Predigttext: Psalm 24

Die Erde ist des HERRN und was darinnen ist,
der Erdkreis und die darauf wohnen.
Denn er hat ihn über den Meeren gegründet
und über den Wassern bereitet.
Wer darf auf des HERRN Berg gehen,
und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte?
Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist,
wer nicht bedacht ist auf Lüge
und nicht schwört zum Trug:
der wird den Segen vom HERRN empfangen
und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heils.
Das ist das Geschlecht, das nach ihm fragt,
das da sucht dein Antlitz, Gott Jakobs.
Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch,
dass der König der Ehre einziehe!
Wer ist der König der Ehre?
Es ist der HERR, stark und mächtig,
der HERR, mächtig im Streit.
Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch,
dass der König der Ehre einziehe!
Wer ist der König der Ehre?
Es ist der HERR Zebaoth;
er ist der König der Ehre.

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von dem,
der da ist und der da war und der da kommt!

„Draußen vor der Tür“ – in diesem Antikriegsstück hat Wolfgang Borchert im Winter 1946/47 seine eigenen Kriegserlebnisse verarbeitet. Er schildert, wie Beckmann äußerlich unbeschadet aus dem Krieg heimkehrt und vor der Tür seines Elternhauses steht:

Unser Haus steht noch! Und es hat eine Tür. Und die Tür ist für mich da… Da kommt mein Vater jeden Morgen um acht Uhr raus. Da geht er jeden Abend wieder rein. Nur sonntags nicht… jeden Tag, ein ganzes Leben. Da geht meine Mutter rein und raus. Dreimal, siebenmal, zehnmal am Tag. Jeden Tag. Ein Leben lang. Das ist unsere Tür… Der Krieg ist an dieser Tür vorbeigegangen. Er hat sie nicht eingeschlagen und nicht aus den Angeln gerissen… Und nun ist diese Tür für mich da. Für mich geht sie auf, und hinter mir geht sie zu, und dann stehe ich nicht mehr draußen. Dann bin ich zu Hause. (W. Borchert, Draußen vor der Tür, Hamburg 1956, 11. Aufl. 2011, S. 34 f.)

In der Erleichterung, die Schrecken des Krieges überstanden zu haben, steht die Tür von Beckmanns Elternhaus für das Nachhausekommen. Für Geborgenheit und Sicherheit im Haus, in der Familie, in den vertrauten Ritualen der Eltern. Die Tür wie ein Zugang zur scheinbar heilen Vorkriegszeit, wie zur Kindheit.

Türen, heißt es, haben symbolische Bedeutung. Wir alle machen konkrete, alltägliche Erfahrungen mit Türen, die uns ihre Symbolkraft zugänglich machen. Und diese Symbolkraft wiederum bezieht sich auf unser inneres, seelisches Erleben.

 

Ganz real, alltäglich gedacht: Welche Türen sind uns besonders vertraut? Welche können Sie, könnt ihr sofort vor eurem inneren Auge wachrufen? Wahrscheinlich die eigene Haus- oder Wohnungstür, vielleicht die Tür zum eigenen Zimmer oder zur Küche… Vielleicht auch die Bürotür, die Tür zum Klassenzimmer, die U-Bahn- oder Autotüren…

Die einen gehen leicht auf, andere klemmen, wieder andere springen so schnell auf und zu, dass man sich beeilen muss hindurch zu schlüpfen. Nicht alle Türen in unserem Alltag sind ästhetisch schön, vielleicht sogar nur ganz wenige – wie unsere schwere, mit Blätterranken beschlagene Kirchentür.

Türen öffnen und verschließen Räume, sie lassen hinein oder sperren aus. Sie trennen Wärme und Kälte, Lärm und Stille. In diesem Sinn haben Türen auch symbolische Bedeutung: Sie markieren einen Übergang, eine Grenze, einen Durchlass. Wir können sie oft, aber nicht immer, selbst öffnen und schließen.

In Wolfgang Borcherts Drama muss Beckmann schmerzlich erleben, wie aus der Tür, hinter der er eben noch sein Zuhause wähnte, eine fremde Frau tritt. Andere Menschen wohnen in seinem Elternhaus. Er ist dort nicht mehr erwünscht. Die Tür versperrt ihm den Weg zurück in eine erträumte heile Welt.

Beckmann muss lernen – im Drama scheitert er letztlich daran – mit Heimatlosigkeit und Zerstörung zu leben und Abschied zu nehmen. Bzw. nun selbst Heimat und Häuser zu bauen, neue Wege zu gehen, andere Türen für sich zu öffnen.

Dies berührt die dritte, die seelische Dimension, die Türen für uns haben können. Abschiede können sich damit verknüpfen, wie die Einsicht, dass es irgendwann die Tür zum Elternhaus nicht mehr gibt. Vorfreude vielleicht auf den Tag, an dem sich das Schultor oder die Ladentür ein letztes Mal hinter einem schließt. Der Stolz, die Tür zur ersten eigenen Wohnung zu öffnen oder ein Neugeborenes aus dem Krankenhaus zuhause über die Schwelle zu tragen… Das Ende einer Freundschaft oder Beziehung, das sich wie eine verschlossene Tür anfühlen kann. Eine neue Stelle, eine neue Liebe, die sich wie eine Tür in die Zukunft öffnet…

Der alte liturgische Text, Psalm 24, verbindet auf seine Weise, mit Bildern des Tempelberges, die verschiedenen Bedeutungen, die ein Tor, eine Tür für uns haben kann:

Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch,
dass der König der Ehre einziehe! (Ps 24, 7)

Die Tore des Tempels in Jerusalem sind gemeint, auf dem Berg Zion, wo von alters her der Sitz des Heiligen Israels, der Thron Gottes verortet wird. Diese Holztore sollen mit Kurbeln und Seilen hochgezogen werden, damit Gott wie ein König, wie ein Feldherr mit seinem Gefolge einziehen kann. Damit Gott am richtigen, wirksamen, heiligen Ort seine Macht und Herrlichkeit entfalten kann. Und diese Macht besteht, bei allen kriegerischen Assoziationen, in Frieden und Gerechtigkeit, Liebe und Demut.

Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer.
(Sach 9, 9) So sagt es der Prophet Sacharja.

Und nun mag man sich fragen, welche innere Bedeutung denn diese alten Tempeltore und -türen für uns haben, durch die symbolisch der gerechte König einziehen soll?

Georg Weissel, Pfarrer in Königsberg, der mitten im Dreißigjährigen Krieg das Adventslied „Macht hoch die Tür“ dichtete, hat die verschiedenen Bedeutungsebenen klug verknüpft: Die Vorfreude auf den „König aller Königreich“, der stärker ist als alle Herren der Welt. Gerechtigkeit, Sanftmut und Barmherzigkeit bringt er in unsere Welt. „O wohl dem Land, o wohl der Stadt“ – schon hier und jetzt mögen wir es erleben. So wir denn unsere Herzenstüren für ihn öffnen, uns innerlich bereit machen.

Der Psalm nennt konkrete, eher nüchterne Voraussetzungen dafür, den Heiligen zu empfangen:

Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist,
wer nicht bedacht ist auf Lüge und nicht schwört zum Trug,
der wird Segen vom HERRN empfangen. (Ps 24, 4f)

Wer ehrlich ist, sich nicht aufbläht auf Kosten anderer, wer andere neben sich gelten lassen kann, ohne üble Nachrede, wer die Wahrheit nicht scheut und sie nicht mit „Lug und Trug“ nach den eigenen Wünschen zurechtbiegt – der, die darf Gottes Ankunft erwarten und wird Segen empfangen.

Der Königsberger Pfarrer beschreibt im Zeitalter des Barock die innere Vorbereitung anders, süßer und innerlicher: Bereitet euer Herz wie einen Tempel, sagt er, schmückt euer Herz mit Zweigen, wie Immergrün, mit „Andacht, Lust und Freud“. (EG 1, 4)

Ich denke, wir brauchen für unsere Vorbereitung auf die Ankunft des Heiligen, für unser inneres Türenöffnen wohl beides: ethische, äußere Orientierung, wie uns der Psalm Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit ans Herz legt, die Warnung vor Falschheit, „Lug und Trug“. Und auch Besinnung, Gelassenheit, „Lust und Freud“.

Vorfreude, die uns in den kriegerischen, bedrängenden Zeiten, die wir erleben, hoffen und freuen lässt auf einen anderen, himmlischen König, der Gerechtigkeit, Sanftmut und Barmherzigkeit bringt. In diese Zeit, in diese Welt. Und alle, die ihn erwarten, die nach den Zeichen seiner Ankunft Ausschau halten, die hoffen, helfen, singen, schmücken und beten… – sie, wir alle sind wie seine Botinnen und Boten. Vorläufer und Wegbereiter für den neuen König, Hebammen und Türöffner für den Retter der Welt.

Die wir Toren und Türen öffnen können für Nächstenliebe, Ehrlichkeit und Barmherzigkeit – in unserem Umgang mit anderen Menschen, mit unserer Zeit oder unserem Geld. Die wir manche Türen versuchen müssen zu schließen – vor Hass, Gewalt, Lügen und Ausbeutung. Und die wir selbst, auch in uns, Raum schaffen sollen – Räume öffnen, Räume begrenzen und gestalten, damit wir uns auf Gottes Kommen vorbereiten.

Denn er wird kommen – zu uns und allen, die sehnlich auf ihn warten, deren Herzenstüren weit offenstehen. Amen.

Predigttext:

Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.
Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht.
Dann werden auch sie antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben

Predigt

Heute ist Volkstrauertag. Trauert heute das Volk?
Es gibt ja bestimmte Rituale: Kranzniederlegungen an Gedenktafeln, Reden von Politikerinnen und Politikern, Schweigeminuten. Wie ambivalent der Tag ist, zeigt seine Geschichte: Vom Gedenktag zu Ehren der gefallenen Soldaten des 1. Weltkriegs – zur Heldenverherrlichung unter den Nazis – bis hin zum Erinnern an Opfer von Terror und Gewalt nach dem 2. Weltkrieg. Und heute? Trauert das Volk? Trauert Gott mit uns? Dass immer noch kein Friede werden will? Dass es immer noch und immer mehr Opfer von Gewalt und Kriegen gibt? Ich spüre schon eine große Traurigkeit über die Kriege dieser Tage, vor allem über die, die hier bei uns im Fokus stehen: in der Ukraine und im Nahen Osten natürlich.

