Predigttext: Philipper 3, 7–14
Was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet. 8 Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, auf dass ich Christus gewinne 9 und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott kommt durch den Glauben. 10 Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet werden, 11 damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.
12 Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin. 13 Meine Brüder und Schwestern, ich schätze mich selbst nicht so ein, dass ich’s ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist, 14 und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus. Amen.
Predigt
Gnade sei mit euch und Friede von Gott!
Es gibt Menschen, die leben in besonderer Weise mit bestimmten Daten. Mit Daten, die ihr Leben klar in ein Vorher und ein Nachher gliedern. Meine Freundin zum Beispiel führt in ihrem Whatsapp-Profil die Geburtstage ihrer drei Enkelkinder auf: 9.7. Herz 20.9. Herz 30.6. Herz. Andere lassen sich Geburtstage, Kennenlerntage oder Todestage auf den Arm tätowieren.
Für euch, lieber Gabriel, liebe Julia und lieber Thies Gundlach, hat sich das Datum in euer Gedächtnis eingeschrieben, an dem eure Mutter, deine Ex-Frau durch ein Aneurysma ins Koma fiel, aus dem sie nicht wieder erwachte.
Tage wie eine Tür, durch die man geht, und es gibt kein Zurück.
Das gilt für den traurigen Fall von Birgittas schwerer Erkrankung ebenso wie in den glücklichen Fällen, wo ein bestimmter Tag die Geburt eines Kindes oder den Beginn einer Liebe markiert. Dass etwas Unumkehrbares geschieht, etwas radikal Neues.
In frommen Gegenden, in evangelikalen Kreisen wird man manchmal gefragt: „Hast du ein Datum?“ Und dabei ist dann ein Bekehrungserlebnis gemeint, der Ruf, der Tag, an dem Jesus Christus zu meinem Erlöser wurde.
Die meisten von uns hier haben nicht so ein Datum, das ihre persönliche Bekehrung zum christlichen Glauben markiert. Viele erinnern vielleicht ihr Tauf- oder Konfirmationsdatum, aber daneben vor allem zeitlich fluidere Glaubenserfahrungen. Begegnungen, Gespräche, bestimmte Menschen, Orte oder Reisen, die ihnen den Glauben aufgeschlossen und nähergebracht haben. Und für manche von euch gehören Birgitta und Thies Gundlach zu den Menschen, die Herz und Verstand, Geist und Seele auf besonders eindrückliche Weise für den christlichen Glauben öffnen und begeistern konnten.
Die meisten von uns, die noch volkskirchlich geprägt sind, hatten mehrere Berührungen mit dem Glauben und der Kirche. Fühlen sich durch bestimmte Gemeinden, Pastorinnen, Diakone und Religionslehrer, durch eine kirchliche Kinder- oder Jugendarbeit oder durch ihre Familie dem Glauben verbunden.
Ganz anders der Apostel Paulus! Natürlich in einer anderen Zeit, einem anderen kulturellen und religiösen Umfeld. Aber seine persönliche Bekehrung, sein Damaskus-Erlebnis, das geradezu sprichwörtlich geworden ist, war dramatisch, sein ganzes bisheriges Leben umstürzend – und datierbar.
Auf krasse Weise beschreibt Paulus im Philipperbrief, aus dem der Predigttext heute stammt, wie sich für ihn durch die einschneidende Erfahrung der Begegnung mit Christus sein Leben, seine Identität, seine Werte gewandelt haben:
Was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet. Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, auf dass ich Christus gewinne. (Phil 3, 7+8)
Starke, auch aggressive Worte! Als „Dreck“ bezeichnet Paulus sein früheres Leben. Distanziert sich, verwirft, zerstört geradezu, was ihn früher ausgemacht hat und ihm wichtig war als überzeugter Jude, der Christen aufspürte und verriet. Woran sein Herz früher hing, was er leidenschaftlich verfocht, ist ihm nun gar nichts mehr wert, ist „Dreck“.
Solche Aussagen machen mich skeptisch. Ich bin vorsichtig mit Menschen, die ihr Leben um 180 Grad drehen. Die plötzlich eine gegenteilige politische Meinung vertreten. Die an ihrer früheren Beziehung kein gutes Haar lassen. Oder als Auswanderer ihre Heimat verteufeln … Ich frage mich, ob sie plötzlich ganz andere Menschen geworden sind? Oder ab das Alte so dunkel gemalt werden muss, damit das Neue umso heller strahlt?
Von Paulus wird seine Bekehrung tatsächlich so beschrieben, wie ein Tod und eine neue Geburt: Er sah plötzlich, als er auf dem Weg nach Damaskus war, ein großes Licht, er hörte Jesu Stimme und war drei Tage lang blind, wie tot, bevor er zu neuem Leben und neuem Glauben erwachte (vgl. Apg 9).
Ich halte dies durchaus für möglich, dass man auf solche umstürzende Weise mit Gottes Kraft oder Licht in Berührung kommt. Ich kenne Menschen, die durch Träume oder bestimmte Begegnungen zu einschneidenden Wendungen in ihrem Leben geführt wurden. Aber ob ihr früheres Leben deshalb „Dreck“ sein muss?
