Reformation aus Sicht des globalen Südens
Reformationstag, 31. Oktober 2025
Predigttext: 5. Mose 6, 4–9
Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer. 5 Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. 6 Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen 7 und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. 8 Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, 9 und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.
Predigt
Liebe Gemeinde,
heute feiern wir Reformation. Wir feiern, dass Luther die Freiheit des Glaubens in der Bibel wiederentdeckt hat. Wir sind auch ein bisschen stolz auf die evangelische Freiheit, die seit der Reformation untrennbar mit dem Christentum verbunden ist. Ist die lutherische Kirche eine Kirche der Freiheit? Ja, denn du entscheidest selbst, was vordringlich ist. Du brauchst keinen Vormund vor Gott. Wir brauchen keinen Pontifex, keine Seliggesprochenen oder Heiligen, die vor Gott Fürsprache für uns halten, als wäre er ein Potentat, dem man unterwürfig begegnen müsste.
Für mich wird das nirgends deutlicher als in Luthers Auftritt im Jahr 1521 vor Karl V. auf dem Reichstag zu Worms. Das war eine prophetische Tat. Wie war es dazu gekommen? Die sich über Jahre hinziehende Wahl des jungen Kaisers hatte Luther Zeit gegeben, seine neue Theologie dem Volk nahezubringen. Luthers Werke waren so begehrt, dass der päpstliche Gesandte feststellte: „Täglich regnet es lutherische Schriften in deutscher und lateinischer Sprache.“
Luther reiste nun 600 Kilometer von Wittenberg an den Rhein. Auf seiner Reise wurde er überall mit Begeisterung empfangen, denn viele Hoffnungen wurden mit ihm verknüpft. In Worms begrüßten ihn mehr als 2.000 jubelnde Menschen. Seine Gemeindechoräle werden gesungen. „Mönchlein, Mönchlein, du tust einen schweren Gang“, sagt er, bevor er wie Mose vor dem Pharao spricht: „Ich kann und will nicht widerrufen, denn es ist weder sicher noch geraten, etwas wider das Gewissen zu tun. Es sei denn, ich werde mit Zeugnissen der Heiligen Schrift oder mit öffentlichen, klaren und hellen Gründen widerlegt, denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilen allein, weil offensichtlich ist, dass sie oft geirrt und sich selbst widersprochen haben. Gott helfe mir. Amen.“ Hier kommt die neue Hochschätzung der Bibel, aber auch des Gewissens, klar zum Ausdruck. Folgerichtig übersetzte Luther in den folgenden Monaten das Neue Testament ins Deutsche und prägte so unser Hochdeutsch.
Der Kaiser bricht das Verfahren ab. Er hält Luther entgegen: „Denn es ist sicher, dass ein einzelner Mönch in seiner Meinung irrt, wenn diese gegen die der ganzen Christenheit, wie sie seit mehr als tausend Jahren gelehrt wird, steht. Deshalb bin ich fest entschlossen, für diese Sache mein Reich und meine Herrschaften, meinen Leib, mein Blut und meine Seele einzusetzen.“ Der Kaiser wird versuchen, die sich Luther anschließenden Fürsten mit militärischer Gewalt zu besiegen, was ihm aber nicht gelingt und die konfessionelle Spaltung Deutschlands nur vertiefen wird. Schließlich wird er sich im Alter resigniert in ein Kloster zurückziehen.
Luther verlässt, von zahlreichen Anwesenden begleitet, unter einer Mischung aus Jubel und Anfeindungen den Saal. „Ich bin hindurch, ich bin hindurch“, ruft er erleichtert. Er hat seiner Angst nicht nachgegeben und ist bei seiner Überzeugung geblieben. Seit Luther kann niemand mehr einfach sagen: „Ich glaube, was die Tradition sagt. Ich glaube, was die Kirche glaubt“, so wie es noch Karl formuliert hatte. Der Glaube will von nun an selbst erfahren, errungen und im Gespräch mit der Bibel immer wieder neu gewonnen werden, sodass er wirklich mein Glaube ist. Allein der Glaube, mein Glaube, bringt mich Gott und nicht irgendwelchen weltlichen Autoritäten nahe. Seit Luther ist der Streit entschieden. Nur der eigene Glaube vermag Gottes Wort in der Bibel zu entdecken. Glaube ist diese innere Erfahrung: Um Gott zu begreifen, muss man begreifen, was Verzweiflung ist – und wie sie sich von Gott her in neues Vertrauen wandelt.
Liebe Gemeinde,
das Gedenken der Reformation zielt auf Befreiung aus der Angst. Die Angst vor bösen Geistern, wie wir gehört haben, oder die Angst vor dem mich selbst anklagenden Gewissen. Sie soll keine Macht mehr über mich haben, denn das Evangelium von Jesus Christus spricht mich frei. Luther schreibt, dass ein jeder anhand der Schrift „zu schmecken und zu urteilen, was do rech odder unrech ym glaubenn“ sei. (WA VI, 412)
Das damit begründete Priestertum aller Gläubigen setzte eine Vielzahl unterschiedlicher Auslegungen frei, die sich in verschiedene Traditionen und Konfessionen entfalteten. Wenn wir der Reformation gedenken, dann gedenken wir auch dessen, was sich daraus entwickelt hat.