Und ich merke an mir selbst neben der Betroffenheit eine Hilfslosigkeit, weil das alles so unübersichtlich ist. „Frieden schaffen ohne Waffen“ – das war doch mal eine klare Ansage aus christlicher Grundüberzeugung, aber kann ich mich wirklich gegen Waffenlieferungen in die Ukraine positionieren? Und wenn ich mich über den Konflikt im Nahen Osten äußern will, muss ich aufpassen, weil jedes „aber“ schon eine unange­messene Rela­tivierung sein könnte, weil der „nicht luftleere Raum“ Gefahr läuft, einem um die Ohren zu fliegen. In dieser Zeit ist alles so durcheinander, so uneindeutig, so viele Perspek­tiven, die alle irgendwie ihre Berechtigung haben und doch zu hinterfragen sind. Dilemmata, in denen man sich bei jeder Entscheidung oder Äußerung wiederfindet. Man kann sich eigentlich gar kein Urteil erlauben.

Und dann kommt da einer, um zu urteilen, und sagt ganz klar: Schafe – Böcke, richtig – falsch, Daumen hoch Daumen runter. Da sagt einer, wo’s lang geht. Die einen hierhin, die anderen dorthin. Da ist sie die ersehnte und zugleich befürchtete Eindeutigkeit. Ich sehne mit nach Klarheit in dieser unüber­sichtlich gewordenen Welt und merke doch, dass mich diese Schwarz-Weiß-Malerei befremdet. Da fällt einer sein eindeu­tiges, unwiderrufliches Urteil über die Menschen: entweder gut oder schlecht. Himmel oder Hölle.

Das kann doch nicht wirklich Gottes Ernst sein? Müssen wir Gott da nicht mal über das „christliche“ Menschenbild aufklären: Wir bemühen uns, nicht vorschnell zu urteilen und wissen, dass kein Mensch nur gut oder schlecht ist. Wir sind alle irgendwie zwischendrin, nicht schwarz oder weiß, sondern grau. Manchmal gelingt es mir, meinen Mitmenschen mit Empathie und Mitleid, mit Großzügigkeit und Weitherzigkeit zu begegnen. Und manchmal scheitere ich daran, bin überfordert, drehe mich um, schaue weg. Bin ich dann Schaf oder Bock? Wenn ich ein Patenkind bei Plan habe, habe ich dann schon jemanden gekleidet, der nackt ist? Wenn ich monatlich die Hinz & Kunzt kaufe, habe ich dann schon Hunger gestillt? Wenn ich regelmäßig meinen einsamen Onkel anrufe, habe ich das Soll dann erfüllt?

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich finde sie auch irritierend, diese end­zeitliche Gerichtszene, die der biblische Text uns heute vor Augen malt. Und viele Künstler haben sie ja tatsächlich gemalt. Vermutlich haben Sie alle bei Besichti­gungen in alten Kirchen schon große Kunstwerke gesehen, in denen jemand fast genüsslich ausgemalt hat, wie die auf der einen Seite von Engelchen in Paradies gehoben und auf der anderen Seite vom Teufel in der Hölle gequält werden. Im „Dies Irae“, Tag des Zorns, der alten Totenmesse sind die Schrecken des Jüngsten Gerichtes hörbar. Diese Vorstellung eines endzeitlichen Gerichts ist uns neu­zeitlichen Menschen ja fremd geworden. Was Menschen in anderen Jahr­hunderten noch wirklich umgetrieben, auch Angst gemacht hat, ist für uns kein Thema mehr. Ich zumindest bin als Pastorin noch nie darauf angesprochen worden, dass jemand von der Vorstellung gepeinigt wäre, bei der Wiederkunft Christi auf der falschen Seite zu laden. Was uns aber durchaus um­treibt, ist die irdische Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit und wie wir uns dazu verhalten. Eigene Gewissensfragen, die werden sehr wohl sehr ernsthaft diskutiert. Und darum geht es.

Denn diese biblische Endzeitszene ist ein Gleichnis ist, d.h. hier wird nicht behauptet, dass dieser Gerichtsprozess so ablaufen wird, sondern Gleichnisse sind ja Geschichten, die etwas klar machen, etwas beleuchten sollen. Dieses Gleichnis fragt nach unsrer Verant­wortung – und zwar im Hier und Jetzt: Wie begegnest du deinem Nächsten? Was tust du, was tust du nicht? Was habt ihr getan? Was habt ihr nicht getan?

Was wir tun sollen, wird dann fast matraartig wiederholt: Hungrigen zu essen geben, Durstigen zu trinken, Fremde aufnehmen, Nackte bekleiden, Kranke und Gefangene besuchen. Es sind elementare Werke der Barmherzigkeit. Und sie allein werden zum Kriterium, wie Gott menschliches Handeln beurteilt.

Das ist die nächste Irritation, die der Text hervorrufen kann. Wenn Gott über Menschen urteilt, dann geht es nicht um Glaube, nicht darum, ob wir nach Gott gefragt, ihm vertraut, ihm eine Rolle in unserem Leben gegeben haben. Es geht nicht um Frömmig­keitspraxis und Kult, sondern nur um das, was wir getan haben. Um Werke. Jemand hat diesen Text einmal als „Schlag in die lutherische Magengrube“ bezeichnet. Wo Luther doch immer betont hat, dass wir gerechtfertigt sind allein aus Glauben, dank der Gnade. Und nicht durch unsere Werke.

„Was ihr getan habt!“ darauf kommt es an, denn „Was ihr getan habt, einem diesem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan!“ Ich glaube, es ist einer der bekanntesten Sätze der Bibel, immer wieder zitiert, ein Kernsatz der Diakonie, ein Kernsatz christlichen Glaubens. Man kann im Endeffekt die ganze lange Gerichtsrede darauf reduzieren. Und dann wird auch deutlich, dass es nicht um ein Soll geht, das zu erfüllen ist – wie viele Nackte gekleidet, wie viele Gefangene besucht? – sondern darum, im anderen Gott zu erkennen. Darum, dass sich Gottesliebe und Nächstenliebe eben nicht auseinander definieren lassen. „Was ihr getan habt, einem diesem meiner geringsten Brüder….“. „Einem“ – heißt es sogar, das reicht schon.

An diesem Punkt wird Gottes Anspruch an uns zugleich zur Verheißung. Von uns werden keine übermenschlichen Taten erwartet, sondern wir sollen uns einfach von der Not eines Mitmenschen anrühren lassen und helfen. Manchmal tun wir das, ohne es zu merken – wie die Rückfragen beim Gerichts­prozess zeigen. Wir müssen eben nicht die Welt retten, sondern nur einen anderen Menschen so genau ansehen, dass wir Christus in ihm erkennen. In einer kleinen Tat, kann dann Großes drinstecken. Für etwas Kleines habe ich immer noch Zeit und Kraft, gerade, wenn mich das Große ratlos und hilflos macht.

Es gibt Menschen, für die hat dieser biblische Text das ganze Leben auf den Kopf gestellt. Am bekanntesten ist vermutlich Mutter Teresa. Bei einer Fahrt durch Kalkutta sieht sie ein Kruzifix und hat eine Art mystisches Erlebnis, nämlich, dass dieser Jesus am Kreuz zu ihr spricht. „Mich dürstet“ sagt er und fordert sie dazu auf, ihm in den Ärmsten der Armen zu dienen – was sie künftig ihr Leben lang tut. Was vielleicht weniger bekannt ist, ist, dass Mutter Teresa jahrzehnte­lang in Glaubens­krisen steckte. In ihrem Tagebuch finden sich Sätze wie: „Der Himmel bedeutet nichts mehr. Für mich schaut er wie ein leerer Platz aus.“ Sie konnte Gott offensichtlich nicht mehr da oben verorten, sondern fand ihn nur noch in den Ärmsten der Armen. Dort, allein dort, war er ihr nahe.

Es ist das faszinierende an diesem Gleichnis, dass wir Christus nicht nur als Richter erleben, sondern an der Seite der Opfer. Er identifiziert sich mit ihnen. Wenn wir Christus suchen, finden wir ihn in den Hungernden, den Fremden, den Gefangenen. Wir finden ihn im Obdachlosen, in der einsamen und vielleicht nervigen Nachbarin, im Flüchtling, der auf dem Mittelmeer in Seenot gerät. Und dann stellt sich die Frage: Was habt ihr getan? Was tut ihr?

Und da wird die Eindeutigkeit des Gleichnisses zur Zumutung. Auch im Flüchtling auf dem Mittelmeer erkennen wir das Angesicht Jesu – völlig unabhängig von politischen Debatten über Asylverfahren, Obergrenzen und Verteilung. Natürlich werden wir dann auch immer wieder schuldig. Aber glücklicher­weise richten nicht andere über uns und auch nicht wir selbst. Sondern Christus. Und er ist das, was eigentlich für einen Richter verpönt ist. Er ist parteiisch. Er ist gerecht, aber nicht unerbittlich neutral. Er richtet nämlich nicht „ohne Ansehen der Person“. Er sieht uns an, voreingenommen, liebend. Er rechnet nicht auf, zu wie viel Prozent wir dem Anspruch genügt haben, und wie oft wir gescheitert sind, sondern er erinnert, was wir einem dieser geringsten Geschwister getan haben. Erinnert es besser, als wir selbst. Er ist ein voreingenommener Richter, weil er selbst beteiligt ist. „Was ihr mir getan habt.“ Es gibt den Juristenwitz: „Von einem Gericht bekommt man keine Gerechtigkeit, sondern ein Urteil.“ Dieses himmlische Gericht, in dem unsere irdischen Maßstäbe außer Kraft gesetzt sind, ist anders. Das Gleichnis vom Weltgericht ist eine kraft­volle Antwort auf unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Die Opfer werden nicht übergangen, sie werden gesehen, in dem was an ihnen getan und unterlassen wurde.

Und wir werden gesehen in dem, was wir getan und unter­lassen haben. Gesehen von einem parteiischen Richter, der nicht von uns erwartet, Entwürfe für Gerechtigkeit auf Erden zu liefern, sondern einfach nur einen anderen Menschen anzusehen, einem Menschen zum Nächsten zu werden. Es geht nicht um die Massen an Menschen, die Hilfe brauchen – das erschlägt uns – sondern um den konkreten Menschen, der unserer Zuwendung bedarf. Wenn ich mich dann frage, was mein Tun bringt, wie viele andere leer ausgehen, wenn ich glaube, dass ich ja doch nichts ausrichte und es deswegen gleich bleibenlassen kann, dann schaue ich durch diesen Menschen hindurch, werde ihm nicht gerecht. Es steckt nicht ein Tausendstel oder Millionstel von Christus in einem Menschen, sondern Christus an sich.

Das Gleichnis vom Weltgericht mutet uns viel zu: Wir als Christen und Christinnen tragen Verantwortung für unseren Nächsten. Wir müssen uns immer wieder fragen: Was tue ich? Aber wir haben eine Vision, dass es Gerechtigkeit geben wird, die unsere menschlichen Maßstäbe sprengt. Und dass wir Teil davon sein können. Ein kleiner Teil. Aber Christus sieht diesen, unseren geringen Teil, wenn wir ihn im Geringen sehen. Amen.

