Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Der Zauberberg

Der Zauberberg

Predigtreihe zu Thomas Mann

Gottesdienst am 31. August

Predigt zu Thomas Mann, Der Zauberberg & Matthäus 1, 1-7

Biblischer Text:

Und nach sechs Tagen nahm Jesus mit sich Petrus und Jakobus und Johannes, dessen Bruder, und führte sie allein auf einen hohen Berg. Und er wurde verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. Und siehe, da erschienen ihnen Mose und Elia; die redeten mit ihm. Petrus aber antwortete und sprach zu Jesus: Herr, hier ist gut sein! Willst du, so will ich hier drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elia eine. Als er noch so redete, siehe, da überschattete sie eine lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören! Als das die Jünger hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und fürchteten sich sehr. 7 Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: Steht auf und fürchtet euch nicht! (Matthäus 1, 1-7)

Predigt zu Thomas Mann „Der Zauberberg“ – von Pastor Michael Stahl

Liebe Gemeinde!
Vor einigen Jahren bekam ich ungewollt die Gelegenheit zu einer Winterwanderung auf der Schatzalp in Davos, dorthin, wo der „Zauberberg“ von Thomas Mann spielt. Ich hatte mir beim Skifahren einen Finger gebrochen und fand so überraschend die Zeit, um auf den Spuren von Thomas Mann seinen „Zauberberg“ zu erkunden, genauer gesagt: auf dem heutigen Thomas Mann Weg durch den Schnee zu stapfen – bis zu dem Hotel Schatzalp, das Vorbild für das Sanatorium Berghof in dem Roman.

Wenn man heute rund um das historische Hotelgebäude wandert, kann man noch gut den alten Charme und Glanz des Berghofs erahnen und sich in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg zurückversetzen, in der der Roman spielt. Thomas Mann ist selbst einmal dort gewesen, um seine Frau Katja zu besuchen, die mehrfach in Davos zur Kur war. Damals ließen sich in der Lungenheilanstalt Tuberkulosekranke aus ganz Europa behandeln, jedenfalls, soweit sie sich die kosten- und zeitaufwendige Kur leisten konnten. Antibiotika gab es noch nicht. Die Tuberkulose war eine lebensgefährliche Infektionskrankheit, an der zahlreiche Menschen starben, darunter auch viele Jüngere. Höhenluft und ausgedehnte Liegekuren verschafften etwas Linderung der Symptome. Ärzte probierten diese und jene Heilmethode aus und verbreiteten Zuversicht. Doch wirkliche therapeutische Erfolge und Heilung erzielte man damit nicht.

Das Leiden und Sterben der Kur-Patienten ist im Roman „Der Zauberberg“ deswegen allgegenwärtig. Thomas Mann schildert es aus der Perspektive des Hamburger Schiffbauingenieurs Hans Castorp, ein junger Mann, der sich etwas naiv und ohne klare Vorstellungen, aber voller Neugier von Hamburg auf die lange Reise mit der Eisenbahn nach Davos macht. Allein der Reisebericht ist ein Lesevergnügen. Drei Wochen lang will Castorf seinen lungenkranken Cousin Joachim Ziemßen besuchen. Sieben Jahre werden daraus. Anfänglich beobachtet Castorp das Verhalten der Patienten noch mit etwas Abstand und einer gewissen Heiterkeit. Doch rasch gerät er selbst in den Sog der Welt auf dem Zauberberg. Als sich bei ihm Erkältungssymptome zeigen, findet der geschäftstüchtige Arzt Dr. Behrens eine feuchte Stelle im Röntgenbild und erklärt auch ihn zum Lungenkranken.

Castorp wird so selbst Teil der Welt dort oben auf 2000 Metern, in der sich Krankheit und Todesnähe, Schicksal und Tragik, Lebensangst und Lebenslust in den Figuren des Romans eigentümlich mischen. Immer mehr taucht Castorp ein in die morbide Welt der Lungenheilanstalt und verfällt ihr. Es ist auch heute noch bemerkenswert, wie Thomas Mann es schaffte, 1000 Seiten über diesen Hans Castorp zu erzählen. Auch wenn seine Schreibe mit ihren Schachtelsätzen für unsere heutigen Lesegewohnheiten mühsam ist: Thomas Mann nimmt uns mit in den Mikrokosmos eines medizinischen Betriebs vor über 100 Jahren, er lässt die alte Welt vor dem inneren Auge wieder auferstehen. Schon historisch interessant zu lesen, wie Patienten damals in einer Kurklinik behandelt wurden, wie Fieberthermometer oder die gerade erfundenen „Durchleuchtungsmaschinen“, also die ersten Röntgengeräte, ihren Siegeszug in der Medizin antraten oder wie die neue Disziplin der Psychotherapie die Seelenzergliederung der Patienten betrieb.