Deswegen möchte ich Ihnen etwas zur protestantischen Missionsbewegung erzählen. Die ersten evangelischen Missionare brachen vor gut 300 Jahren in der Gewissheit auf, mit der Übersetzung der Bibel auch die Botschaft der Befreiung zu vermitteln. Wir haben eben davon aus Indien, Myanmar und Tansania gehört. Bartholomäus Ziegenbalg aus Halle segelte 1709 als erster in die dänische Kolonie Tranquebar in Indien. Was meinen Sie, welches das wichtigste Gepäckstück war, das er dabei hatte? Es war eine Druckerpresse. Nach dem Vorbild Luthers wollte er zunächst die Bibel ins Tamilische übersetzen, damit die Menschen das Evangelium selbst entdecken könnten. Das Projekt der Bibelübersetzung in die jeweilige Landessprache wurde zur protestantischen Version des Pfingstwunders: Jeder und jede sollte die Bibel in der eigenen Sprache lesen und so die Stimme Gottes im eigenen Herzen vernehmen können.
Bartholomäus Ziegenbalg – welch schöner Name – er trug auch eine barocke Perücke, ich frage mich nur, wie er das in der tropischen Sonne Indiens ausgehalten hat – wurde gleich nach der Ankunft vom niederländischen Gouverneur verhaftet, weil dieser nicht wollte, dass die Botschaft der Freiheit die Preise der Kolonialwirtschaft verdirbt. Schließlich konnte er doch ein Team zur Übersetzung der Bibel organisieren. Die erste tamilische Bibel wurde bereits 1715 gedruckt. Ziegenbalg sammelte auch tamilische Sagen und Gedichte und verschriftlichte sie. Er genießt heute in Südindien ein ähnlich hohes Ansehen wie Luther bei uns.
Für mich gehört nicht nur der Luther auf dem Reichstag zu Worms zu dem Faszinierenden der Reformation, sondern auch diese frühe Missionsgeschichte. Die Missionare verfassten Grammatiken, gründeten Schulen und bildeten Evangelisten aus. Die Missionsbewegung war eine Übersetzungsbewegung. Leider mischte sie auch ihren evangelikalen Moralismus in die evangelische Freiheit mit ein. Ja, sie verdarben die himmlische Speise mit ihrem kolonialen Überlegenheitsgefühl. Wir sehen ihr Wirken heute kritisch. Einige sprechen gar von einem „linguistischen Kolonialismus” der Missionare.
Aber auch gegenüber Luther haben wir ja allen Anlass, kritisch zu sein. Sein unkontrollierter Antijudaismus und seine Verurteilung der Bauern, die sich in seinem Namen gegen Adelswillkür auflehnten, gehören zu den Schattenseiten der Reformation. Der Lutherische Weltbund hat sich im Jahr 2010 in einem bewegenden Gottesdienst in Stuttgart auch bei den Täufern für die grausame Verfolgung während der Reformationszeit entschuldigt. Heute sind wir nicht nur den Mennoniten in ökumenischer Freundschaft verbunden, sondern sehen auch das Recht der damaligen Bauernproteste und des heutigen christlich-jüdischen Dialogs. Können die Vielfalt als Zeugnis von Gottes Liebe feiern. Das wäre für Luther undenkbar gewesen. Aber so wie er kritisch mit seiner Kirche war, so dürfen wir eben auch kritisch mit ihm sein, können wir die Missionare oder Diakonissen auch aufgrund ihrer Verstrickung in den Kolonialismus kritisieren. Eine kritische Haltung im Gedenken zu entwickeln ist biblisch. Sie zeichnet ja ein realistisches Bild der menschlichen Geschichte, zu der immer auch Schuld und Verfehlungen gehören. In vielen Partnerkirchen wird die Missionsgeschichte daher einer neuen Bewertung unterzogen und die Dämonisierung der indigenen Kultur in Frage gestellt.
Liebe Gemeinde,
wir gedenken heute der Reformation als einer Weltbürgerin. Das Christentum hat sich durch die Bibelübersetzungen zu einer Weltreligion entwickelt. Dabei ist es wichtig, die Schattenseiten nicht zu verschweigen und kritisch zu bleiben, so wie Luther es gegenüber der Kirche war. Beim Gedenken an die eigenen Anfänge geht es nicht um eine Heiligenverehrung; die Reformatoren oder Missionare waren alles andere als Heilige. Es geht vielmehr um die Vergewisserung des guten Ursprungs, den Mut zum Aufbruch im Hören auf Gottes Stimme.
„Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“ Daran sollen wir uns immer wieder erinnern und daran glauben: „Nichts kann dich scheiden von der Liebe Gottes“ (Römerbrief 8, 38) – also auch du dich nicht von ihm! Wenn dir die Zukunft Angst macht, bleibe standhaft. Wenn du vor Pharao stehst, wie Luther vor Kaiser Karl, folge deinem Gewissen. Wenn du eine menschenverachtende Bemerkung hörst, widerspreche zugunsten der Witwen und Waisen. Wenn dich die Vergänglichkeit traurig stimmt, sage dennoch Ja zum Leben.
Liebe Schwestern und Brüder,
Gott zu lieben von ganzer Seele und mit all deiner Kraft macht dich stark, auch deine eigenen Schattenseiten anzunehmen. Bei Gott findest Du Geborgenheit und Selbstvertrauen. Ein Selbstvertrauen, das uns – auch wenn morgen die Welt unterginge – doch noch heute ein Apfelbäumchen pflanzen ließe. Das evangelische Selbstgefühl ist das der Freiheit. Es ist das Selbstgefühl derer, die hinausziehen in die Welt, um mit anderen das Evangelium zu teilen und eine neue Gemeinschaft zu finden. Nicht meine Sündlosigkeit, auch nicht meine Rechtschaffenheit, nicht meine Gerechtigkeit, auch nicht meine Selbstzweifel machen mich Gott recht. Sondern Gottes Liebe kleidet mich festlich mit seiner Gerechtigkeit (Psalm 71, 2). Das sollen wir uns zu Herzen nehmen und unseren Kindern erzählen, wenn wir im Hause sitzen oder unterwegs sind. Das ist gewisslich wahr. Amen.