Text: Prediger 3, 1–11

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: 2 Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; 3 töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; 4 weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; 5 Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; 6 suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; 7 zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; 8 lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. 9 Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon. 10 Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen. 11 Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

„Alles hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.“ (Pred 3, 1) In diesem Satz fasst der weise Prediger Salomo im Alten Testament seine ganze Erkenntnis zusammen, das Fazit aus seinem Nachdenken über das Leben.

Er fragt sich: „Was hat der Mensch von all seiner Mühe, welchen Gewinn zieht er daraus?“ (1, 3) Er sinniert über seine eigenen Anstrengungen: „Ich tat große Dinge: Ich baute Häuser, ich pflanzte Weinberge, ich legte Gärten und Lustgärten an und pflanzte Bäume hinein; ich machte Teiche, um den Wald zu bewässern…“ (2, 4–6) Und stellt dann fest: „Als ich aber alles ansah, was ich getan hatte, und die Mühe, die ich gehabt hatte, da schien es mir eitel, umsonst, wie ein Haschen nach Wind.“ (2, 11)

Ein älterer, erfolgreicher Mann blickt auf sein Leben zurück. Er sinniert über das, wofür er gearbeitet, seine Gedanken, seine Kraft und Lebenszeit eingesetzt hat. Und es erscheint ihm im Rückblick als unwichtig, „eitel“, im Sinne von vergeblich oder belanglos. So weit geht dieses Gefühl in ihm, dass er sagt: „Es verdross mich zu leben.“ (2, 17) Er hat genug; er ist der Arbeit, der Anstrengungen, Pläne und Erfolge überdrüssig. Alles erscheint ihm leer und sinnlos – auf Englisch „in vain“.

So kann es Männern und Frauen auch heute gehen. Sowohl denen, die erfolgreich sind, die im Beruf, in ihrer Familie, in ihrer Freizeit anscheinend alles erreichen, was wichtig ist oder in unserer Gesellschaft als begehrenswert gilt, wie ein interessanter Job, eine glückliche Partnerschaft und Kinder, Reisen, Abwechslung und Genuss… Trotz alledem fühlen sich manche Menschen irgendwie leer, unberührt und unbefriedigt.

Und ähnlich kann es auch Menschen gehen, die weniger Erfolg haben, die sich anstrengen, die viel arbeiten für wenig Geld oder Anerkennung, die es schwer haben. Auch sie können sich und ihr Leben als nutzlos empfinden. Das Gefühl haben: Es bringt und zählt alles nichts.

Meistens ist dieses Lebensgefühl dann noch von einer anderen Bitterkeit, von mehr Ärger oder Enttäuschung geprägt, als bei denen, die satt sind. Aber gemeinsam kann Menschen, die die Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit ihres Tuns empfinden, das Gefühl sein: Was bringt es denn – all mein Rappeln, Schaffen, Machen?

Ein Zweifeln am Sinn des Lebens, der Anstrengungen und Entscheidungen, die wir auf uns nehmen. Ein indifferentes, wie taubes Gefühl – manchmal niedergeschlagen, erschöpft oder pessimistisch, bis hin zur Lebensmüdigkeit.

Über zwei Kapitel in seinem Buch hinweg denkt der Gelehrte Salomo so über sein Leben nach und fragt sich nach dem Sinn: Warum gibt Gott uns dieses Leben, das uns so unnötig und irrelevant, so „eitel“ erscheinen kann? (vgl. 2, 24–26)

Und dann antwortet er sich auf seine Gedanken und Fragen mit einem der ältesten Gedichte, die in der hebräischen Bibel aufgehoben sind, dem berühmten Text „Alles hat seine Zeit“. Mit diesem großen Gedicht, das Menschen in ganz unterschiedlichen Zeiten und Situationen ihres Lebens anspricht bis heute.

„Geboren werden und sterben; pflanzen und ausreißen;
weinen und lachen; suchen und verlieren;
zerreißen und zunähen… Alles hat seine Zeit.“

Man kann dieses Stück weisheitlicher Literatur ganz verschieden verstehen und auslegen. Heute hören wir ihn im Zusammenhang der Frage nach Arbeit und Arbeitszeit. So, wie der Prediger sich fragt: „Was habe ich eigentlich von meiner ganzen Mühe? Was ist der Gewinn?“

Man kann den Text nun fatalistisch hören, im Sinne von: Egal, was du machst, wie du dir deine Zeit einteilst, was du zu regeln versuchst… Du hast im Grunde keinen Einfluss auf dein Leben. Die Dinge geschehen dir. Das Schicksal schlägt zu.

Man kann den Text aber auch – und so verstehe ich ihn – anthropologisch hören, im Sinne von: Das alles gehört zu einem Menschenleben dazu. Das alles, sowohl das Anstrengende als auch das Beglückende, die vita activa und die vita passiva, äußeres und inneres Wachstum – es gehört zu einem erfüllten Leben dazu, prägt unser Menschsein.

Das Glück, die Fülle des Lebens, die Gott uns schenkt – die „Ewigkeit“, wie es im Text heißt – besteht nicht nur im Leichten und Schönen. Glück ist nicht nur das Glück von Marienkäfern, Sonnenstrahlen und dampfenden Kaffeetassen, wie uns manche Postkarten glauben machen möchten. Sondern Glück als Fülle oder Tiefe des Lebens entsteht im ständigen Wechselspiel von Erfahrungen, Tätigkeiten und Beziehungen, die unser Leben prägen.

Wir wissen von uns, dass wir im Moment, in der Situation selbst durchaus nicht alles als positiv empfinden, dass wir am Boden zerstört, völlig ausgelaugt, hoffnungslos oder überfordert sein können. Es ist auch nicht jede Erfahrung „gut“; manche Erlebnisse sollten Menschen auf jeden Fall erspart bleiben. Aber wenn wir auf uns selbst sehen, erkennen wir mitunter mit Abstand oder im Rückblick, wie wir uns durch schöne und eben auch durch schwierige Erfahrungen, durch Höhen und Tiefen zu mitfühlenden, lebensklugen und gottvertrauenden Menschen entwickeln können. Dass uns eine Freude am Leben wie auch eine heilsame Gelassenheit zuwachsen können, wenn wir den Wechsel der Zeiten und Kräfte anzunehmen verstehen als etwas, das zu unserem Leben gehört.

Damit uns dieser Weg gelingen kann, damit wir unterschiedlichste bereichernde und herausfordernde Erfahrungen machen können, braucht es Zeit. Es braucht Raum für verschiedene Zeiten und Haltungen im Leben:

„Abbrechen und bauen; klagen und tanzen;
behalten und wegwerfen; schweigen und reden…
Alles braucht seine Zeit.“

In diesem Sinne verstehe ich von unserer jüdisch-christlichen Tradition her die Frage nach der Arbeitszeit: Was soll, was darf, was muss in meinem Leben Zeit finden, damit ich in Kontakt mit mir, mit meinen Nächsten und mit Gott sein kann? Damit wir in unserem Leben entdecken können, was der Prediger schreibt: „Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit.“ (3, 11)

Dazu gehört auch die „Ewigkeit“, die Momente der Fülle und des Glücks, der innigen Verbundenheit mit Gott, unserem Schöpfer. Den wir nicht ergründen können, den wir aber glauben, dem wir vertrauen mögen in diesem Leben und in dieser Zeit.

Amen.

 

 

Predigttext 1. Johannes 2, 12–14

Liebe Kinder, ich schreibe euch, dass euch die Sünden vergeben sind um seines Namens willen. 13 Ich schreibe euch Vätern; denn ihr habt den erkannt, der von Anfang an ist. Ich schreibe euch jungen Männern; denn ihr habt den Bösen überwunden. 14 Ich habe euch Kindern geschrieben; denn ihr habt den Vater erkannt. Ich habe euch Vätern geschrieben; denn ihr habt den erkannt, der von Anfang an ist. Ich habe euch jungen Männern geschrieben; denn ihr seid stark, und das Wort Gottes bleibt in euch, und ihr habt den Bösen überwunden.

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

„Dein kompetentes Kind“ (2009) – so heißt eins der bekanntesten Bücher des dänischen Pädagogen und Familientherapeuten Jesper Juul. Als er vor wenigen Jahren im Sommer 2019 starb, wurde er in den Medien breit gewürdigt. Juul gehört zu den bekanntesten und interessanten Erziehern der letzten Jahrzehnte.

Interessant, weil er sich sowohl gegen einen autoritären als auch gegen einen falsch verstandenen „demokratischen“ Erziehungsstil wendet. Weil er ein cooles Laissez-faire von Eltern ebenso kritisiert, wie den Drill, die Abrichtung oder Vereinnahmung von Kindern für die Interessen der Eltern.

„Gleichwürdigkeit“ ist für seinen pädagogischen Ansatz das zentrale Stichwort. Kinder und Erwachsene sieht Juul nicht als gleich an, was ihre Aufgaben, Pflichten und Rechte betrifft – wohl aber als gleichwürdig. Sie sind als Menschen von gleicher Würde, denn auch Kinder sind menschlich und sozial kompetent. Ihre Anschauungen, Bedürfnisse und Wünsche sind ernst zu nehmen – aber die Verantwortung für das Familienleben liegt bei den Eltern.

„Gleichwürdigkeit“ ist das Leitbild für eine Beziehungskultur oder ein Beziehungsklima in der Familie, in dem die Würde aller Familienmitglieder geachtet wird. Dafür tragen die Eltern aber allein Verantwortung und haben eine grundlegende Vorbildfunktion.

„Leitwölfe sein“ (2016) lautet zum Beispiel ein provokanter Buchtitel von Jesper Juul, in dem er an Väter und Mütter appelliert, gegenüber ihren Kindern eine Haltung einzunehmen, die von unverbrüchlicher Liebe und Bindung geprägt ist, von Verantwortung, Respekt und Vertrauen.

An Juuls Konzept, Eltern in ihre Pflicht als „Leitwölfe“ zu rufen, Vorbilder und Gestalter des Beziehungsklimas zu werden, in dem ihre Kinder aufwachsen, musste ich bei dem heutigen Predigttext denken.

Der Autor des 1. Johannesbriefes richtet sich ausdrücklich an „die Väter“, die „jungen Männer“ und „Kinder“. Es sind männliche Bilder einer patriarchal geprägten Gesellschafts- und Familienstruktur, die er verwendet. Und auch wenn wir Frauen im Laufe des 20. Jahrhunderts gelernt haben, uns gelegentlich mitgemeint zu fühlen, wenn von „Herren“, „Brüdern“ oder „Söhnen“ die Rede ist, so möchte ich in diesem Fall die männlichen Begriffe ernst nehmen.