Im zweiten Teil seines Textes wird Paulus für mich glaubhafter, wird er mir sympathischer und verständlicher:
Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin. (Phil 3, 12)
Christus nachjagen, ihn fassen wollen, weil er mich zu fassen gekriegt hat; Christus ergreifen wollen, weil er mich ergriffen hat – das ist vielleicht eine besonders schöne und auch für uns zutreffende Beschreibung des Glaubens.
Dass Gott oder Jesus Christus, das Licht oder die heilige Geistkraft uns einmal oder auch mehrmals so ergriffen hat, dass wir davon nicht loskommen, sondern im Gegenteil mehr davon haben, verstehen und ergreifen wollen … In diesem Sinn können viele von uns dann wahrscheinlich doch von „Daten“ und Orten erzählen, wo die Kraft des Evangeliums sie ergriffen hat!
Als sie in einer Notsituation im Gebet plötzlich getröstet waren. Oder sich in einer vorurteilsfreien, liebevollen Gemeinschaft erkannt und geborgen fühlten. Oder von Gottes Schönheit und Weisheit in der Natur ergriffen wurden … Von Jesus Christus „ergriffen“ werden, von außen oder von innen, manchmal durch Musik … Zutiefst angerührt, vielleicht auch erschüttert zu sein von diesem Menschen, Gottes Sohn. „Ecce homo“ – Seht, welch ein Mensch!
Dem es gar nicht so leicht ist nachzujagen, nachzufolgen und ihn zu fassen zu kriegen. Der einerseits ganz konkret ist in seinen Worten zum Leben im Glauben und in der Nachfolge: „Ihr sollt Gott lieben und eure Nächsten wie euch selbst.“ – „Liebt eure Feinde!“ – „Selig sind, die Frieden stiften, die Sanftmütigen, die Barmherzigen …“
Und der zugleich schwer zu verstehen ist in seinem Weg der bedingungslosen Liebe. Dessen Nähe und Kraft wir oft nicht so eindeutig und verlässlich fühlen, wie wir es uns vielleicht wünschen.
Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach …
Eine Ermutigung dranzubleiben, Jesu Spuren nachzugehen und ihn auch in unserer Welt, in unserem Leben zu suchen.
Und auch eine Ermutigung, an der Zukunft dranzubleiben, einer lebenswerten Zukunft nachzujagen. Auch wenn wir sie noch nicht „ergriffen“ haben, noch nicht verstehen, wie es gehen kann und wie sie aussehen soll. Wir stecken ja mittendrin in diesem Nachjagen und Suchen, in unseren Fragen nach einer Zukunft, die friedlicher, gerechter und schöpfungsfreundlicher ist als unsere Gegenwart.
Und wir können es dabei mit Paulus halten und sagen: Ja, wir jagen der Friedensbotschaft von Jesus Christus nach. Wir halten an Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung fest. Wir jagen dieser Zukunft nach, auch wenn wir die Bilder und Strukturen noch nicht begriffen haben, die dafür notwendig sind.
Wir tun dies, wir können an so einer Hoffnung festhalten, weil uns einer vorausgelaufen ist. Der allen, die es hören und glauben wollten, Wege gezeigt hat, wie ein geschwisterliches Zusammenleben möglich ist. Wie Liebe wichtiger ist als Geld, Gerechtigkeit wichtiger als Sicherheit.
Und weil wir mit ihm in Berührung gekommen sind und von ihm und seiner Botschaft ergriffen wurden, können wir vielleicht dahin kommen, das zu visualisieren und auszusprechen, womit Paulus schließt:
Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist. (Phil 3, 13b)
Ich sehe bei diesem Vers ein körperliches Bild vor mir: einen Menschen, der sich nach vorne streckt, eine Läuferin im Startblock. Mit Energie und mit einer Richtung.
Und ich denke an die Taufe eines Mädchens in der Elbe. Sie war etwa zehn Jahre alt, als sie sich taufen ließ – irgendwie hatte es in der Familie vorher nicht gepasst. Jetzt sollte es eine Taufe in der Elbe sein, im ganz kleinen Kreis ihrer Mutter, ihrer Schwester, ihrer Patentante und ihres besten Freundes. Dieses Mädchen, das nicht auf Rosen gebettet war, wählte sich den Taufspruch:
Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist.
Das Leben lag vor ihr, und sie war bereit, darauf zuzugehen. Erwartungsvoll nach vorne gerichtet, ihr Leben zu gestalten, ihre Zukunft zu entdecken.
Die Taufe – das Untergehen und wieder Auftauchen in der Elbe – wie eine Tür, die sie durchschritt. Durch die sich ein anders gegründetes oder gerichtetes Leben auftat, hell und verheißungsvoll, in Gemeinschaft mit anderen und mit Gott.
So lasse Gott auch uns durch die Türen gehen, durch die wir hindurchmüssen oder hindurchwollen. Er lasse uns auftauchen und die Richtung erkennen. Und gebe uns Kraft und Mut dem nachzujagen, der uns vorausgegangen ist und uns ruft. Amen.