Abschied und Erinnerung
Gottesdienst am 6. April
Predigttext:
Aber am ersten Tag der Ungesäuerten Brote traten die Jünger zu Jesus und sprachen: Wo willst du, dass wir dir das Passalamm zum Essen bereiten? Er sprach: Geht hin in die Stadt zu einem und sprecht zu ihm: Der Meister lässt dir sagen: Meine Zeit ist nahe; ich will bei dir das Passamahl halten mit meinen Jüngern. Und die Jünger taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, und bereiteten das Passalamm. Und am Abend setzte er sich zu Tisch mit den Zwölfen. Und als sie aßen, sprach er: Wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten. Und sie wurden sehr betrübt und fingen an, jeder einzeln zu ihm zu sagen: Herr, bin ich’s? Er antwortete und sprach: Der die Hand mit mir in die Schüssel taucht, der wird mich verraten. Der Menschensohn geht zwar dahin, wie von ihm geschrieben steht; doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre. Da antwortete Judas, der ihn verriet, und sprach: Bin ich’s, Rabbi? Er sprach zu ihm: Du sagst es. Als sie aber aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach’s und gab’s den Jüngern und sprach: Nehmet, esset; das ist mein Leib. Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach: Trinket alle daraus; das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden. Ich sage euch: Ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken bis an den Tag, an dem ich aufs Neue davon trinken werde mit euch in meines Vaters Reich. Und als sie den Lobgesang gesungen hatten, gingen sie hinaus an den Ölberg.
Predigt:
Liebe Gemeinde,
Wie oft musstet ihr, mussten Sie schon Abschied nehmen im Leben?
Abschied nehmen von Orten, von Menschen, von Aufgaben oder Plänen.
z.B. als Sie oder andere umgezogen sind,
als die Kinder aus dem Haus gingen,
als Sie die Arbeitsstelle gewechselt oder in Ruhestand gegangen sind,
als Sie Menschen betrauert haben.
Jede und jeder nimmt anders Abschied. Manche können nicht Abschied nehmen. Sie gehen nicht einmal mit an den Zug, um zu winken, um noch einmal jemandem in die Augen zu sehen, ein letzter Händedruck, die Kehle schnürt sich zu. Lieber umdrehen und allein sein. Abschied nehmen macht Angst, Angst auch vor den eigenen Gefühlen. Andere brauchen den langen Abschied, plötzlich fällt ihnen noch so viel ein, was sie eigentlich sagen wollten, sie zögern den Abschied hinaus. Abschied macht beklommen, darf ich weinen oder ist das zu sentimental? Manche feiern ein Fest und sammeln noch einmal viele Menschen um sich, mit denen sie in der Vergangenheit zu tun hatten.
Auch Jesus sitzt mit seinen engsten Freunden – wahrscheinlich auch Freundinnen – zusammen, um sich zu verabschieden. Sie haben das vermutlich nicht erwartet. Geahnt vielleicht, dass es für Jesus in Jerusalem lebensgefährlich werden könnte, aber in dieser Endgültigkeit wollten sie das wohl nicht wahrhaben. Aber dann wird Jesus deutlich: „Meine Zeit ist nahe“ sagt er und „Ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken bis an den Tag, an dem ich aufs Neue davon trinken werde mit euch in meines Vaters Reich.“ Jesus sagt, was nicht mehr sein wird, und was kommt.
Bei Abschieden gedenken wir des Vergangenen und nehmen die Zukunft in den Blick. Abschied und Neubeginn liegen ganz dicht beieinander, oft nicht voneinander zu trennen. Abschied muss deswegen nicht unbedingt nur traurig sein, sondern birgt immer auch die Chance des neuen Anfangs in sich. Zum Abschied wie zum Neubeginn gehört das Gedächtnis des Vergangenen und das frohe Vertrauen auf die Zukunft, gehören Traurigkeit und freudige Erwartung. In diesem Spannungsfeld steht die Geschichte des Gründonnerstagabends.
Da sitzen sie also zusammen und feiern das Passahfest. Auch das ein Fest zur Erinnerung an einen Abschied und einen Neubeginn. Juden und Jüdinnen gedenken bei dieser Mahlzeit der Befreiung aus der Gefangenschaft in Ägypten. Jesus und seine Leute hatten sich, wie es üblich war, in Jerusalem zum Festessen um einen Tisch versammelt. Zu den Sitten des Passahfestes, die noch bis heute in jüdischen Familien beachtet werden, gehört eine bestimmte Folge von Speisen. Es ist auch üblich, dass zu Beginn der Mahlzeit die Frage gestellt wird: „Was unterscheidet diese Nacht von anderen Nächten?“ Der Hausvater antwortet und erzählt von der Befreiung des Volkes Israel aus Ägypten. Er erklärt, was die einzelnen Speisen bedeuten. Die bitteren Kräuter z.B. erinnern an die bitteren Jahre der Knechtschaft. Ein rötliches Mus erinnert an den Ton, aus dem die Ziegel für die Stadt des Pharaos gebrannt wurden. Der Wein erinnert an den Auszug in die Freiheit. Von dem ernsten, feierlichen Beginn geht das Fest zu auf ein fröhliches versöhnliches Ende.