In wenigen Zeilen skizziert der pseudonyme Verfasser ein interessantes Beziehungsmodell. Er richtet den Blick zuerst auf die sog. Kinder. Damit sind in neutestamentlicher Terminologie gewöhnlich alle Gemeindemitglieder gemeint, die durch die Apostel oder andere christliche Lehrer, durch ideelle Mütter und Väter, zum Glauben gekommen sind. An die „Kinder“, also die Gemeindemitglieder schreibt er: „Euch sind die Sünden vergeben.“ (V. 12) Das ist der erste Satz.

Vergebung wird hier, um mit Jesper Juul zu sprechen, als Leitbild für die christliche Beziehungskultur angesehen. Der Raum, den Gott eröffnet und in dem Christinnen und Christen leben, ist von Vergebung, Annahme, Versöhnung und Liebe geprägt. Alle Menschen – Kinder und Erwachsene, Männer und Frauen, Menschen mit oder ohne Behinderung – werden in diesem Raum nicht auf ihre Fehler oder Defizite hin angesehen, sondern im Blick auf ihre Würde, ihre Persönlichkeit und Einzigartigkeit, die sie alle gleichermaßen von Gott her haben.

Wenn wir heute auf den kleinen Täufling Frederik gucken, dann fällt es uns leicht, an die Liebe Gottes zu glauben, an die Schönheit und das Wunder seiner Geschöpfe. So ein wunderbares, unverwechselbares Kind! Wach und aufmerksam, zufrieden und sonnig! – An den älteren „Kindern“, den Erwachsenen, fällt uns das oft etwas schwerer zu erkennen – aber auch ihnen, uns allen gilt Gottes Liebe und Vergebung, gilt unsere Würde und Persönlichkeit von Gott her.

In dieser Beziehungskultur, die von Vergebung und Liebe gekennzeichnet ist, ordnet der Briefschreiber den „Vätern“, den „jungen Männern“ und den „Kindern“ dann unterschiedliche Rollen und Aufgaben zu.

Für die „Väter“, also die Generation von Männern, die Kinder hat, eine Familie ernähren oder mitunterhalten kann und Verantwortung in der Gesellschaft übernimmt, geht es darum, den zu kennen, „der von Anfang an da war“ (V. 12), wie der Autor es formuliert. Also Gott zu kennen als Anfang und Grund, als Fundament für das Zusammenleben in der Familie, der Gemeinde und der Gesellschaft.

Die Kenntnis der Väter, welche Haltungen, Werte und Regeln es für ein gutes Beziehungsklima braucht. Ihre Bereitschaft, dafür einzustehen, Verantwortung zu übernehmen und Vorbild zu sein: sei es die Liebe zur Partnerin und zu den Kindern, die bleibende Verbundenheit, auch wenn eine Ehe zerbricht… Sei es der Respekt vor Älteren oder Jüngeren, Schwächeren oder Fremden, der stets vom Gedanken der „Gleichwürdigkeit“ bestimmt sein sollte. Sei es die Fähigkeit zu lieben und sich hinzugeben oder Streit, Fehler und Misslungenes zu vergeben; die Kraft, Verantwortung – nicht zuletzt im Beruf – zu übernehmen und der Mut, die Zukunft zu gestalten, so unsicher wir uns bei unseren Entscheidungen mitunter fühlen mögen…

Diese großen Aufgaben werden bei den „Vätern“ angesiedelt, den Männern der mittleren Generation. Dafür braucht es innere Stabilität, ein gutes Fundament, emotionale und mentale Kraft… Zu der der Glaube helfen kann, die Verbundenheit mit Gottes Kraft der Liebe und Vergebung.

An die sog. jungen, heranwachsenden Männer schreibt der Verfasser: „Seid stark, haltet das Wort Gottes in euch und überwindet den Bösen!“ (V. 14) Er nennt den Entwicklungsweg, die inneren Kämpfe von Jungen und jungen Männern, die oft ein bisschen anders aussehen, als die von Mädchen oder jungen Frauen. Die Auseinandersetzung mit dem, was sie von innen her reizt: vielleicht die eigene körperliche Kraft, die Testosterone, die Neugier, das Dominanzstreben – wie mit dem, was von außen reizt: vielleicht Genuss oder Gewalt, Besitz oder Betäubung…

„Seid stark“, schreibt er, „haltet dabei Kurs mit dem Wort Gottes!“ Wir wissen, dass natürlich die wenigsten jungen Männer abends zuhause ihren Tag mit der Bibel auf den Knien bedenken… Aber wir müssen ja gemeinsam überlegen, sind als Eltern, Großeltern oder Paten, gefragt, wie die Jüngeren den Glauben, christliche Werte und religiöse Kenntnisse aufnehmen, lernen und sich damit auseinandersetzen können… Wie sie Zugang zur christlichen Beziehungskultur der Liebe und Vergebung finden?

Und schließlich richtet der Verfasser sich ganz knapp an die Kinder: „Ihr kennt den Vater.“ (V. 14) Ihr kennt eure leiblichen, irdischen Väter, an die ihr euch hoffentlich halten könnt als Schutz und Vorbild, als „Leitwolf“. Ein Idealfall ist hier genannt, denn nicht alle Kinder dürfen ihre Väter so positiv erleben. Ihnen, denen die guten irdischen Väter fehlen, ist deshalb in besonderer Weise versprochen, was uns allen gilt: dass wir von Anfang an auch mit Gott als dem himmlischen Vater verbunden sind. Der das liebevolle, soziale Handeln der Väter und Männer prägen soll.

Das sind alles stark männlich orientierte und auch hierarchische Vorstellungen. Im Geiste fragen wir uns dabei vielleicht, welche positiven oder negativen Rollen Mütter spielen, welche Verantwortung Frauen übernehmen sollten, welche Entwicklungswege Mädchen gehen… Gerade in einer Zeit, in der die Geschlechterrollen unter uns neu verhandelt werden. Gott sei Dank gibt es neue Spielräume und Freiheiten, die Rollen als Eltern, als Erwachsene, als Menschen neu auszuprobieren!

Unberührt davon bleibt aber unsere Beziehung zu Gott, den wir als Vater und Mutter denken können und auch in nicht-menschlichen Bildern als Licht, Quelle oder Wahrheit, so wie Gott auch schon in der Bibel beschrieben wird.

Der 1. Johannesbrief preist Gott als die Liebe: „Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh 4, 16)

Das ist die Beziehungskultur, das Klima, für das wir als Christinnen und Christen in der Welt einstehen und Verantwortung übernehmen sollen. Und in dieser Hinsicht sind wir für Gott, um mit Jesper Juul zu sprechen, seine „kompetenten Kinder“. Sozial kompetent, mit eigenen Anschauungen, Wünschen und Bedürfnissen, immer wieder auf Entwicklungswegen, um zu lernen, auf eine gute, erwachsene Weise Verantwortung für unsere Beziehungen untereinander zu übernehmen.

Dabei helfe uns der Gott der Liebe, des Respekts und der Vergebung! Amen.

Predigttext:

Abram war sehr reich an Vieh, Silber und Gold. Und er zog immer weiter vom Südland bis nach Bethel, an die Stätte, wo zuerst sein Zelt war, zwischen Bethel und Ai, eben an den Ort, wo er früher den Altar errichtet hatte. Dort rief er den Namen des HERRN an. Lot aber, der mit Abram zog, hatte auch Schafe und Rinder und Zelte. Und das Land konnte es nicht ertragen, dass sie beieinander wohnten; denn ihre Habe war groß und sie konnten nicht beieinander wohnen. Und es war immer Zank zwischen den Hirten von Abrams Vieh und den Hirten von Lots Vieh. Es wohnten auch zu der Zeit die Kanaaniter und Perisiter im Lande.

Da sprach Abram zu Lot: Es soll kein Zank sein zwischen mir und dir und zwischen meinen und deinen Hirten; denn wir sind Brüder. Steht dir nicht alles Land offen? Trenne dich doch von mir! Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken. Da hob Lot seine Augen auf und sah die ganze Gegend am Jordan, dass sie wasserreich war. Denn bevor der HERR Sodom und Gomorra vernichtete, war sie bis nach Zoar hin wie der Garten des HERRN, gleichwie Ägyptenland. Da erwählte sich Lot die ganze Gegend am Jordan und zog nach Osten. Also trennte sich ein Bruder von dem andern, sodass Abram wohnte im Lande Kanaan und Lot in den Städten jener Gegend.

Als nun Lot sich von Abram getrennt hatte, sprach der HERR zu Abram: Hebe deine Augen auf und sieh von der Stätte aus, wo du bist, nach Norden, nach Süden, nach Osten und nach Westen. Denn all das Land, das du siehst, will ich dir geben und deinen Nachkommen ewiglich. Und ich will deine Nachkommen machen wie den Staub auf Erden.

Predigt:

Der 7. Oktober, als die Terrororganisation Hamas vom Gaza­streifen aus ihren furchtbaren, traumatisierenden, re-traumatisierenden Überraschungsangriff auf Militär und Zivil­bevölkerung von Israel startete, gilt als Zäsur. Eine neue schlimme Eskalationsstufe in diesem uralten Konflikt ist erreicht. Wie alt der Konflikt ist, macht unser Predigttext für heute klar. Natürlich lässt sich keine direkte Linie von Abraham und Lot zum Terror im Nahen Osten ziehen, aber Vieles hört sich unglaublich aktuell an:

„Das Land konnte es nicht ertragen, dass sie beieinander wohnten. Und es war immer Zank. Es wohnten auch zu der Zeit die Kanaaniter und Perisiter im Lande.“ – so heißt es schon im 1. Buch der Bibel.

Die Gegenden, in die die Nomaden damals zogen, in die Juden und Jüdinnen viele Jahrhunderte später auswanderten und flohen, waren nicht leer. „Da sind zu viele Leute im Land“. Es gibt Streit. Streit um Ressourcen, Infrastruktur und Sied­lungen. Damals um Wasser­stellen und Weideplätze. Streit um das Über­leben der Herden und damit auch der Familien. Zwischen den Hirten ist es nicht nur bei Worten geblieben, sondern auch handgreiflich geworden. Es scheint ein Drama zu sein, das sich in diesem Landstrich (und nicht nur dort) wiederholt. Es ist ein Drama, was sich nicht nur auf der Weltbühne abspielt, sondern im Prinzip im Kleinen in jedem Sandkasten.

