Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Trauer und Trost

Trauer und Trost

Gottesdienst zum Ewigkeitssonntg
Pastorin

Andrea Busse

Predigt am 23. November

Predigt zu Matthäus 25, 1-13

Bibeltext zum Ewigkeitssonntag:

Das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen:
Dann wird das Himmelreich gleichen zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und gingen hinaus, dem Bräutigam entgegen. Aber fünf von ihnen waren töricht und fünf waren klug. Die törichten nahmen ihre Lampen, aber sie nahmen kein Öl mit. Die klugen aber nahmen Öl mit in ihren Gefäßen, samt ihren Lampen. Als nun der Bräutigam lange ausblieb, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. Um Mitternacht aber erhob sich lautes Rufen: Siehe, der Bräutigam kommt! Geht hinaus, ihm entgegen! Da standen diese Jungfrauen alle auf und machten ihre Lampen fertig. Die törichten aber sprachen zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, denn unsre Lampen verlöschen. Da antworteten die klugen und sprachen: Nein, sonst würde es für uns und euch nicht genug sein; geht aber zu den Händlern und kauft für euch selbst. Und als sie hingingen zu kaufen, kam der Bräutigam; und die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit, und die Tür wurde verschlossen. 11Später kamen auch die andern Jungfrauen und sprachen: Herr, Herr, tu uns auf! Er antwortete aber und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Ich kenne euch nicht. Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde. (Matthäusevangelium 25, 1-13)

Predigt:


Es ist einer dieser Novemberabende, kurz nach dem Ewig­keitssonntag. Ein Mann sitzt zuhause in seinem Lesesessel, seine Frau ist unterwegs, er ist allein, er hat Zeit. Und ohne drüber nachzudenken, holt er aus seinem Schreibtisch die schwarze Mappe, die ihm der Bestatter vor einem halben Jahr gegeben hat – nach der Beerdigung seines Vaters. Langsam schlägt er sie auf und schaut auf die Brief­um­schläge: lauter Beileidsbekundungen. Er hat sie alle ge­lesen, manche mehrmals, manche kennt er fast auswendig. Einige dieser Karten sind voll von Erinnerungen, die ein Freund, eine Kollegin, ein Verwandter mit seinem Vater geteilt hat. Ganz lebendig steht sein Vater ihm vor Augen, wenn er darin liest.

Es ist still im Zimmer, nur die Wanduhr tickt. Es ist die Uhr, die er vom Vater geerbt hat. Das Zifferblatt mit der Inschrift. „Tempus fugit“ – „Die Zeit geht dahin“. Wie oft hat er auf diese Uhr geschaut, als das Krankenbett des Vaters im Wohnzimmer stand, damals als es zu Ende ging. „Tempus fugit, die Zeit geht dahin!“ Mit dem Pastor hat er über diese Worte gesprochen, als er zum Trauergespräch kam. Und der Pastor hat aus der Bibel zitiert: „Ihr wisst weder Zeit noch Stunde.“ Sie hatten darüber geredet, wie plötzlich das alles dann doch gekommen war. Natürlich hatten sie alle damit gerechnet, dass der Vater bald sterben würde, aber dann, dann hatte sein Tod sie doch irgendwie unvor­berei­tet getroffen.

In der schwarzen Mappe liegt auch die Einladung zum Gottes­dienst am Ewigkeitssonntag. Es ist eine Karte mit dem Bild von den zehn Öllampen: fünf brennen, fünf sind verloschen. Er kennt die Geschichte von den fünf jungen Frauen, die genug Öl für ihre Lampen haben, rechtzeitig bereit stehen für den Bräutigam und das große Fest. Und dann sind da noch fünf andere, die haben keinen Vorrat und bleiben außen vor. Früher – lange vor dem Tod seines Vaters – hat er sich über diese Ge­schichte aufgeregt: Wie grausam dieser Bräutigam: Knallt den fünf Frauen einfach die Tür vor der Nase zu, kennt keine Gnade. Seit dem Tod seines Vaters sieht er das anders: Eigentlich ist die Geschichte sehr realistisch. Es ist doch so, dass es im Leben für manche Dinge einfach zu spät ist. Seine Schwester ist damals zu spät gekommen, konnte nicht mehr Abschied nehmen, sie wohnt eben ein­fach weit weg. Es war zu spät. Und auch für ihn selbst: Es gibt schon einiges, was er mit seinem Vater gerne noch besprochen hätte, manchen Fehler hätte er gerne wieder gut gemacht, manches Versäumte noch nach­geholt. Da nutzt kein Klopfen, die Tür ist zugefallen. Unwiderruflich.

