Bibeltext:
Seid begierig nach der vernünftigen lauteren Milch wie die neugeborenen Kindlein, auf dass ihr durch sie wachset zum Heil, da ihr schon geschmeckt habt, dass der Herr freundlich ist. Zu ihm kommt als zu dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen ist, aber bei Gott auserwählt und kostbar. Und auch ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen Hause und zur heiligen Priesterschaft, zu opfern geistliche Opfer, die Gott wohlgefällig sind durch Jesus Christus. Darum steht in der Schrift: »Siehe, ich lege in Zion einen auserwählten, kostbaren Eckstein; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden.« Für euch nun, die ihr glaubt, ist er kostbar. Für die aber, die nicht glauben, ist er »der Stein, den die Bauleute verworfen haben; der ist zum Eckstein geworden« und »ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses« Sie stoßen sich an ihm, weil sie nicht an das Wort glauben, wozu sie auch bestimmt sind. Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk, ein Volk zum Eigentum, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat aus der Finsternis in sein wunderbares Licht; die ihr einst nicht sein Volk wart, nun aber Gottes Volk seid, und einst nicht in Gnaden wart, nun aber in Gnaden seid.
Predigt:
Kirchen sind besondere Orte. Sie strahlen etwas aus, das nicht nur an der Architektur oder den künstlerischen Ausgestaltung des Raumes liegt. Ich finde, man merkt diesen Räumen an, dass darin seit Jahren oder eben vielleicht schon Jahrhunderten gesungen, gebetet, gelobt und geklagt wird. Obwohl sich das natürlich nicht naturwissenschaftlich beweisen lässt: Für mich ist das so, als ob die Gebete und die Lieder, die vor uns gesungen und gesprochen wurden, als ob sie darin widerhallen und auch in uns widerhallen.
Ich stelle mir vor wie vor 145 Jahren Arbeiter hier im Alstervorland Stein auf Stein geschichtet haben. Drumherum damals noch viele Wiesen, der Stadtteil vor den Toren Hamburgs, vor dem Dammtor, war erst am Entstehen. Heute sind wir ziemlich zentral. Wenn man hier vom Kirchturm herunterguckt, dann ist die Stadt rundherum gewachsen, wir liegen mittendrin. So vieles hat sich in diesen Jahren verändert: die Stadt, die Institution Kirche, die Menschen, die hier beten sowieso – alles: nur die Gefühle nicht, die wir mitbringen, wenn wir in den Gottesdienst gehen, die nicht. Angst, Trauer, Wut, Freude, Dankbarkeit – all das, was unsere Vor-Beter vor Gott gebracht haben – all das bringen wir auch heute noch mit in die Kirche. Was die Steine, aus denen Kirchen gebaut sind, wohl schon alles gesehen und gehört haben? Was sie aufbewahren? Was sie draußen halten? Diese Steine, die ein Gotteshaus ausmachen. Ein Haus, in dem sich Gott finden lässt.
Und doch sind diese Steine tot, wenn wir sie nicht füllen. Wenn niemand mehr kommt, dann ist auch niemand mehr da, um Gott hier zu suchen. Niemand, in dem das widerhallen kann, was hier an Glauben schon gelebt wurde. Dieses steinerne Haus allein, es reicht nicht, um Kirche zu sein. Kirche ist ein Haus aus lebendigen Steinen – so haben wir es in der Lesung aus dem 1. Petrusbrief gerade gehört.
Darüber muss man eigentlich stolpern, denn „lebendige Steine“ – das ist ein Bild, das geht gar nicht. Ein Stein ist sowas von tot, unbeweglich starr. Stein – das ist ja gerade der Inbegriff von etwas das eben felsenfest ist, unverrückbar, statisch, sozusagen für die Ewigkeit geschaffen. „Etwas ist in Stein gemeißelt“ sagt man, wenn man ausdrücken will, dass es unveränderlich ist. Und manchmal ist das ja auch ärgerlich, dass Steine so unbeweglich sind.