 

Ich kann es von meinem Fenster aus im Innenhof beobachten: Auch da gibt es Tränen. Geschrei. Wut. „Der hat angefangen!“ – „Nein, der!“ – „Der lässt mir kein Platz zum Burgen Bauen “ – „Der hat mich weggeschubst!“ Die Erzieherinnen stehen dann neben den Streithähnen und versuchen, die aufkommende Prügelei abzuwenden. Wie nun wieder Frieden herstellen? Am besten so, dass beide damit leben und sich am Ende die Hand geben können? Schon Erzieherinnen müssen im Prinzip Konflikt­­manage­ment beherrschen und mehr im Repertoire haben, als zu befehlen: „Vertragt euch!“

Erzieher, Pausenaufsichten, Amtsrichterinnen, Eheberater, Politikerinnen – alle können erzählen, wie aus kleinen Kon­flikten schnell große werden. Wie ein Miss­verständnis Wut erzeugt. Wie aus verletzter Liebe Hass wird. Wie man sich den Raum streitig macht. Wie widerstrebende Interessen in Hand­greif­lichkeiten, in Kriege münden.Konfliktmanagement ist eine echte Herausforderung für alle Beteiligten. Man muss neben den eigenen Interessen die der Gegenseite in den Blick nehmen können. Man muss das Gegen­­über vor Gesichtsverlust bewahren. Lösungen anbieten, die nicht nur den eigenen Vorteil sichern. Je länger der Konflikt gewaltsam ausgetragen wird, desto schwieriger wird das oft. Am Ende geht es nur noch um Sieg oder Niederlage. Wie schafft man dann Frieden?

 

Hier kommt unsere biblische Vorlage ins Spiel. Wie versöhnen sich hier die Streithähne? Wie rauft man nicht nur, sondern rauft sich zusammen?
Gar nicht! sagt der biblische Text.
„Dann geh doch!“ heißt die Lösung. Das ist erstaunlich und manchmal trotzdem klug.

Abraham handelt klug. Bevor der Konflikt weiter eskaliert, macht er ihn zur Chefsache. Er geht nicht auf Konfrontation, er sucht das Gespräch mit seinem Neffen Lot. Als Älterer könnte er einfach eine Entscheidung treffen. Lot müsste sich fügen. Vermutlich ahnt Abraham, dass der Preis dafür eine anhal­tendes Zerwürfnis wäre. Dass Lot ihm dauerhaft grollen und es ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit vergelten könnte. So schafft man keinen Frieden.

Abraham macht also diesen erstaunlichen Vorschlag, der sich erstmal auch gar nicht nach einem Friedensangebot anhört: Warum gehst du nicht einfach? Man stelle sich diesen Satz vor im Streit zwischen einem Ehe­paar, zwischen Freund:innen, zwischen Chefin und Mitarbeiten­den. Wenn dieser Satz fällt, dann scheint die Trennung unver­meidlich. Dann geht es nicht mehr darum, wie die gemeinsame Zukunft aussehen könnte, sondern ob es noch eine gemein­same Zukunft gibt. Bei einem Ehepaar steht dann die Schei­dung im Raum, bei langjährigen Freundschaften ein endgültiger Bruch, am Arbeitsplatz die Kündigung. Meist wird so ein Satz im Eifer des Gefechtes gesprochen, in einer emotional aufgela­denen Situation. „Dann geh doch!“
So stelle ich mir das Gespräch zwischen Abraham und Lot nicht vor. Ich glaube nicht, dass die Worte im Streit fallen oder aus einer beleidigten Haltung heraus gesprochen werden, sondern wohl überlegt. Abraham will nicht provozieren, sondern eine Lösung suchen.

Lösung heißt oft eben nicht, dass der Konflikt in Harmonie aufgelöst werden kann. Die beiden Männer liegen sich nicht in den Armen. Die Probleme werden nicht ver­niedlicht oder über­tüncht. Sie sind gravierend, lebens­be­drohlich. Trennung wird hier geschildert als eine heil­samere Antwort als ein mühsames und konfliktreiches Miteinander. Die Lösung heißt hier: Du links, ich rechts, damit aus Recht-haben-Wollen kein Unrecht wird.

Abrahams Lösungsvorschlag ist eigentlich ein Dreischritt:

1. Schritt: „Abraham sprach zu Lot“. Man redet also miteinander. Wie viele Friedensbemühungen schon daran scheitern wissen wir.

2. Schritt: Das Ziel wird definiert – „Es soll kein Zank sein“ – und begründet: „Denn wir sind Brüder“. Ich hätte ja erwartet, das Ziel sei: Alle sollen überleben, alle müssen genug Wasser abkriegen. Und dann plant man Wasser­rationierungen oder was auch immer. Noch dringender zum Überleben als Wasser ist hier Friede.

3. Schritt: Abraham öffnet die Situation. „Das Land ist offen“ – sagt er. Ich stelle mir vor, wie Lot automatisch den Kopf hebt und sich umschaut, in die Weite schaut. Das würde manchem Konflikt guttun. Wenn man aufblicken, erkennen würde, dass es viele Möglichkeiten gibt. Und keine Angst hätte, ungewöhnliche Möglichkeiten zu benennen: z.B. Trenne dich doch von mir!

Abraham ist klug. Er öffnet die verfahrene Situation. Er lässt Luft rein und Weite. Größe und Großzügigkeit. Als Kind hat mich das an der Geschichte am meisten beeindruckt: Dass Abraham Lot wählen lässt und dass der natürlich das bessere, das fruchtbarere Land wählt. Die Jordaneben statt das karge Kanaan.

Für Abraham steht viel auf dem Spiel. Er hat von Gott die Ver­heißung auf Land und Nachkommen. Ich vermute, dass Lot, sein Neffe, für ihn eine Art Sohn-Ersatz war. Abraham hatte bekanntermaßen zunächst kein Kind, Lot repräsentiert die jüngere Generation, die Abrahams Sippe, wenn auch nicht in direkter Linie, weiterführen wird. Mit diesem „Dann trenn dich doch!“ wird die Verheißung also doppelt in Frage gestellt: Lot kriegt das bessere Land und Abraham verliert den Nach­kommen.

Die Verheißung an Abraham ist der Zielpunkt auch dieser Erzählung. Gott hat Abraham Land, Wohlstand und Nach­kommen versprochen. Reich ist er offen­sichtlich schon, das wird berichtet. Aber das Land, in das Gott ihn führen wollte, das hat noch keine klaren Konturen. Abraham ist schon viel herum­gezogen, bevor es hier zum Zank und zur Trennung kommt. Und in diesem Moment, als die Verheißung in Frage steht, wird sie von Gott erneuert:

„Hebe deine Augen auf und sieh von der Stätte aus, wo du bist, nach Norden, nach Süden, nach Osten und nach Westen. Denn all das Land, das du siehst, will ich dir geben und deinen Nachkommen ewiglich.“

Wieder geht es also darum die Augen aufzumachen, sich um­zuschauen, in die Weite zu blicken. Und was Abraham da sieht, was sein verheißenes Land sein soll, ist gar kein Neuland. Hier ist er schon häufiger mit seinen Herden durchgezogen, er hat hier schon mehrfach Altäre für Gott gebaut, wir können es in den alten Geschichten nachlesen. Bevor Gott Abraham sagt: „Genau hier ist das Land, das ich dir verheißen habe“, ist es schon „abgestecktes“ Land, ein Land, in dem Gott verehrt und angebetet wurde. Das verheißene Land ist also weniger durch seine Geografie bestimmt – oder durch besonders grüne Wiesen, wie Lot sie wählt – sondern dadurch, dass Abraham hier schon Spuren seines Glaubens hinterlassen hat. Hier an dieser Stelle, an der Abraham Lot um des lieben Friedens willen den Vortritt lässt, hier erschließt sich das ver­heißene Land, der Lebensraum für die Zukunft. Es ist der Ort, an dem Abraham trotz allem Gottes Zusage vertraut. Verheißenes Land ist Gottvertrauen. In diesem Land kann man gut, kann man in Frieden leben.

Bei der Streitschlichtung kommt Gott gar nicht vor. Er mischt sich nicht direkt ein. Aber Abrahams Gottvertrauen kann den Zank auf kluge Weise beenden. Wer keine Angst hat, zu kurz zu kommen, weil er Gottes Zusagen gegen allen An­schein vertraut, der kann Wege des Friedens wagen. Nochmal: Das ist kein Happy end, kein wohliges Auflösen in allseitig Harmonie. Es ist ein Weg, ein Anfang, ein Ende des direkt ausgetragenen Konfliktes. Die Hirten holen sich keine blutigen Nasen mehr. Das ist schon viel wert. Was wäre das für ein Fortschritt, wenn es eine Feuerpause – oder meinetwegen auch Feuerpausen – geben würde.

Natürlich ist die Versuchung groß, diese Erzählung im Moment allein auf die politische Situation hin zu reflektieren. Aber im Prinzip spiegeln diese alten Texte existentielle Erfahrungen – sowohl im Individuellen – hier stehen zwei Männer einander gegenüber, wie im Kollektiven – es geht auch um die Sippe, die dahintersteht, und die Völker, die dort siedeln. Zwei Menschen, zwei Gruppen, zwei Seiten, die miteinander verbunden sind – sei es emotional, familiär, beruflich, politisch – ringen um die Frage, wie es miteinander weitergehen kann. Häufig machen wir dabei die Erfahrung, dass das Ungelöste den Blick bindet. Man sieht eben keine Lösung mehr, man kann nicht mehr „out of the box“ denken. Dann gerät das weite Land aus dem Blickfeld, das weite Land dessen, was möglich sein könnte. Und manche verliert das Gottvertrauen.

Manchmal ist es das Versöhnlichste, was wir tun können, zu gehen. Anzuerkennen, dass auch lange Freundschaften enden, dass Ehen scheitern, dass ein Arbeitsplatzwechsel die beste Lösung ist. Hoffnung kommt vielleicht erst nach dem Schluss­strich in den Blick. Trenn dich – von Träumen, von Angewohn­heiten, von Traditionen, von Lebensentscheidungen. Trau dich, andere Optionen in den Blick zu nehmen.

Das weite Land, diese anderen Optionen auch sie werden keine Zauberlösungen sein, so als ob man nur ein bisschen weiter gucken müsste und dann löst sich das Problem auf wundersame Weise auf. Konflikte zu klären bleibt immer eine Zumutung. Das Wort Jesu von der Feindesliebe macht es deutlich. Carl Friedrich von Weizäcker hat einmal gesagt: „Intelligente Feindesliebe geht davon aus, dass Frieden nur zusammen mit dem Gegner erhalten werden kann.“ Die Zumutung dieses Zitat wird deutlich, wenn man wagt, das durch­zubuchstabieren für die Ukraine und Russland, für Israelis und Palästinenser. Oder auch für uns im Kleinen im Sand­kasten, in Ehekrisen, im Konflikt am Arbeitsplatz, in Auseinan­der­setzungen mit unseren Mitmenschen.

