Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Wasserquelle und Morgenröte

Wasserquelle und Morgenröte

Predigt zum Erntedankfest
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

Erntedank, 5. Oktober 2025

Predigt zu Jesaja 58, 7–12

Predigttext: Jesaja 58, 7–12

Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! 8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. 9 Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, 10 sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. 11 Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. 12 Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«.

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

Wir feiern Erntedank, auch in diesem Jahr. „Einer der letzten schönen Tage“, wie ein Mann am Freitag an der Alster zu seinem Gegenüber sagte und sein Gesicht der Sonne hinhielt. Letzte schöne Tage mit buntem Laub, mit rot, gelb, pink leuchtenden Astern und Dahlien, glänzenden Kastanien und prallen Kürbissen. Der Himmel gibt seinen Segen dazu; Regen füllt Seen, Flüsse und den Erdboden.

Die letzten schönen Tage, auch wenn es heute wieder stürmen und regnen soll. Wir wissen um vieles, wofür wir am Ende des Sommers dankbar sein und Erntedank feiern dürfen: für die Früchte der Felder, Gärten und Plantagen, für die Arbeit von anderen, für Nahrung, Kleidung und Wohnung, für unsere Familien und Freunde, für die Farben, das Licht und die Wärme … Wir wissen, dass kaum etwas selbstverständlich ist von der Fülle, in der wir leben und die wir in diesen schönen Tagen genießen.

Und unwillkürlich frage ich mich, was wohl kommt nach den letzten schönen Tagen, über die sich der Mann so freute. „Letzte schöne Tage“ – das hat ja auch einen beunruhigenden Klang. Was uns wohl bevorsteht? Viele Nachrichten, die auch Angst wecken vor Bedrohungen, die nochmal ganz anders dunkel sind als die kurzen Herbst- und Wintertage, auf die wir zugehen.

Der Prophet Jesaja, dessen große Verheißung für sein Volk wir heute in der ersten Lesung gehört haben, malt ein anderes Zukunftsbild, erzählt von einem anderen Garten, von einer Lebendigkeit, die alle Geschöpfe umfasst:

Du wirst sein wie ein bewässerter Garten
und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. (Jes 58, 11)

Das ist eine der schönsten biblischen Verheißungen für mich überhaupt! Eine Zusage, die mich zutiefst anrührt:

Du wirst sein wie ein bewässerter Garten …

Vielleicht weil ich, weil jede und jeder von uns so direkt angesprochen wird. Vielleicht weil du und ich ganz unmittelbar in Beziehung gesetzt werden zu unserer Mitwelt und der Garten, das Wasser, die Erde körperlich, stofflich etwas mit uns zu tun bekommt. Vielleicht weil wir wissen, wie lebenswichtig das Wasser ist, von dem hier gleich dreimal die Rede ist, für uns Menschen, aber auch für Tiere und Pflanzen und das ökologische Gleichgewicht.

Der Garten – das ist im Alten Testament seit der Schöpfungsgeschichte ein aufgeladener Begriff. Der Sehnsuchtsort des Paradieses schwingt dabei mit, wie auch die alte Vorstellung der gesamten geschaffenen Welt und auch die des Ackers, der Menschen ernährt. Der „bewässerte Garten“ – aus Gottes Perspektive ist das die Erde. Das Paradies, nach dem wir uns sehnen. Und das konkrete Feld, das Menschen bestellen: der Gemüsegarten, das Weizenfeld, der Olivenhain und der Weinberg. Im alten Israel eine Oase, wo es blüht, wächst und gedeiht, wo Menschen, Tiere und Pflanzen ihren Durst und ihren Hunger stillen können und es ihnen gut geht …

Aber – macht es dann in meinem Kopf – aber so ist es hier nicht! So ein Garten, so eine Oase ist die Erde nicht! Und es schieben sich mir, ohne dass ich es verhindern könnte, Bilder und Berichte vor Augen von der Verseuchung des Bodens durch Kunststoff: 50.000 Plastikpartikel pro Kilogramm Boden oder bis zu zehn Milligramm Plastik pro Kilogramm Boden. Oder die Landminen, die in 58 Ländern und Gebieten den Boden verseuchen und ihn unbetretbar, unbewohnbar machen für Menschen und die meisten Tiere. Oder der Atomschrott, der radioaktive Müll, der im hohen Norden in der Barentssee und der Karasee nördlich von Russland lagert …

„Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.“

Vielleicht kennen Sie, kennt ihr diesen Ausspruch, der wahrscheinlich indianischen Ursprungs ist. Ein Wort, gerichtet an Menschen und Gesellschaften wie unsere, für die ein Wald nur ein Holzlager ist, ein Fluss ein Transportweg, ein Meer eine Mülldeponie. Menschen und Gesellschaften, die in der Mitschöpfung nur eine Verfügungsmasse ihrer Bedürfnisse und Interessen sehen, die nicht mit der Natur und nicht miteinander verbunden sind.

Gut 2.000 Jahre vor den indigenen Bewohnern Nordamerikas hat der Prophet Jesaja einen ähnlichen Zusammenhang hergestellt, wenn er auf die notwendige Verbundenheit zwischen Menschen und ihrer Umwelt hinweist.