Wir haben in Hamburg wunderschöne, alte Kirchen – wenn wir von unserem Kirchturm aus Richtung Innenstadt gucken, sehen wir sie aufgereiht – vier der Hauptkirchen, dicht beieinander, eigentlich viel zu dicht. Man kann sie gar nicht mehr füllen. Auch hier bei uns – der nächste Kirchturm – St. Andreas, St. Nikolai, das ist ja fast in Fußnähe. Braucht man noch so viele Kirchen, wenn immer weniger Menschen kommen? Und etwas weiter draußen in Stadtteilen, die in den 60er Jahren entstanden sind, da hat man natürlich auch „neue“ Kirchen gebaut, oft aus Beton. Viele von ihnen sind zerfressen, oft gar nicht mehr sanierungsfähig. Man müsste die schönen alten Kirchen, die zu erhalten unbedingt geboten ist, einfach besser über die Stadt verteilen können. Wie ärgerlich, dass diese Steine nicht beweglich sind! Und so suchen wir nach Zukunftsbildern für eine schrumpfende Kirche, die den Bedürfnissen der Gläubigen – und dem Gebäudebestand gerecht wird. Kein einfaches Unterfangen. Diese Herausforderung bleibt, denn natürlich ist Kirche ist lebendig, sie verändert sich, schrumpft an manchen Stellen, wächst an anderen. Nur leider wachsen und schrumpfen die steinernen Gebäude nicht mit.
Lebendig sein – das ist eben genau das Gegenteil von dem, was ein Stein symbolisiert. Lebendig sein, das heißt in Bewegung sein, da ist Dynamik drin, da fließt was, es verändert sich. So wie sich die Menschen einer Gemeinde immer wieder verändern. Und das bedeutet zweierlei: Zum einen kommen andere Menschen und zum anderen ändern sich die, die da sind. Und ihre Bedürfnisse ändern sich: Wer vor 20 Jahren noch den wöchentlichen Kindergottesdienst geschätzt hat, dessen Kinder sind längst erwachsen, der oder die braucht heute ein anderes Angebot. Bei der Kinderkirche kommen glücklicherweise Eltern nach, die sich über den Kindergottesdienst freuen, aber nicht immer wächst automatisch nach, was sich ausgewachsen hat. Bei unserer Jugendgruppe war das nach Corona leider nicht der Fall.
Unsere Kirche, unsere Gemeinde, unser Glaube verändert sich. Und ich denke, auch das meint der Bibeltext, wenn er dieses seltsam schräge Bild von den lebendigen Steinen benutzt. Dann ist das auch eine Warnung, nicht zu versteinern. Versteinerte Religion macht krank. Weder die Welt noch die Gemeinde ist monolithisch, also aus einem einzigen Stein, sondern alles besteht aus vielen verschiedenen Steinen, muss sich zusammenfügen, auch wenn das manchmal reibt und zu Spannungen führt.
Der Schreiber des Petrusbriefes warnt davor, im Glauben das zu tun, was doch ein menschliches Bedürfnis ist, nämlich feste Häuser zu bauen, als Trutzburgen gegen die Vergänglichkeit des Menschlichen. Wenn Glaube zu einem starren System festgeschrieben wird – „So war das schon immer, so muss das sein, so macht man das!“ – dann ist da nichts mehr von Lebendigkeit zu spüren. Wer zu sehr auf das feste Fundament starrt und nicht mit lebendigen Steinen darauf aufbaut, der riskiert im Fundamentalismus zu landen.
Lebendigkeit ist also schön und gut, freuen wir uns daran. Aber ständige Veränderungen sind auch anstrengend und Veränderungen machen Angst. Wie kann man bauen mit so einem seltsamen Material, dessen einzige Beständigkeit in seiner Veränderlichkeit liegt? Einen Fixpunkt muss es geben, und des gibt es auch: den Eckstein.
Man muss sich das so vorstellen, wenn ein Gewölbe oder ein Torbogen gebaut wird, dann müssen die Steine, die so in der Schräge sind, ja gar nicht mit Mörtel miteinander verklebt werden, sondern sie stützen sich gegenseitig. Und im Endeffekt hält alles der Schlussstein zusammen. Im Eckstein sind die Schwerkräfte gebündelt, der Schwerpunkt der anderen Steine liegt außerhalb ihrer selbst.
Ich mag dieses Bild als Bild für eine Gemeinde. Es zeigt, dass die Beziehung zu Jesus Christus als dem Eckstein nicht nur eine Zweierbeziehung sein kann zwischen mir und Christus, die ich im stillen Kämmerlein lebe. Und das höre ich oft: dass Menschen mir sagen: „Ich glaube schon, aber das ist eine Sache zwischen mir und Gott und Kirche brauche ich dazu nicht“. Ich bin der festen Überzeugung, Glaube braucht Gemeinschaft (vielleicht nicht unbedingt Kirche, aber Gemeinschaft), sonst kann man nichts aufbauen.