Frieden schaffen ist eine Zumutung, ist harte Arbeit, scheint oft unmöglich. Es geht nur, wenn man miteinander spricht, wenn man nicht eigene Interessen, sondern den gemeinsamen Frieden zum Ziel erklärt. Dass es auch inmitten von Trauer und Schmerz Menschen gibt, die das können und wollen, zeigte mir eine Mail – überschrieben mit: Listen to Israeli survivors – they don‘t want revange. Hört auf Überlebende in Israel, sie wollen keine Rache. In dieser Mail wurden viele Israelis zitiert, die den Angriff am 7. Oktober hautnah miterlebt oder dabei engste Angehörige verloren haben, z.B. Noi Katsmann, die ihren Bruder betrauert: Sie schreibt:

„Missbraucht nicht unsere Toten und unseren Schmerz, um anderen Menschen Tod und Schmerz zu bereiten. Ich verlange, dass wird den Kreislauf der Schmerzen stoppen, und dass wir begreifen, dass der einzige Weg Freiheit und gleiche Rechte sind. Frieden, Geschwisterlichkeit und Sicherheit für alle Menschen.“

Mögen diese Stimmen gehört werden. Amen.

Predigttext:

Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen. Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden. Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist. (Jakobus 5, 13–16)

Predigt:

„Beten Sie für mich!“ – sagt Madame du Bois zu mir an der Kirchentür meiner damaligen Gemeinde. Sie ist eine zurück­haltende Frau und ich bin etwas erstaunt über diese direkte Ansage, diese kurze dringende Bitte. Ich weiß, dass sie Brustkrebs hat, zum 2. Mal, irgendeine aggressive Variante. Und ich kann ihr an diesem Morgen die Schmerzen ansehen. „Beten Sie für mich!“ – das bricht richtig aus ihr heraus.

Die Krankheit hat ihr Leben komplett verändert. Sie ist nur 2,3 Jahre älter als ich, beruflich sehr erfolgreich, auch sehr einge­spannt. D.h. das war sie. Dass der Krebs nach vielen Jahren zurückgekommen ist, hat erstmal alles zum Stillstand gebracht. Alle Termine, Pläne, Ideen erstmal hinfällt. Andere Termine und Pläne stehen jetzt an: der OP-Termin, die Pläne für Bestrahlung und Chemo. Was gestern noch Bedeutung für sie hatte, ist heute unwichtig. Zuerst – so hat sie mir erzählt – war sie wie erstarrt. Sie muss sich jetzt neu definieren, mit der Krankheit ausein­andersetzen, ob sie will oder nicht. Die Frage nach dem Warum treibt sie um: Warum zum 2. Mal? Was ist der Sinn dahinter?

Zum Kirchenkaffee nach dem Gottesdienst bleibt sie nicht. Die Kraft reicht nicht. Andere, die sie schon lange kennen, sind betroffen, wie schlecht sie aussieht. „Kein Wunder, dass sie wieder krank geworden ist “ sagt Madeleine „sie frisst alles in sich hinein. Hat sie jemals mit dir darüber gesprochen, warum ihre Tochter mit den Eltern den Kontakt abge­brochen hat? Da liegt einiges im Argen in der Familie und sie schluckt alles immer nur runter. Da kann man ja nur krank werden.“ Auch die Menschen, die ihr nahestehen, fragen offensichtlich nach dem Warum. Manches klingt dann schon fast wie eine Schuldzu­weisung.

Für die moderne Medizin sind Krankheiten oft einfach sinnfreie Phäno­mene, die beseitigt werden müssen. Aber Menschen, die von schwerer Krankheit betroffen sind, und ihr Umfeld, die fragen nach Ursachen, nach Sinn und Unsinn des Ganzen. Leider gibt es noch immer Deu­tungs­muster, die erkrankten Menschen letztendlich die Ver­antwortung für ihre Krankheit zusprechen. Manchmal scheint es auf der Hand zu liegen: eine starke Raucherin mit Lungenkrebs, ein Überge­wichtiger mit Herzinfarkt – selbst schuld.

Solche Deutungsmuster gibt es auch in der Bibel. Wer krank wird, wer leidet, muss gesündigt haben und wird von Gott gestraft oder auf die Probe gestellt. Aber dieser Zusammen­hang war schon den Menschen im Alten Testament fragwürdig geworden. Es deckt sich eben nicht mit unserer Erfahrung, dass man im Verhalten des Menschen die schlüssige Ursache findet. Es hat sich noch nie damit gedeckt, auch nicht zu biblischen Zeiten.

Und gleichzeitig gibt es Zusammenhänge zwischen Körper und Seele. Das würde hier vermutlich niemand bestreiten. Als Jesus den Gelähmten heilt, vergibt er ihm zunächst seine Sünden. Als Jakobus über Krankheit schreibt, schreibt er auch von Sünden­vergebung. Es geht dabei nicht um einen kausalen Zusammen­hang: Du bist schuld an deiner Misere, weil du irgendetwas getan hast. So eben nicht. Aber auch die moderne Medizin rechnet damit, dass Schuld, Angst, Einsamkeit oder Wut krank machen können. Und umge­kehrt, dass gute Beziehungen, Freude, Hoffnung, Dankbarkeit die Resilienz eines Menschen, die Widerstands­kraft seines Körpers stärken und Heilungs­prozesse unter­stützen. Auch Vergebung kann zur Gesundung beitragen. Sünde meint dann all das, was Beziehungen zwischen Menschen oder auch zwischen Gott und Mensch zerstört. Und Vergebung bedeutet, dass diese Beziehungen zu heilen beginnen können. Vergebung meint ein Wende, eine Zu-wendung zu Gott und anderen, bzw. von Gott und anderen.

Der Schreiber des Jakobusbriefes theologisiert aber gar nicht so abge­hoben über das Sündenverständnis: Er fragt ganz lebensnah: Was kann jemand tun, wenn es ihm/wenn es ihr schlecht geht. „Leidet jemand unter euch“, für den oder die hat er konkrete Ratschläge. Das Verb, das er im Griechi­schen benutzt, meint dabei nicht nur körperliches Leiden, sondern auch seeli­schen Schmerz, also Verlust, Sorge, Scham, Einsam­keit. Und sein Ratschlag ist kurz und einprägsam:

Leidet jemand, der bete!

Das könnte man missverstehen. Da steht nicht: Leidet jemand, der bete und dann wird alles gut oder zumindest besser. Ich weiß, dass sich diese Erwartung – oft unbewusst – mit dem Gebet verbindet. Gerade bei Stoßgebeten. Und manchmal geschehen wohl auch Gebets­­wunder. Aber ich will Gottes Wirken nicht an den Rand der Realität drängen und nur dort verorten, wo Spektakuläres geschieht. Gott muss in Krank­heitsfällen auch nicht über das Stöckchen der Naturgesetze springen, damit seine Zuwendung spürbar wird.

Beten kann trotzdem wie Medizin wirken. (Und ich meine wie nicht anstelle von). Also Beten kann heilsam sein, denn Beten befreit aus dieser Erstarrung, von der Frau DuBois erzählte. Beten heißt Schmerz in Worte fassen, es bedeutet, aus sich herauszugehen, nicht allein zu bleiben; es heißt, ein Ventil zu haben und ein Gegenüber zu spüren. Beim Beten kann ich Klarheit gewinnen, meine Gedanken sortieren, in die Tiefe gehen, auch wagen, in Abgründe zu schauen.

Not lehrt beten, heißt es. Ich glaube das. Ich glaube, dass mehr gebetet wird, als wir annehmen und ahnen. An Krankenbetten, in Kindergärten und in Seniorenheimen, in den Gebets- und Gästebüchern der großen Touristenkirchen, an unserem Kerzentisch hier, in Onlineforen, im Stau oder in Fahrstühlen. Das Gebet holt aus der Einsamkeit und aus der Sprachlosigkeit.

Ich bete seit einigen Tagen auch mehr als sonst. Ich bete, weil ich mich so hilflos fühle angesichts der aktuellen Lage im Nahen Osten, die uns so deutlich vor Augen führt, wie un-heil diese Welt ist. Wir schauen hier fassungslos zu, wie der Terror über Menschen in Israel hereingebrochen ist, wie Bomben und Gewalt die einzig mögliche Antwort zu sein scheint, wie sich der gegenseitige alte und immer wieder neu befeuerte und provo­zierte Hass entlädt. Bilder der Ent-menschlichung erreichen uns. Ich bin erschüttert und ohnmächtig. Dann bleibt mir nur, mein Entsetzen vor Gott zu bringen. Immer wieder. Ich klage, ich frage, ich hadere im Gebet. Ich erinnere Gott daran, dass diese Welt doch Frieden finden soll und will, dass sein Reich doch schon mitten unter uns ist. Und wenn ich dann zweifle, dass mein Gebet irgendetwas bewirken könnte, dann serviert mir Gott einen Predigttext, der endet mit den Worten:

Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.

Deswegen werde ich ihm weiter in den Ohren liegen mit meinen Gedanken und meiner Sehnsucht nach einer heileren Welt. Sie ist deswegen heute nicht heiler, die Bombardierungen gehen weiter. Aber die Sehnsucht nach Heil lässt sich nicht unter­kriegen. Die Hoffnung darauf, dass das Böse sich vom Guten überwinden lassen könnte, die dürfen wir nicht aufgeben. Die will ich nicht aufgeben. Und die stärke ich mit jedem Gebet. Auch wenn das das Leid im Nahen Osten nicht lindert, so tröstet mich diese Hoffnung für einen Moment. Mich tröstet die Vorstellung, dass weltweit viele, viele Menschen um Frieden beten. Und dass ich nicht alleine bin mit meinen Worten in Gottes Ohr.

Wenn wir dann noch einmal von der Weltbühne zu Jakobus zurückkehren, dorthin, wo er das Gebet hier in seinem Schreiben verortet hat, nämlich am Krankenbett, dann können wir sicher ahnen, wie heilsam es ist, wenn es Worte gibt, mit denen Gesunde und Kranke, Ärztinnen und Pflege­personal aus dem Sprachduktus der Diagnosen, der Dienst- und Therapie­pläne herauskommen – und Angehörige aus dem stummen Tapferseinmüssen.

Leid wird ja oft als Gottesferne und auch als Isolation von anderen empfunden. „Da muss ich alleine durch“ sagen manche, sagte auch Frau DuBois auf meine erste Nachfrage. „Keiner weiß, wie es mir wirklich geht. Keiner empfindet, was ich empfinde.“ Ja das stimmt, und trotzdem verstärkt Alleine­bleiben das Leid meistens. Genau hier setzt der Briefschreiber, der sich Jakobus nennt, an: „Betet und ruft andere zu euch!“ Geht in die Gemeinschaft mit Gott und mit anderen. Diese Öffnung führt aus dem Stillstand in die Bewegung, stellt die eigene Situation in ein neues Licht. Ein Licht, in dem man sich vorstellen kann, dass es Heil auch ohne Heilung geben könnte.