Wir erleben in dem Roman aus der Perspektive des Hans Castorp mit, wie die Patienten dieses damals erlebt haben, mit all ihren Ängsten und Hoffnungen. Eindrücklich finde ich besonders die Passagen, in denen Thomas Mann das Leiden und Sterben von Schwerstkranken beschreibt. Als Leser verfolgen wir mit, wie er sich fast schon seelsorglich um eine kranke junge Frau kümmert und ihr Blumen ans Bett bringt oder wie er seinen Cousin Joachim beim Sterben begleitet. Es gibt auf dem Zauberberg keine Eile. Die Patient*innen haben viel Zeit, verlieren geradezu ihr Zeitgefühl. Eingewickelt in Decken auf den Balkonen liegen sie oft für viele Stunden herum, um die Bergluft einzuatmen.

Schier grenzenlos ist auch die Zeit, die Castorp sich für Gespräche mit den anderen Patienten nimmt, etwa dem italienischen Intellektuellen Settembrini, der eine Soziologie des Leidens herausgebracht hat, das die Herrschaft des Geistes über den Körper belegen und Krankheiten besiegen will – oder seinen Gegenspieler Leo Naphta, einem galizischen Juden, der zum Katholizismus konvertiert ist und ein radikales Christentum mit kommunistischen Ideen vertritt. Immer wieder diskutiert Hans Castorp mit den beiden über Philosophie und Wahrheit, Geist und Natur, Tod und Leben. Unterschiedliche Weltsichten ringen hier miteinander und kreisen um Antworten auf die existentiellen Fragen des Lebens.

Den Roman kennzeichnet eine ironisierende, ins Tragikomische gehende Erzählweise, die einen als Leser immer wieder schmunzeln lässt. Vielleicht kein Wunder, dass ausgerechnet ein Kabarettist in diesem Jahr die Chuzpe hatte, einen Roman mit dem Titel Zauberberg 2 herauszubringen. Heinz Strunk verlegt den Zauberberg in eine psychosomatische Klinik am Stettiner Haff in der Uckermark. Sein Castorp heißt Jonas Heidbrink, ein erfolgreicher Startup-Gründer, der in eine Depression geraten ist und sich deshalb auf den Weg in die Klinik macht. Eigentlich nur für wenige Wochen, doch auch hier werden Jahre daraus und bald geht auch Heidbrink in der Welt des Sanatoriums auf. So wie Castorp mit Sorge auf sein Thermometer und das Röntgenbild schaut, lässt sich Heidkamp von seinen Vitalwerten oder den Befunden des MRTs beunruhigen. Realsatire. Da Strunk seine Figuren völlig überzeichnet, ist das sehr unterhaltsam und amüsant, zugleich kritisch gegenüber dem breiten Markt von psychotherapeutischen Angeboten.

Keine große Literatur, und doch zeigt Strunk, dass der Roman von Thomas Mann viele Anschlusspunkte für unsere Gegenwart bietet. Die Gedanken und Gefühle von uns Menschen heute ähneln denen des Zauberbergs durchaus. Die Tuberkulose müssen wir nicht mehr fürchten. Die moderne Medizin-Diagnostik gibt uns aber genug andere Gründe, uns um unsere Gesundheit zu sorgen und Ängste zu entwickeln. Die im Roman von Mann diskutierten Fragen nach dem Grund, Ziel und Sinn des Daseins, die Sehnsucht nach Gesundheit und Heilung, die Suche nach den Gewissheiten, die unser Leben tragen, Wahrheit und Liebe – sie überdauern die Generationen.

Liebe Gemeinde, der Zauberberg von Thomas Mann ist gewiss kein religiöser Roman, ganz bestimmt keine erbauliche Literatur. Offen für eine theologische Deutung ist der Roman aber im Blick auf die Verletzbarkeit und Brüchigkeit des Lebens, die in so vielen Szenen und Personen und Dialogen zum Tragen kommt. Thomas Mann lässt in seinen Protagonisten die ganze Erlösungsbedürftigkeit des Menschen hervortreten, seine Sehnsucht nach einem erfüllten und bejahten Leben. Die Kranken und Schwachen, die Mühseligen und Beladenen, denen Jesus sich mit der guten Botschaft von Gottes Nähe zuwendet, sie kommen in dem Roman zuhauf vor.