Du wirst sein wie ein bewässerter Garten
und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt, wenn …

Jesaja bettet sein Zukunftsbild, seine Verheißung ein in ein Lied der Barmherzigkeit: So du die Hungrigen speist, so du Schutz gewährst, so du dich nicht entziehst und deine Möglichkeiten nicht vorenthältst, so du teilst und heilst – so wird es hell und warm, durch dich und für dich und für andere, so werden Quellen sprudeln, so werden auch dir Wasser und Kraft zufließen …

Dann werden neue schöne Tage anbrechen. Der Garten und die Menschen werden eins sein, zutiefst miteinander verbunden. Das Wasser und die Sonne werden zusammen spielen, sich abwechseln, im Gleichgewicht sein. „Es werden nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ (1. Mose 8, 22)

Biblische Verheißungen, deren Relevanz und Weisheit wir in den letzten Jahrzehnten der Erdvermüllung und des Klimawandels mühsam, schmerzlich und viel zu langsam begreifen. Keine netten Erntedankfloskeln, geeignet für Kitafeiern und Kartoffelfeste, sondern hellsichtige Ansagen für diese unsere Erde. In Bildern und in poetischer Sprache, die Menschen seit über 2.000 Jahren verstehen können.

Dass diese Erde, dieser Planet ein Garten sein könnte mit unterschiedlichen Zonen: mit Steppen, Sümpfen, Regenwäldern, Hochmooren und Gletschern, mit Hitze und Frost, mit einer göttlichen Vielfalt an Lebewesen, die miteinander verbunden sind, aufeinander angewiesen, voneinander abhängig …

Zum Glück, Gott sei Dank! gibt es Menschen, die das spüren und verstehen. Die keine Angst davor haben, mit anderen verbunden, auf andere angewiesen oder von anderen abhängig zu sein. Die es nicht für unter ihrer Würde, sondern gerade für ihre Würde halten, dass sie miteinander teilen, auf etwas verzichten oder anderen helfen können. Die das interessant oder beglückend oder überzeugend finden. Die merken, wie sie selbst dadurch lebendiger werden und Quellen zu sprudeln beginnen …

Ich denke an das Projekt SEKEM in Ägypten, eine Initiative, die sich für eine nachhaltige Entwicklung in den Bereichen Ökologie, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft einsetzt. Letztes Jahr waren zum Erntedankfest Konstanze und Helmy Abouleish aus SEKEM bei uns zu Besuch und haben davon berichtet.

Ich denke an die vielen Projekte der evangelischen Hilfsorganisation Brot für die Welt, wo es um fairen Handel und eine nachhaltige Landwirtschaft geht, um das Überleben, die Gesundheit und Bildung von Menschen im globalen Süden.

Und ich denke in diesen Tagen nach ihrem Tod an die große Forscherin Lady Jane Goodall. Ende der 50er Jahre begann sie – ohne wissenschaftliches Studium, allein aus ihrem Interesse und ihrem Willen heraus – das Verhalten von wilden Schimpansen im Gombe-Stream-Reservat in Tansania zu untersuchen. Geduldig, beharrlich und einfühlsam hat sie jahrzehntelang Menschenaffen beobachtet, mit ihnen gelebt und ihr Verhalten dokumentiert. Sie half dadurch zu verstehen, dass die Menschenaffen fühlende und intelligente Wesen sind. Je länger umso mehr wurde aus ihrem Interesse an den Schimpansen ein Engagement für den Erhalt ihres Lebensraumes. Jane Goodall wurde zu einer Umweltaktivistin, zu einer Botschafterin der Tiere und einem inspirierenden Vorbild. Viele Menschen, gerade Jugendliche und Kinder, hat sie erreicht mit ihrer Faszination für die Wunder der Natur und ihrem festen Glauben an den Respekt vor allen Formen des Lebens. Dabei hat sie eine Botschaft wie ein Mantra wiederholt:

„Jeder zählt. Jede Person spielt eine Rolle. Jeder macht einen Unterschied. Jede kann etwas bewirken.“

Heute, in diesem Jahr feiern wir zu Erntedank vielleicht vor allem Menschen, Vorbilder wie Jane Goodall, die Mut machen zu Respekt, Verantwortung und Verbundenheit mit unserer Mitschöpfung. Die uns anspornen und daran erinnern, dass auch wir etwas tun und dazu beitragen können, dass Gottes Garten bewässert wird, alle Lebewesen ihren Durst und ihren Hunger stillen können und wir in Frieden zusammenleben. Dass jede und jeder von uns einen Unterschied macht – im ganz Kleinen und auch im Großen.

Und dieser Unterschied beginnt vielleicht damit, woran uns der Tag heute erinnert: Dankbarkeit zu empfinden und in uns selbst und unter uns Raum zu geben. Dankbarkeit, die großzügig und auch bescheiden macht, die uns verbindet mit unserer Umwelt. Weil nichts selbstverständlich ist, wie es ist, und immer wieder neu unsere Achtsamkeit, unser Mitgefühl und unsere Sorge braucht.

Also: „Brecht Brot, gewährt Obdach, helft einander – dann werdet ihr sein und leben wie in einem bewässerten Garten. Dazu helfe uns Gott! Amen.