„Beten Sie für mich!“ – Ich habe damals für Madame DuBois gebetet. Nicht konkret für ihr Gesundwerden, sondern ganz offen für das, was sie braucht. Einige Monate nach dieser Szene an der Kirchentür bat sie mich um einen Besuch. Wir haben miteinander gesprochen. Es war ein langsames, auch mühsames Gespräch. Ich musste an Madeleine denken. Vermutlich hat Madame DuBois wirklich viel geschluckt in ihrem Leben. Sie tat sich sichtlich schwer mit dem „Ausspucken“. Sie war das nicht gewohnt, aber sie wollte. Wollte Dinge aus­sprechen, mir gegenüber, später hat sie es – so habe ich erfahren – auch ihrer Familie gegenüber getan. Ob das der „Sinn“ ihrer Krankheit war, ich weiß es nicht. Mit solchen Urteilen bin ich lieber vorsichtig. Aber es gab eine Wende in ihrem Leben, die auch eine Zu-Wendung zu anderen war. Bei meinem Besuch fragte sie mich auch, ob die evangelische Kirche sowas wie die letzte Ölung kennt. In Frankreich wachsen die meisten natürlich mit den katholischen Traditionen auf. „Wir nennen das nicht so“, habe ich ihr erklärt, „aber Salbung gibt es“. Steht ja schließlich schon so in der Bibel, z.B. in unserem Abschnitt des Jakobus­briefes. Auch die evangelische Kirche kennt Salbungsrituale. Und zwar nicht nur zum Schluss des Lebens. Es gibt Krankensalbungen. Man muss aber nicht mal krank sein, um eine Salbung – eine Berührung, ein gutriechendes Öl – als heilsame Zuwendung zu erleben.

Wieder ein paar Wochen später bat Frau DuBois mich um diese Salbung. Es war inzwischen klar, dass der Krebs nicht mehr heilbar sein, dass es zuende gehen würde. Aber ich traf sie recht lebendig an, obwohl sie schon länger nur noch im Bett liegen konnte. Ich war ehrlich gesagt erstaunt, dass sie mich zu diesem Zeitpunkt zur Salbung gerufen hatte. Wir sprachen, wir beteten, wir sangen ihr Lieblingsgesangbuchlied (das war übrigens ich singe dir mit Herz und Mund, was wir auch schon gesungen haben) und ich zeichnete ihr mit Salböl ein Kreuz auf die Hand. Der Duft breitete sich im Zimmer aus.

Das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und Gott wird ihn aufrichten.

– so schreibt Jakobus. So habe ich es an diesem Nachmittag erlebt. Es war eine friedliche Stunde. Am nächsten Tag rief mich ihr Mann an, dass sie in der Nacht verstorben war. Ich muss zugeben, ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet. Sie offenbar schon. Geheilt wurde sie eindeutig nicht. Ich hoffe, dass trotzdem manches noch heil werden konnte.

Wer sich und andere ins Gebet nimmt, wer sich so einwebt in das Netz eigener und fremder Gebete, für den verschwimmen manchmal die klare Zuordnung von gesund und krank, von heil-sein und nicht-heil-sein, von Ursache und Wirkung, auch von Erhörung und Enttäuschung. Vielleicht gab es auch für Frau DuBois ein Loch im Dach – wie für den Gelähmten. Eine Einsicht über das, was trennend war, und eine Begegnung mit dem, was versöhnend und heilsam ist.

Aber ich bin noch nicht fertig mit Jakobus. Und das hat damit zu tun, dass hier heute sicher nicht nur Menschen sitzen wie Madame DuBois oder ihr Mann oder Madeleine. Vielleicht sind Sie gerade in einer schweren Situation und spüren den Schmerz, vielleicht beobachten Sie es mehr oder weniger hilflos bei anderen, vielleicht erinnern Sie solche Phasen im Leben. Vielleicht sind Sie aber auch einfach guten Mutes. Es sollen ja angeblich nicht nur Leute in den Gottesdienst kommen, denen es schlecht geht. Sondern auch Menschen, die gesund und glücklich und zufrieden – und dafür dankbar sind. Auch dann hat Jakobus einen Ratschlag:

Ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen.

Es ist mir wichtig, das nicht unter den Tisch fallen zu lassen: Nicht nur im Leid ist es hilfreich und heilsam, aus sich heraus­zutreten, sich Gott und anderen mitzuteilen. Sondern auch im Glück. Wo in guten Zeiten Dankbarkeit im Gebet geübt wird, entsteht als – ich nenne es mal: Gewöhnungseffekt ein Be­wusstsein oder eine Haltung, die nicht nur auf sich selbst bezogen bleibt. Diese tägliche Praxis wirkt sich, da bin ich sicher, auf Körper und Seele positiv aus. Wer Gott und die Gemeinschaft mit anderen als tragende Säulen in sein Leben einbaut, den halten sie auch, wenn Erschütterungen kommen.

Eigentlich kann man den Predigttext kurz zusammenfassen: Betet und singt.
Der Gottesdienst ist ein Raum, in dem wir das immer wieder üben: Wir üben, das Schwere vor Gott zu bringen – das tun wir in jedem Kyrieeleison, in den Gebeten, in der Stille. Wir üben, das Schöne miteinander zu teilen, im Gloria und Halleluja, in unseren Liedern, im Dankgebet. Wir leihen uns dafür Worte aus der Tradition, aus der Bibel, wir als Pastor­­innen versuchen, Worte dafür zu finden, in denen Sie sich hoffentlich immer wieder auch wiederfinden. Und dieser Raum für Schweres und Schönes, für Austausch und Teilen wird fort­geführt in jedem Kirchenkaffee. Das ist nicht nur Plaudern. Es ist die Fortsetzung dessen, was hier geschieht: Wir stellen uns in die Gemein­schaft, wir freuen uns miteinander, wir klagen und meckern auch mal über das, was uns zusetzt. Und warum nicht auch da mal sagen: Bete für mich!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserem Herrn. Amen.

 

Predigttext: Markus 10, 17–27

Und als er hinausging auf den Weg, lief einer herbei, kniete vor ihm nieder und fragte ihn: Guter Meister, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? 18 Aber Jesus sprach zu ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als der eine Gott. 19 Du kennst die Gebote: »Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis reden; du sollst niemanden berauben; du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.« 20 Er aber sprach zu ihm: Meister, das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf. 21 Und Jesus sah ihn an und gewann ihn lieb und sprach zu ihm: Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach! 22 Er aber wurde betrübt über das Wort und ging traurig davon; denn er hatte viele Güter. 23 Und Jesus sah um sich und sprach zu seinen Jüngern: Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen! 24 Die Jünger aber entsetzten sich über seine Worte. Aber Jesus antwortete wiederum und sprach zu ihnen: Liebe Kinder, wie schwer ist’s, ins Reich Gottes zu kommen! 25 Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme. 26 Sie entsetzten sich aber noch viel mehr und sprachen untereinander: Wer kann dann selig werden? 27 Jesus sah sie an und sprach: Bei den Menschen ist’s unmöglich, aber nicht bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott.

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

„Transformationen“ haben Sie, liebe Gisela Floto, die Ausstellung Ihrer Bilder genannt, die bis Mitte November in unserer Kirche zu sehen ist.

„Transformationen“ – weil es eben nicht einfach Fotos sind, die wir sehen, sondern Bilder, die transformierende Prozesse durchlaufen haben. Durch Faktoren wie hinzugefügte Pflanzen, wie Wärme, Licht, Wasser oder den Faktor Zeit. Sie haben je für sich auf das ursprüngliche Foto eingewirkt und auch in ihren Verbindungen Prozesse, Reaktionen und Veränderungen bewirkt. An dem Ende, das Sie diesem Prozess als Künstlerin gesetzt haben, ist ein vollkommen neues Bild entstanden, das mit dem ursprünglichen Foto oft nur noch wenig zu tun hat.

Den Prozess der Transformation sehen wir nicht. Wir sehen Ergebnisse: Farben, Formen, Risse, Leerstellen, die entstanden ist. Und die in uns neue Bilder in Gang setzen können: Assoziationen, Gefühle, Einfälle… Wie eine nächste Stufe kreativer Entwicklung und Verarbeitung der Kunstwerke in uns.

„Transformation“ – das ist ein zentrales Wort unserer Zeit, das es bei vielen von uns klingeln lässt. Transformationen in gesellschaftlicher, in technologischer, in ökologischer Hinsicht… Wir stecken mittendrin in diversen Transformationsprozessen, ob wir wollen oder nicht, und können oft nur schwer erkennen, welche Faktoren da auf uns einwirken, wie sie zusammenwirken, ob und was sie blockieren oder beschleunigen, welche Resultate sie erzeugen…

Ich denke zum Beispiel an die Digitalisierung, die auf fast alle unsere Lebensbereiche einwirkt: die durch Digitalisierung geprägten Arbeitsplätze und neuen Berufsbilder, das mobile Arbeiten – und die dadurch veränderten sozialen Beziehungen zu Kolleginnen oder Teams, die neuen Anforderungen an den privaten Wohnraum, an Büros und Arbeitsplätze, die gesundheitlichen Konsequenzen, die Fragen von Medienerziehung und -konsum… Aber auch die durch digitale Transformation veränderte Kulturszene oder das Einkaufsverhalten… So viele umfassende, tiefgreifende Veränderungen!

Und für uns ist nicht immer – oder sogar eher selten! – auszumachen, wo wir eigentlich selbst in diesem Prozess stehen. Empfinden wir, bildlich gesprochen, Hitze und Druck oder Abwechslung und kreativen Freiraum? Sehen wir uns selbst eher als das ursprüngliche Foto, dem etwas unbekanntes Neues hinzugefügt wird, oder als eine lebendige Pflanze, ein Farbtropfen, der der alten, trägen Masse injiziert wird? Sind wir eher das Fotopapier oder der Lichtstrahl?

Und welche Möglichkeiten haben wir, den unabsehbaren Prozess der Digitalisierung selbst mitzugestalten – oder uns zumindest als Einzelne, als Familien, als Gruppen einigermaßen bewusst darin zu verhalten?

Ganz anders wird „Transformation“ zur Zeit in psychologischer, spiritueller oder philosophischer Hinsicht verstanden. Der Begriff taucht auf vielen Internetseiten, in Artikeln, Büchern und Vorträgen auf, wenn es darum geht, sich selbst zu verändern: Blockaden zu lösen, Entwicklungsschritte zu gehen, gesünder, liebevoller, gelassener, erlöster zu werden.

Für mich als Pastorin, spirituell, pädagogisch, psychologisch geschult, ist es manchmal erstaunlich, welches Zutrauen dabei in Übungen, Regeln und schematische Stufen gesetzt wird. Welches Selbstvertrauen es anscheinend im Blick darauf gibt, dass ich mich, mein Äußeres, mein Befinden, meine Gefühle, meine Partnerschaft wie auch mein Seelenleben selbst bewusst auf ein bestimmtes Ziel hin transformieren kann.

