich nicht ganz von meiner Kind­heitsheldin verabschieden. Ich finde noch immer, dass sie klug und umsichtig handelt. Während alle vor Angst gelähmt sind, ver­liert sie nicht den Kopf und agiert ziemlich zielorientiert und das Ziel heißt: Leben retten, zumindest ein paar und soweit es in ihrer Macht steht. Als der König zu ihr kommt, liefert sie die beiden, die bei ihr Unterkunft ge­funden haben, nicht aus – denn das würde ihren sicheren Tod be­deuten. Und dann versucht sie, ihren sicheren Tod abzuwen­den, wenn herauskommen sollte, dass sie Spione beherbergt hat. Sie macht einen Deal mit den beiden Israeliten: „Ich helfe euch, ihr helft mir.“ Rahab ist wirklich eine „ungebundene Frau“ – sie bestimmt selbst, welche Verbindungen sie eingeht und wem sie vertraut: diesen Männern nämlich, mit denen sie im wahr­sten Sinn des Wortes eine Seilschaft eingeht, UND deren Gott.

Die Vertrauensfrage zieht sich für mich wie ein roter Faden durch die Geschichte und das ist der Faden, den ich über den historischen Graben hinweg auch für heute zu fassen kriege. Wem kann man in Krisenzeiten vertrauen?
Josua vertraut zwei Spionen das Auskundschaften des Fein­des­landes an. Und was machen die? Gehen in das erstbeste Bordell. Wenn es denn eines war. Sie vertrauen zumindest der Gastfreundschaft einer Person mit sehr zweifelhaftem Ruf. Und sitzen dann dort fest, als der König und seine Häscher kom­men, Rahab hätte sie leicht ans Messer liefern können. Und doch wird ihr Vertrauen nicht enttäuscht. Und Rahab wiederum vertraut sich und ihre Familie den fremden Männern, dem frem­den Gott an. „Euer Gott ist Gott oben im Himmel und unten auf der Erde“ – mit diesem Bekenntnis schlägt sich die Kanaa­näerin auf die Seite Israels.

Ihr Vertrauen wird belohnt. Als die Israeliten um die Stadt ziehen und mit ihren Posaunen die Stadtmauern von Jericho zum Einsturz bringen wird sie mit ihrer Familie verschont. Noch interessanter finde ich allerdings, was man sonst noch über ihre Zukunft erfährt: Sie heiratet später einen Israeliten und taucht dann im Stammbaum Jesu wieder auf, als eine von nur vier nament­lich erwähnten Frauen, zwei davon sind übrigens keine Israelitinnen, sondern Auslän­der­innen. Auch an anderen Stellen des Neuen Testamentes – im Hebräerbrief und im Jakobusbrief – wird Rahab lobend erwähnt, z.T. in eine Reihe mit Abraham als Glaubensvorbild gestellt.

Für mich ist sie ein Vorbild, weil sie – wie ihr Name sagt – offen ist. Sie mauert sich nicht ein, sondern überwindet Mauern, not­falls mit einem Seil. Sie denkt nicht in Wir-und-Ihr-, in Freund- und-Feind-Kategorien, sondern fragt allein: Was ist lebens­förderlich? Rahab erweist sich als ungebundene Frau, die die Fäden in der Hand hält und das Fenster in der Mauer öffnet. Sie wird bei den Israeliten leben. Mit ihr beginnt das, was allein Hoffnung für ein umkämpftes Land ist: friedliches Zusammenleben von Men­schen unterschiedlicher Abstammung im gleichen Land.

Deswegen möchte ich ihre Geschichte als Hoffnungsgeschichte lesen. Und ich weiß, man kann auch ganz anderes auf diese Geschichte gucken, so wie man eigentlich immer aus unter­schied­lichen Perspektiven auf eine Situation gucken kann. Für die einen wird sie eine Ver­räterin bleiben, für andere eine Gottesfürchtige.

Ich habe gelesen, dass man keine 100 km von Jericho entfernt in Amman bei Grabungen mehrere große Frauenköpfe aus Stein gefunden hat, die alle eine Besonderheit haben: Sie sind von einem Fenster gerahmt und haben ein Doppelgesicht, das sowohl ins Zimmer als auch aus dem Fenster guckt. So möchte ich mir Rahab vorstellen: eine die keinen Tunnel­blick hat, sondern mehrere Perspektiven einnehmen kann: nach innen und nach außen. Eine, die den Faden aufnimmt, Verbindungen knüpft, Brücken baut, ein Rettungsseil auswirft. Eine, die Ver­trauen wagt in einer Krisensituation. Eine, die dem Gegner Vertrauen entgegenbringt, wenn alle vor Angst schlottern. Nur so kann friedliches Zusammenleben gelingen.

Diesen roten Faden gibt Rahab auch uns in die Hand. Wir müssen und können nicht die globalen Konflikte lösen. Aber auch wir kämpfen in unserem Alltag um Territorien – mein Revier, dein Revier – Machtfragen, wer hat das Sagen. Auch da können wir von Rahab lernen, Vertrauen zu haben. Dem Neuen, dem Fremden Raum bei uns zu geben, Herberge. Wir können lernen, uns nicht einzumauern, sondern den Blick zu wagen aus unserer Blase nach draußen und vertrauensvoll neue Fäden zu knüpfen. Möge uns das immer wieder mit Gottes Hilfe gelingen. Amen.