Nahe liegt der biblische Gedanke, dass Gott in den Schwachen mächtig ist. Meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit“, wie es der Apostel Paulus einmal formuliert hat. Jesus ist präsent, wo Menschen mit dem Tod ringen, Angst haben und verzweifeln. Mitten in das Leiden und Sterben der Tuberkulosekranken ist die christliche Botschaft ausgerichtet, dass Christus von den Toten auferstanden, der Tod besiegt ist.

Der Zauberberg zieht seine Kurgäste in seinen Bann. Man würde sich wünschen, er würde seine Gäste auch im christlichen Sinne verzaubern. So wie auf dem Zauberberg, auf dem Jesus verklärt wurde: auf einen hohen Berg zog Jesus mit seinen Freunden; das Evangelium berichtet, dass Jesu Angesicht als Zeichen seiner besonderen Beziehung zu Gott dort leuchtete wie die Sonne, seine Kleider weiß wie das Licht. Dann die Stimme aus den Wolken: Dies ist mein liebes Kind, an dem ich Wohlgefallen habe! Gott ist die Kraft, die das Leben verwandelt, sie ist Licht, Gnade und Liebe. Steht auf und fürchtet euch nicht, ermutigt Jesus die Seinen. Das Geheimnis der christlichen Verzauberung ist, dass wir aus unseren Ängsten und Zweifeln verwandelt werden zu hoffungsvollen und zuversichtlichen Menschen. Menschen, die darauf vertrauen, dass unser Leben in Gott unbedingt bejaht ist. Menschen, die sich Gottes Liebe und Gnade schenken lassen und in ihr wandeln.

Tatsächlich erlebt auch unser Hans Castorp einen Traum, der ihn verwandelt. Im Kapitel Schnee erleben wir mit, wie Castorp sich ein paar schmucker Ski kauft, hellbraun lackiert, aus gutem Eschenholz, mit prächtigem Lederzeug und vorne spitz aufgebogen, dazu die Stöcke mit Radscheibe und Eisenspitze. Allein wie Castorp dann das Skifahren lernt und damit durch die Berge wedelt, ist für Skifahrende heute vergnüglich zu lesen. Dann aber gerät Castorp unversehens in einen Schneesturm. Mit letzter Kraft kann er sich unter einen Heuschober retten und schläft dort erschöpft ein. Er träumt von friedlich miteinander spielenden Sonnen- und Meereskindern in einer Südseebucht, wird aber auch von Angst-Alpträumen heimgesucht. Als er erwacht und aus dem Schnee herausgefunden hat, hat er für sich eine neue Erkenntnis und Haltung gewonnen, die als einzige in dem Roman kursiv gesetzt ist:

Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.

Es ist in der Rezeptionsgeschichte des Romans viel darüber nachgedacht worden, warum Thomas Mann diesen Satz als einzigen kursiv setzte. Sein Hans Castorp überlebt das Sanatorium, aber im letzten Kapitel des Romans, dem Donnerschlag, sehen wir ihn völlig unvermittelt auf einmal im Kampf auf den Schlachtfeldern des 1. Weltkrieges, um ihn herum einschlagende Geschosse und sterbende Soldaten, Ausgang ungewiss. Am Ende des Romans die Frage: Wird aus diesem Weltfest des Todes einmal die Liebe steigen? Vielleicht war sich Thomas Mann am Ende selbst nicht mehr sicher, wie er aus seinem Roman wieder herausfindet. Dass sein Roman als politische Botschaft von der Güte und Menschlichkeit zu verstehen ist, hat er selbst öffentlich verkündet. Dem Tod um der Güte und Liebe willen keine Herrschaft über seine Gedanken einzuräumen, entspricht einer zutiefst christlichen Vorstellung. Wo wir unsere Gedanken im Glauben auf die Güte Gottes und die Liebe Christi ausrichten, in der Kraft von Kreuz und Auferstehung, verliert der Tod seinen Stachel und seine Herrschaft über uns.

So könnte sich der Zauberberg als ein Spiegel unserer eigenen Reise lesen lassen: Aus den engen Grenzen von Ängsten, Sorge und Schmerz hin in die Weite eines Lebens im Vertrauen auf Güte und Liebe, wie sie Gott schenkt, ein Leben in Zuversicht und Menschlichkeit. Als die durch die Güte und Liebe Gottes Verwandelten steigen wir von dem Berg herunter, und wir gestalten das Leben hier und jetzt, auf dem Feld der Menschlichkeit und Nächstenliebe. Der Friede Gottes sei mit euch allen! Amen.