Natürlich kann man an dem, was dann da gebaut wird, immer rummeckern. Oder um es netter auszudrücken: Man kann und muss es kritisieren, da gibt es sicher Bauabschnitte, die katastrophal laufen und immer wieder in sich zusammenbrechen. Vor allem, wenn der Schwerpunkt nicht auf den Eckstein hin ausgerichtet ist! Wir als Hauptamtliche, der Kirchengemeinderat als Ehrenamtliche, wir müssen immer mal wieder Rechenschaft ablegen und von anderen den kritischen Blick einfordern: Wo hängt etwas in der Luft, wo ist etwas verbaut, zugemauert, wo bleiben Steine außen vor, die ihren Platz nicht finden können, wo droht etwas zusammenzubrechen, wie bleiben wir lebendig?
Auch das mag ich an diesem Bild für Gemeinde. Es betont das Unfertige, noch Offene. Da ist noch Gestaltungsspielraum. Es heißt aber auch, wir leben auf einer Baustelle. Das ist nicht immer angenehm. Das erleben wir in unserer Gemeinde gerade wortwörtlich, denn wir bauen um. Und zwar, weil Dinge sich verändern. Die Räumlichkeiten, die in den letzten zig Jahren für unsere Kita gut waren, die haben sich „überlebt“. Und unsere Kinder sollen so gut wie möglich spielen, lernen und mit Gott groß werden können. Also investieren wir in die Zukunft, in junges Leben und bauen einen Teil unseres Gebäudes in ein Kita-Haus um. Aber wenn wir einen Stein anfassen, verschiebt sich das Gewicht. Auch das Gemeindehaus und das Gemeindebüro werden sich dadurch verändern. Und wir werden ein Jahr lang auf einer Baustelle Gemeindeleben gestalten. Das muss man aushalten.
Das Bild von den lebendigen Steinen hilft uns hoffentlich dabei. Denn es heißt auch: An einer Gemeinde, einer Gemeinschaft bauen wir alle mit, wir können alle mitgestalten, umgestalten. Jeder und jede ist nötig: Würde man aus einem Torbogen nur einen Stein herausnehmen, würde das Ganze zusammenfallen. Die Steine halten sich gegenseitig.
Das Bild von den lebendigen Steinen fragt uns auch: Wohin gehören wir? Welche Zusammengehörigkeit ist uns wichtig? Wo kann ich – wie der Stein im Bogen – Spannungen aushalten und übernehmen, so dass kein Stein herausfallen muss? Könnte ich mich selbst ohne die anderen halten? Welche entlastende Wirkung hat dabei Jesus Christus als Eckstein?
Dieser Eckstein, der uns hält, wird im Bibeltext auch als der Stein bezeichnet, den die Bauleute verworfen haben, als Stein des Anstoßes und der Ärgernisses. Heute stoßen wir vielleicht mehr auf Schulterzucken, wenn wir bekennen, dass Jesus Christus die entscheidende Richtung ist, auf die hin wir unseren Lebensbau auslegen. Am Eckstein scheiden sich vielleicht die Geister. Und doch geht es nicht ohne ihn. Darauf lassen wir uns hier ein. Ohne ihn, bricht der Torbogen zusammen.
Lebendige Steine – das klingt wie die Quadratur des Kreises und das ist es auch. Wir als Gemeinde berufen uns auf etwas, das feststeht, unveränderlich durch alle Ewigkeit hindurch: auf Gott, dessen Liebe uns Menschen gilt. Aber eine Liebesbeziehung ist immer lebendig, und so verändert sich auch unser Glaube, auch unsere Art, von Gott zu reden und mit Gott zu reden.
Das also ist unsere Herausforderung als Gemeinde hier: Dass wir alle, so unterschiedlich wie wir sind, dass wir alle zu einer Gemeinschaft, einem geistlichen Haus werden, in dem sich Menschen wohlfühlen und in dem sie Gottes Spuren entdecken können.
Dazu braucht es diese festen Steine, einen geborgenen Raum, ein Dach über dem Kopf unseres Glaubens. Und dazu braucht es uns, die wir miteinander singen, beten, reden, auch streiten, uns gegenseitig mahnen und trösten. Wenn wir gleich im Kreis stehen und Brot und Wein miteinander teilen, dann tun wir das, weil das eine uralte, festgeschriebene Tradition ist, die wir doch immer wieder neu mit Leben füllen. Wir tun damit, was der Petrusbrief beschreibt: „Auch ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen Haus“. In diesem Sinne wünsche ich uns, dass wir hier immer wieder Erbauliches miteinander erleben. Amen.