Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Wir nach der Sintflut

Wir nach der Sintflut

Gottesdienst am 2. November
Pastorin

Andrea Busse

Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis

Predigt zu 1. Mose 8 & 9

Bibeltext: 

Aus 1. Mose 8 & 9:
So ging Noah heraus mit seinen Söhnen und mit seiner Frau und den Frauen seiner Söhne, dazu alles wilde Getier, alles Vieh, alle Vögel und alles Gewürm, das auf Erden kriecht; das ging aus der Arche, ein jedes mit seinesgleichen. Noah aber baute dem HERRN einen Altar und nahm von allem reinen Vieh und von allen reinen Vögeln und opferte Brandopfer auf dem Altar. Und der HERR roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. 
Und Gott sprach: Das ist das Zeichen des Bundes, den ich geschlossen habe zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier bei euch auf ewig: Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde. Und wenn es kommt, dass ich Wetterwolken über die Erde führe, so soll man meinen Bogen sehen in den Wolken. Alsdann will ich gedenken an meinen Bund zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier unter allem Fleisch, dass hinfort keine Sintflut mehr komme, die alles Fleisch verderbe. Darum soll mein Bogen in den Wolken sein, dass ich ihn ansehe und gedenke an den ewigen Bund zwischen Gott und allem lebendigen Getier unter allem Fleisch, das auf Erden ist. Und Gott sagte zu Noah: Das sei das Zeichen des Bundes, den ich aufgerichtet habe zwischen mir und allem Fleisch auf Erden. 

Predigt:

Ziemlich am Anfang der Bibel kommt die Sintflut und setzt alles unter Wasser. Das passiert heute auch noch. Bilder von großen Überschwemmungen oder Flutwellen haben wir alle vor Augen: der Tsunami in Südostasien 2004 – oder geographisch näher an uns dran das Oderhochwasser 2010 oder zeitlich näher dran die Katastrophe im Ahrtal 2021. Inzwischen gibt es eigentlich jedes Jahr solche „Jahrhunderthochwasser“. In diesem Juli ver­loren bei einer Flutwelle in Texas Hill Country in einem Kinder-Sommercamp über 100 Mädchen und Betreuer ihr Leben. Im September gab es in Italien schwere Überschwemmungen, im Oktober in Spanien. Unwetter haben in Mexico und Monsun­regen in Nepal Land unter Wasser gesetzt. Die katastro­phalen Bilder solcher Starkwetterereignisse sind fast schon normal geworden. In den Nachrichten sehen wir dann reißende Flüsse oder als Ansicht von oben riesige Land­schaf­ten, die nur noch aus Wasser bestehen.

Und nach der Sintflut? Die Wasser laufen meist unendlich lang­sam ab. Zum Vorschein kommt Verwüstung: Trümmer von Häusern, Straßen und Autos, Schutt, Dreck und Schlamm. Und immer wieder auch – Leichen. Menschen kehren trotzdem zurück, manche räumen auf, bauen wieder auf, andere geben auf. Das sind die Bilder „nach der Sintflut“. Einen Bericht vom Danach können wir auch in der Bibel lesen. Wir haben gerade gehört, wie Noah, seine Familie und die Tiere aus der Arche kriechen.

Jahrtausende liegen zwischen dieser Geschichte und uns, aber die Fragen sind die gleichen. Warum? Wer ist schuld? Gott oder die Bosheit des Menschen?
Noah tritt aus der Arche. Diese Szene ist unendlich oft darge­stellt worden. Es gibt sie auf kunstvollen Gemälden in großen Kathedralen und auch in Bilder­büchern für die Kleinsten. Noahs Geschichte ist eine der bekanntesten der Bibel, dabei ist sie eine der schwierigsten, wie ich finde. Gott sieht, wie böse die Menschen sind, und beschließt, sie zu vernichten. Alle bis auf einen – Noah. Noah baut auf Gottes Befehl hin ein großes Schiff, mitten auf dem Trockenen. In dieser Arche findet seine Familie Zuflucht und viele, viele Tiere. Dann beginnt der große Regen, die Erde wird überflutet, alles Leben vernichtet. Nur die Arche schwimmt auf dem Wasser. Schließlich hört der Regen auf, die Wasser sinken und endlich kann Noah die Türen öffnen, und tritt hinaus. Das ist Noahs Geschichte. Sie erzählt von Gott, der die Menschen vernichtet, der eine Naturkata­strophe hereinbrechen lässt, mindestens so entsetzlich wie wir sie von „modernen“ Überschwem­mungen vor Augen haben. Was ist das für ein Gott? Oder doch: Was ist das für ein Mensch, der mit seiner Bosheit, seiner Selbstüberschätzung, seiner Rücksichtslosigkeit solche Kata­strophen heraufbe­schwört?