Er schaut auf die Öllampen – brennende und erloschene – und sieht sich und seinen Vater vor seinem inneren Auge. Wie oft war ihr Vorrat an Geduld und Verständnis fürein­ander aufgebraucht – und dann war es zu spät, ihn wieder aufzufüllen. Und doch war der Vorrat an Liebe reichlich, sonst würde er jetzt nicht mit so viel Liebe an seinen Vater denken können. Er erinnert sich, wie das war, als der Vater krank war, als die Zeit knapp wurde. Hatten sie genug Öl gehabt? War der Vater bereit gewesen? Hatte er selbst damals am Bett die richtigen Worte, die richtige Einstellung gefunden?

10 Öllampen – brennende und erloschene.
„Ich bin total ausgebrannt“ – das hat die Mutter in den Wochen nach der Beer­digung oft gesagt. „Ich habe nichts zuzusetzen, der Akku ist leer.“ Und er selbst – auch wenn er sich schämt, das zuzugeben – er hat manchmal gedacht: „Ich hab nicht die Kraft für uns zwei, ich kann nicht ihre Trauer noch mittragen, ich habe selbst zu kämpfen.“ Er hatte Angst, die Trauer der Mutter zu nah an sich heran zu lassen, hatte Angst, dass dann beide zusammen­brechen, dass das Öl im Endeffekt für keinen reicht. Sind die klugen Jung­frauen klug, weil sie sich weigern, etwas abzugeben?

Wenn er an die Zeit der Trauer denkt, die hinter ihm liegt, dann hat er eigentlich beides erlebt: Wie knapp die Vorräte sein können und auch wie reichlich. Da waren und sind viele Menschen, die ihm etwas abgaben von ihren Vorräten an Zeit, an Aufmerksamkeit, an Liebe. Es gab viele Men­schen, die Worte des Trostes für ihn gesucht und ge­funden haben. Worte, die manchmal hilflos klangen und doch einen tiefen Sinn hatten.

Er denkt an den Abend, als der Arzt das letzte Mal zum Vater gekommen war. Wie es ihm geht, hatte er gefragt, ob er Schmerzen hätte, noch ein paar unverbindliche Worte, dann hatte er ihm gute Besserung gewünscht. Seltsam hilflos stand der Arzt in der Tür und verabschiedete sich hastig. „Gute Besserung?“ Ob es dem Vater jetzt besser ging, jetzt da das Leben und Sterben vorüber ist? Ob wir Menschen, dann wenn es zu Ende geht, auf eine „bessere Welt“ hoffen können? Er schaut auf die Karte und sieht, wie durch den Spalt der geschlossenen Pforte Licht­strahlen dringen. Dort drinnen findet ein Fest statt, so erzählt es die Geschichte. Etwas Schönes wartet auf uns. Solche Hoff­nung zu haben, sie zu erahnen oder zumindest sich danach sehnen. Ob das bedeutet „bereit sein“, rechtzeitig da sein, mit der brennenden Öllampe in der Hand, und eine Tür wird aufgetan? Diese Hoffnung am Leben erhalten, auch dann, wenn alles nur noch nach Ende und großer Hilf­lo­sigkeit aussieht ­– geht es vielleicht darum – im Leben und im Sterben?

Er nimmt eine der Karten aus der Mappe. Sie ist von einem seiner eigenen Arbeitskollegen. Er weiß nicht mehr, was er ge­schrieben hat, aber erinnert sich noch sehr genau, was er sagte. Damals, als er nach einer Woche wieder zur Arbeit ging, klopfte er ihm auf die Schulter: „Nimm’s leicht, er hat es überstanden, das ist doch eine Erlösung.“ Leicht nehmen, das ist ihm schwer gefallen, damals und man­ch­mal fällt es ihm noch heute schwer. Dennoch gehen ihm die Worte durch den Kopf. Was heißt das „überstanden“? Da­rüber hinweg, auf zu etwas Neuem. Wer etwas über­standen hat, ist nun an einem anderen Punkt angelangt. Seinen Vater an einem Ort zu wissen, wo ihm die Krankheit nichts mehr tut, das ist tatsächlich eine erleichternde Vor­stellung. Ein Ort, wo es für ihn leichter ist. „Eine Erlösung“ eben. Wenn man von Er­lösung spricht, dann muss da doch je­mand sein, der ihn erlöst hat. Jemand, der die Macht hat, die Dinge zu wenden und auch zu beenden, wenn sie allzu schwer werden.

An Erlösung zu glauben oder darauf zu hoffen, das wäre: rechtzeitig da sein mit einer brennenden Öllampe in der Hand, wenn die Stunde kommt, und eine Tür wird aufgetan. Dort aufgetan, wo einem alles verschlossen erscheint.