Aber dieser spezielle Festabend ist anders als alle anderen Abende. Zuerst lässt Jesus die Bombe platzen: „Einer von euch wird mich verraten!“ Diesen Moment hat Leonardo da Vinci in seinem berühmten Gemälde vom Abendmahl eingefangen, das wiederum die Vorlage für unser Altarbild war. Es zeigt, wie die Jünger aufgeregt gestikulieren und fragen: Bin ich’s. Nein, das kann nicht sein! Ich niemals. Wer von uns würde sowas tun? Den Schrecken, die Abwehr – als das kann man an ihren Gesichtern und ihrer Körperhaltung ablesen.
Es ist ein Abschied von der Vorstellung: Wir sind eine eingeschworene Gemeinschaft, wir verkünden die heile Welt du wir leben sie auch miteinander. Dieser Abend, das ahnen sie sicher, auch in diesem Moment schon, wird alles verändern. Und trotzdem oder vielleicht gerade deswegen feiern sie weiter gemeinsam das Passahfest. Vielleicht ist es in so einer Situation hilfreich, sich in festgelegte Rituale flüchten zu können.
Jesus übernimmt also die Rolle des Hausvaters. Die Jünger und Jüngerinnen waren wohl kaum ernsthaft erstaunt, als Jesus Brot und Wein segnet. Erstaunlich ist allerdings, wie er es tut. Nicht von der Befreiung aus Ägypten spricht er, sondern von einer ganz anderen Befreiung. Er spricht von der Erinnerung an seine Person und von seinem Tod – aber auch von seiner Wiederkunft. Vom Abschied spricht er und gibt damit dem gemeinsamen Essen eine andere, eine neue Bedeutung. Rätselhafte Sätze, die damals niemand so richtig versteht:
Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis.
und
Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das tut, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis.
Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus diesem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.
Bei Paulus im 1. Korintherbrief sind die Sätze noch knapp. Später werden sie ergänzt: „zur Vergebung der Sünden“ heißt es heute bei unseren Einsetzungsworten. Das wurde erst später dazu genommen, damit auch wir verstehen. Die Worte entfalten ohnehin erst nach Ostern ihre volle Bedeutung. Erst nach der Auferstehung erinnern sich diejenigen, die schon damals dabei waren, an diese Worte, und sie begreifen, was Jesus beim Abschied meinte.
Und dann beginnen die, die von nun an Christ:innen genannt werden, immer wieder dieses Abendmahl zu feiern, in Erinnerung an dieses letzte Abschiedsmahl, zum Gedächtnis an ihn, Jesus Christus. Und wenn sie das tun, verkünden sie seinen Tod und seine Auferstehung, bis dass er kommt.
Tod und Wiederkunft, Trauer und Vorfreude – beides vereint sich in diesem Fest. Abschied und Neubeginn. In der ganzen Zwiespältigkeit, die das mit sich bringt. Abschied von der Knechtschaft in Ägypten und auch von den Fleischtöpfen dort (denn die sogenannte Gefangenschaft war ja nicht nur grausam) und Neubeginn in der Freiheit für das Volk Israel (und jede Freiheit ist auch anstrengend). Abschied vom Leben Jesu und Neubeginn nach Ostern mit dem auferstandenen Christus. Abschied von unserer Schuld (und mit manchen unserer schuldhaften Verhaltensweisen fühlen wir uns ja auch ganz wohl) und Neubeginn eines Lebens in der Freiheit (und wie gesagt, diese Freiheit meint auch immer neue Verantwortung).
Die Traurigkeit über unser Scheitern – dass es an diesem Abend um Verrat geht, ist kein Zufall –, die Traurigkeit über unser Scheitern, aber auch die Freude über den Neubeginn, das zeichnet die Stimmung dieses Abends aus. Vielleicht ist deshalb dieses Fest auch so schwer zu feiern, weil wir unserer Gefühle nicht sicher sind. Ausgelassene Freude wäre falsch, weil sie den Ernst der Lage verkennt, am Vorabend des Tages, an dem wir des Todes Jesu gedenken. Aber unaufgelöste Trauer ist ebenfalls nicht richtig, sie vergisst, dass das Passahmahl die Befreiung feiert und auch dass – wie Luther gesagt hat – ein fröhlicher Wechsel stattgefunden hat und wir frei sind. Befreiung setzt schließlich Freude frei.
Wir versuchen heute Abend einmal beides: Wir werden feierlich Brot und Wein teilen – in den rituellen Formen, die unsere Abendmahlsliturgie uns vorgibt. Wir werden aber auch das tun, was die Jünger und Jüngerinnen damals taten und auch die Christ:innen der ersten Gemeinden: Miteinander zu Abend essen, ein bisschen feiern, Wein trinken, miteinander reden – über all das Alltägliche, was uns umtreibt und was auch an einem solchen Abend zu unserem Leben gehört. Vielleicht unterhalten wir uns über die Abschiede, die wir in unserem Leben schon hinter uns gebracht haben oder über das, was neu begonnen hat. Über Dinge, die im Rückblick in einem anderen Licht erschienen. Darüber, dass man sich leichter fühlen kann, wenn man gewisse Dinge loswird, selbst wenn das Loslassen zunächst weh tut. Vielleicht mögen Sie aber auch raten, wer am Abendmahlstisch hier auf unserem Altarbild Jesu der Verräter ist – man kann ihn erkennen, aber man muss genau hinsehen. ….
Und vielleicht fragen wir uns – gegenseitig oder im Stillen: „Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?“ Amen.