Nach der Sintflut ist nichts besser geworden: Die Menschen sind immer noch schlecht. Selbst Gott muss das einsehen. Und so beschließt er, statt künftig weitere Katastrophen zu schicken, einen Bund zu schließen. Ein Gott, der seine Erziehungsmaß­nahmen für die Menschen wechselt? Seltsam.

Es wundert mich wirklich, dass diese Geschichte so bekannt ist, weil sie eben nicht leicht zu verdauen ist. Weil so viele Fragen bleiben. Aber immer wieder begegnet man Noah – vor allem im Spielzeug­laden. Als ob das Kinderkram wäre! Die Arche zum Zusammenbauen, als Mobile oder Badewannen­spiel­zeug. Aber wenn freitags die Kitakinder in die Kirche zu mir kommen zur Andacht, dann frage ich mich, wie ich ihnen diese Geschichte zumuten soll von Gott, der eine ungeheure Flut schickt und alles darin ersäuft.

Vielleicht kann man die Geschichte so erzählen, wie unser Predigt­­text das heute tut: Vom Ende her: Hier wird gar nicht die ganze schreckliche Geschichte erzählt, sondern nur das Happy-End. Das ist es, was zählt an der Geschichte.

Geschichten von einer großen urzeitlichen Sintflut gibt es viele. Nicht nur in der Bibel. Man hat an die 300 Varianten davon entdeckt. Auf der ganzen Erde wurde von der großen Flut erzählt, immer ein bisschen anders, aber doch im Wesentlichen gleich. Und was all diese Variationen vereint ist, dass es am Ende auch Rettung gibt. Wer erzählt, das sind die, die davon­ge­kommen sind. Sie und ihre Nachkommen. Nicht „nach uns die Sintflut“ wie das Sprichwort heißt, sondern „wir nach der Sintflut.“

Leben ist gefährdet. Das muss gar nicht so dramatisch aus­sehen, wie in der Sintflutgeschichte. Auch unser Leben ist gefährdet. Wir sind nicht unsterblich, haben es nicht in der Hand, uns selbst zu schützen und zu retten – vor Krankheit, einem Unfall, was auch immer uns zustoßen kann. Unser Leben ist gefährdet. Aber bis hierher hat uns Gott bewahrt – so wie Noah. Noahs Geschichte ist eine Geschichte der Bewah­rung und nicht des Untergangs.

Eigentlich könnte die Geschichte zu Ende sein, bevor unser Predigttext überhaupt beginnt. Noah öffnet die Tür, er sieht trockenes Land, alles ist gut. Happy End. Abspann. Aber nein – jetzt geht unser Text erst los. Was jetzt kommt, darauf kommt es an. „Nach der Sintflut“ – ist ja das Thema. Nach der Sintflut kommt ein neuer Morgen. Und was für einer: Ein Regenbogen steht am Himmel. Neuanfang steht auf dem Programm. Aber wie neu anfangen? Für Noah wäre es wohl das Naheliegendste gewesen, die Arche auseinander zu nehmen und daraus ein Haus zu zimmern. Aufbauen, anpflanzen, Zukunft planen. Aber Noah tut zunächst etwas anders: er dankt, er opfert, er betet. Er sucht nicht nach dem Schuldigen für die Katastrophe, er dankt dem Verant­wortlichen für seine Rettung. Er schaut zurück und ist dankbar. Dankbarkeit ist ein guter Grundstock für einen Neuanfang. Das tut Noah.