Die nächste Karte, die ihm in die Hände fällt, ist vom Nachbarn. Nach der Beerdigung kam er auf ihn und die Mutter zu und sagte: „Tröstet euch, das Leben geht weiter.“ Was ist das für ein Leben, das weitergeht, über den Tod von Angehörigen hinweg? Was ist das für ein Leben, das weitergeht und die verstorbenen Angehörigen unter sich begräbt? Oder meint der Nachbar etwas ganz anderes, als er vom Leben sprach, das weitergeht? Meint er das Leben selbst, das unzerstörbar ist? Meint er das Leben, das auch für den Vater weitergeht – wenn auch hinter einer Tür, die für uns nicht, noch nicht zu durch­schreiten ist? Dann aber müsste da einer sein, der das Leben selbst in sein Recht setzt, der es behutsam in der Hand hält. Solche Hoffnung sich bewahren, das wäre: das Licht brennend halten, oder neu entzünden, das Licht des Glaubens. Noch lange bevor die Stunde kommt.

Eine Kinderzeichnung kramt er hervor – seine Tochter hat einen Himmel gemalt, mit Sonne und Wolken, drunter eine Wiese mit Blumen. Er hat sie in die Mappe getan, weil seine Tochter das so wollte: ein Bild für Opa. Ein paar Wochen nach der Beerdigung sind sie mit ihr über den Friedhof ge­gangen. Ein Sonntagnachmittag, Sonne, blauer Himmel, blühende Gräber. Da hat seine Tochter ihn gefragt, ob Opa jetzt im Himmel ist. Er wusste nicht recht, wie er antworten sollte. Der Himmel da oben, von der blühenden Wiese durch einen breiten weißen Streifen getrennt, wie auf der Kinder­zeichnung? Nein, das war ihm zu weit weg. Er spürt seinen Vater näher, manchmal ganz nahe, so nahe, dass ihm die Tränen kommen. Was ist dann der Himmel? überlegt er, während er auf die Kinderzeichnung blickt. Etwas, das alles umfasst, das ihm nahe ist wie die Luft und noch näher, das ihm manchmal bis unter die Haut geht.

Oder ist der Himmel der Gegensatz zu dem, was wir auf der Erde miteinander erleben. Unsere Sehnsucht nach erfülltem Leben, nach gelungenen Beziehungen – vieles davon bleibt hier ja fragmentarisch, bruchstückhaft. Der Gedanke an den Himmel aber hält die Hoffnung auf er­fülltes Leben wach, drückt aus, dass unser Leben mehr wert ist, als dass es halb erfüllt abgelegt und vergessen wird. Solche himm­lischen Gedan­ken aufnehmen, das wäre vielleicht wie Öl für die Lampe. Das könnte das Licht des Glaubens leuchten lassen, wenn die Stunde da ist und der Himmel uns ent­gegenkommt.

Er legt die Mappe aus der Hand und schließt die Augen. Er erinnert sich an den Gottesdienst zum Ewigkeitssonntag vor wenigen Tagen. „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ hat der Pastor gesagt, als er über die klugen Jungfrauen sprach. Seit sein Vater tot ist, ist er sich bewusster darüber, wie kostbar das Leben ist, wie zerbrechlich auch. Ist er klüger geworden, weil er das „Zu-spät“ im eigenen Leben kennengelernt hat? Zumindest will er weniger auf­schieben, sich auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist, sich nicht verzetteln in Kleinigkeiten. Oft ist das schwer genug. Er schaut auf die Karte, auf das Licht der brennen­den Lampen. Er weiß, die Geschichte ist für die erzählt, denen noch nicht die Tür vor der Nase zugefallen ist, für die, die noch die Möglichkeit haben, genug Vorrat mitzunehmen. „Was lässt mich brennen?“, fragt er sich, „was begeistert mich, was hält mich? Wo tanke ich auf? Und denke ich genug über diese Fragen nach?“ Er steht auf und befestigt die Karte mit den Öllampen an der Kühlschranktür, damit er sie täglich sieht. Er weiß, es wird ihm guttun.

Noch einmal dankt er an den Ewigkeitssonntag zurück. Im Gottesdienst hat er eine Kerze für seinen Vater angezündet. Er hat in das warme Licht geschaut und an ganz intensiv ihn gedacht. Eigentlich – so begreift er jetzt – hat er diese Kerze auch für sich selbst angezündet. Wie eine Öllampe. Ein Licht, das die Hoffnung wachhält. Die Hoffnung, dass am Ende nicht alles dunkel wird, dass da eine neue Welt auf uns wartet, dass da einer ist, der uns erlöst, dass das Leben als unzer­störbare Kraft weitergeht, dass der Himmel uns offen steht. Möge unsere Hoffnung darauf nie verlöschen, möge sie uns in der Trauer Trost sein. Amen.

* mit Anregungen aus Werkstatt für Liturgie und Predigt Heft 9/2023