Und was tut Gott? Gott schaut nach vorne. Er schaut in die Zukunft. In Noahs Zukunft und die seiner Nachkommen. Auch in unsere. Und Gott sprach in seinem Herzen:

„Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen, denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr zerschlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde besteht soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“

Gott zieht Bilanz und zieht die Konsequenzen. Die Bilanz heißt: der Mensch ist böse. Die Konsequenz: Ich will ihm trotzdem das Leben ermöglichen. Das ist verrückt, eigentlich völlig unlogisch. Aber es ist unsere Rettung. Ich muss nicht so sein wie Noah – nicht fromm und ohne Tadel, wie die Bibel sagt. Gottes Verheißung gilt für mich, so wie ich bin. Dieses Selbstgespräch Gottes hat es in sich. Allein schon dieser Satz: „Das Dichten und Trachten des Menschen ist böse von Jugend auf“. Was für ein vernichtendes Urteil – aber es vernichtet eben nicht mehr. Denn im gleichen Atemzug beschließt Gott, den Menschen dafür nicht mehr zu bestrafen. Ehrlich gesagt, das Urteil ist nicht so unrealistisch, oder? Ich finde es immer wieder erschreckend, was Menschen Menschen antun. Und ich kenne auch die eigenen dunklen Seiten, die ich an mir selbst nicht mag, die ich möglichst vor anderen ver­stecke, die ich aber doch nie ganz loswerde.

Schon als Kind – als ich mit einem bunten Bilderbuch von der Arche spielte und die Geschichte erzählt bekommen habe – habe ich befürchtet, dass Gott mich wohl nicht als Einzige für die Arche ausgewählt hätte. Gut, dass wir „nach der Sintflut“ leben.

„Nach der Sintflut“ gilt Gottes Verheißung: „Solange die Erde besteht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Gott schenkt uns einen Lebensraum, einen Lebensrhythmus, in dem wir leben können. Aber wir müssen den Lebensraum und Lebensrhythmus auch bewahren, um darin leben zu können. Wenn Gott sagt: der Mensch ist böse, ich will ihm trotzdem Leben ermöglichen. Dann heißt das nicht: Er kann jetzt tun und lassen, was er will.

„Solange die Erde besteht….“ – Dass die Erde besteht, das hängt auch an uns Menschen, das ist uns inzwischen klar. All die Prognosen, wie schnell die Pole und Gletscher schmelzen der Meeresspiegel ansteigt, Inseln und Uferregionen überflutet werden, Extremwetterereignisse sich häufen – all die Zeitprog­nosen wurden noch immer überholt, weil alles viel schneller kommt als gedacht.

„Solange die Erde besteht….“ – Gott hat uns nach der Sintflut ins Leben entlassen – aber nicht ohne Lebens­regeln: „Es ist dir gesagt Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert.“ In dem Kapitel, was Noahs Ret­tung folgt, stehen solche Lebens­regeln. Da beschreibt Gott genau, was Noah und die Seinen zu tun und zu lassen haben auf der Erde.

„Solange die Erde besteht …“ – Gott bindet uns ein in seine Schöpfung. Wir müssen sie bewahren, denn unser Leben hängt daran. Aber Gott traut es uns auch zu – und das, obwohl er weiß, dass Menschen böse sind. Das macht mir immer wieder Mut, wenn ich Katastrophenmeldungen von Umweltzerstörung höre, wenn ich das Gefühl habe, ich bin doch viel zu klein und unbedeutend, um irgendwas zu ändern.

Nach der Sintflut gibt es einen Neuanfang für Noah. Auch mit uns wagt Gott immer wieder einen Neuanfang. Machen wir es wie Noah: Danken wir Gott, dass er uns bis hierher bewahrt hat, und hören wir genau auf das, was Gott von uns fordert und was er uns verheißt. Amen.