Sicher gibt es sinnvolle ethische Regeln, gesundheitsförderliche Lebensweisen, heilsame Rituale, therapeutische Möglichkeiten – aber ob das alles in unserer eigenen Hand liegt? Ob wir uns selbst innerlich dahin entwickeln können, wo wir hinmöchten, uns selbst erlösen können?

Mit Überraschung habe ich bei der Vorbereitung des heutigen Gottesdienstes, für den die Ausstellungseröffnung geplant war, gesehen, welche biblischen Texte diesem Sonntag zugeordnet sind: unter anderem aus dem Alten Testament die Zehn Gebote und aus den Evangelien die Geschichte vom reichen jungen Mann.

Der sich ja, so könnte man sagen, eine „Transformation“ seines eigenen Lebens wünscht. Er läuft zu Jesus, kniet sich vor ihm hin und fragt: „Guter Meister, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben bekomme?“ (Mk 10, 17)

Was mag er wohl mit dem Ausdruck „ewiges Leben“ gemeint haben? Was verstehen wir darunter?

„Ewiges Leben“ – das heißt vielleicht, dass mit dem Tod nicht alles vorbei ist. Dass etwas von mir und meinem Leben bleiben wird, obwohl ich einmal sterben muss. Dass ich bei Gott sein werde, „im Himmel“, wie wir sagen, und nicht ins Nichts falle und verloren gehe.

Vielleicht ist „ewiges Leben“ auch auf das Diesseits, auf mein Leben jetzt zu beziehen: dass ich schon in diesem Leben, in dieser begrenzten, irdischen Zeit in Kontakt mit Gottes ewiger, jenseitiger Zeit komme. Dass es Momente gibt, in denen ich schon jetzt Gottes Ewigkeit und Allgegenwart glauben oder spüren kann.

In dem Gespräch mit dem reichen Mann will Jesus sich eigentlich nicht auf diese Frage einlassen, wie der denn das „ewige Leben“ bekommen könne. Er lenkt ab, weist zunächst den Ehrentitel „guter Meister“ ab, mit dem er angesprochen wurde. Führt aus, dass allein Gott vollkommen „gut“ sei. So, als wolle Jesus sich nicht festlegen lassen, wie man denn „ewiges Leben“ oder Gottesnähe selbst herstellen oder haben kann.

Aber der Mann lässt nicht locker: „Alle guten Gebote habe ich von Jugend an gehalten.“ (Mk 10, 20) Erst da sieht Jesus ihn an und „gewinnt ihn lieb“, so wird es erzählt. Er spürt, dass es dem anderen ernst ist, dass der wirklich etwas für sich und seinen Lebensweg wissen will.

Jesus antwortet, wie so oft, überraschend: „Eins fehlt dir“, sagt er zu ihm. „Geh hin, verkauf alles, was du hast, und gib‘s den Armen. Dann wirst du einen Schatz im Himmel haben. Komm mit mir!“ (Mk 10, 21)

„Verkaufe, was du hast, verschenke es, gib es den Armen…“ – das ist die Aufforderung zum radikalen Besitzverzicht. Für Jesus neben dem Gewaltverzicht eine wesentliche Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu seiner Gruppe.

Wir, die wir heute hier zusammen sind, die wir uns auch als Teil dieser Gemeinschaft verstehen, wissen sofort, wie schwer das ist: auf unseren Besitz, unser Geld, unsere Konten und Kreditkarten zu verzichten. Immerhin, die meisten von uns geben etwas von ihrem Besitz ab, teilen mit anderen, schenken etwas an Ärmere – so wie zum Beispiel letzten Sonntag beim Erntedankfest.

Aber dieser radikale Aufruf, alles zu verkaufen oder zu verschenken, was wir haben – der fällt nur ganz selten in offene Ohren, wird nur von ganz wenigen Menschen so radikal umgesetzt. Es ist schwer loszulassen, was wir brauchen, was uns Sicherheit und Zufriedenheit schenkt, woran wir gewöhnt sind, was wir als einen Teil unserer eigenen Identität begreifen…

„Wo dein Schatz ist, da ist dein Herz“ (Matth 6, 21), sagt Jesus in einem anderen Zusammenhang. Und Luther hat zugespitzt formuliert: „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott.“ Diese Sätze legen – so empfinde ich es – den Finger in die Wunde, auf die empfindliche Stelle in uns, wo sich unsere Sehnsucht nach Gottes Nähe und unser Verhaftetsein in diesem, unserem Leben kreuzen. Wo Vertrauen, Liebe, Gelassenheit, Glück, vielleicht so etwas wie „das ewige Leben“, uns locken – und wir zugleich in unseren Ängsten, unserm Zögern, unserer Gier oder Bequemlichkeit wie in einem Sumpf stecken.

Innere Transformation gelingt schwer. Davon erzählt die Bibel ziemlich realistisch. Davon, wie wir uns selbst im Weg stehen in unserer Beziehung zu Gott, zu unseren Mitmenschen und uns selbst. Was es erschwert oder verhindert, dass wir aus uns selbst heraus, von ganz allein erlöst und „selig“ werden.

„Bei den Menschen ist‘s unmöglich, aber nicht bei Gott“, sagt Jesus am Schluss der Geschichte. „Denn alle Dinge sind möglich bei Gott.“ (Mk 10, 27) Und deutet damit eine Transformation an, in der Gott und Mensch zusammenspielen oder zusammenwirken. Prozesse, in denen Gottes Heiliger Geist oder Kraft oder Wärme oder Wahrheit mit uns reagieren, mit unserer Sehnsucht und Liebe, mit unserer Härte oder Enge. Und Gott in uns – als seinen Kunstwerken und Geschöpfen – Entwicklungen und Veränderungen, Farben und Formen bewirken kann, die wir selbst nicht vorhersehen, geschweige denn allein steuern können.

„Offene Kunstwerke“ sind in diesem Sinn nicht nur die Bilder, die jetzt in unserer Kirche ausgestellt sind, sondern auch wir selbst. In äußeren gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, aber auch – wenn wir uns darauf einlassen – in inneren Transformationsprozessen begriffen, in denen Gott als kreativer Künstler und wir als seine Kunstwerke „art in progress“ sind.

So berühre uns Gott auf die vielen Weisen, in denen er schaffen, sprechen, anstoßen, verändern und wirken kann. Und wir mögen uns berühren lassen und offen sein für die vielen Veränderungen, in denen wir stehen und in denen wir – so Gott will – immer wieder auch Gottes Zeit und Gegenwart erfahren. Amen.

Begrüßung & Einleitung

Herzlich willkommen zum dritten und letzten Literaturgottesdienst in unserer Septemberreihe zu Kinderbüchern. Nach Michael Endes „Unendlicher Geschichte“, die in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts Furore machte, und nach „Rico, Oskar und den Tieferschatten“ von Andreas Steinhöfel, einem zeitgenössischen Kinderbuch-Beststeller, geht es heute um das „Doppelte Lottchen“ von Erich Kästner, erschienen 1949.

Dieses Buch wird seit bald 75 Jahren in der immer gleichen Aufmachung im Dressler-Verlag aufgelegt: Das Cover zeigt eh und je zwei blonde Mädchen Hand in Hand in weißen Blusen und roten Röcken auf einer grünen Wiese, im Hintergrund ein bayerisches Dorf mit Bergsee. Auch der Text ist natürlich unverändert – und mutet heute etwas altbacken an. Das merkt man nachher, wenn Johanna von Hammerstein als Lektorin einige Passagen für uns vorliest.

Neben dieser statisch anmutenden Buchgeschichte des „Doppelten Lottchens“, hat der Erzählstoff aber noch andere interessante Geschichten entfaltet:

Erich Kästner, geboren 1899 in Dresden, begann seine publizistische Karriere in der Weimarer Republik mit gesellschaftskritischen und antimilitaristischen Gedichten, Glossen und Essays. Er arbeitete auch als Drehbuchautor und Kabarettdichter. Als einer der ganz wenigen prominenten intellektuellen Gegner des Nationalsozialismus blieb er in Deutschland, obwohl seine Werke 1933 als „undeutsch“ diffamiert, verboten und verbrannt wurden.

Trotz Repressionen durfte Kästner unter Pseudonym im Nationalsozialismus weiter veröffentlichen. Er schrieb Drehbücher für einige Unterhaltungsfilme und hatte auch Einkünfte aus der Veröffentlichung seiner Werke im Ausland.

In dieser Phase schrieb er 1942 einen Drehbuchentwurf mit dem Titel „Das große Geheimnis“, in dem die Geschichte vom „Doppelten Lottchen“ angelegt ist. Im Nationalsozialismus war das Projekt wegen der darin geschilderten „undeutschen“ Familienverhältnisse nicht zu realisieren. Nach 1945 arbeitete Kästner den Stoff dann zu dem Roman „Das doppelte Lottchen aus“.

Schon bald wurde die Geschichte dennoch verfilmt. Zu Weihnachten 1950 erschien der erste Film, für den Kästner selbst das Drehbuch schrieb und die Rolle des Erzählers übernahm. Seither hat es mindestens 15 Neuverfilmungen gegeben, oft unter anderen Titeln, zum Beispiel: „Die Vermählung ihrer Eltern geben bekannt“, „Ein Zwilling kommt selten allein“ oder „Charlie & Louise“…

Der Plot – die Geschichte von Zwillingen, die getrennt werden und sich wiederfinden, von Eltern, die sich scheiden lassen, wegen ihrer gemeinsamen Kinder aber doch irgendwie kooperieren müssen, von Sehnsucht nach Freundschaft, Versöhnung und Familienfrieden – der bleibt anscheinend aktuell. Ganz egal, in welchen Städten, mit welchen Eltern, zu welchen Zeiten Kinder aufwachsen.

 

1. Lesung „Das doppelte Lottchen“, S. 8-10. 18-19

Lied: Wenn einer sagt, ich mag dich, du (Kindermutmachlied)

Predigtimpuls

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

„Wenn einer sagt: Ich mag dich, du…
Wenn eine sagt: Ich brauch dich, du…
Wenn eine sagt: Komm, geh mit mir…“

Wenn man das hört, dann könnte man spontan denken, man hat es mit Erich Kästner zu tun. Dessen Kinderbücher „Emil und die Detektive“, „Pünktchen und Anton“ oder „Das fliegende Klassenzimmer“ davon geprägt sind, dass Kinder zusammenhalten, einander ermutigen und helfen – und zwar meistens gegen Erwachsene.

Auch in den Eingangsszenen des „Doppelten Lottchens“ taucht dieses Motiv auf: Eine Gruppe von Mädchen – „Luise, Trude, Brigitte und die anderen Kinder“ (S. 8) – erwartet die Neuankömmlinge im Ferienlager. Luise ist schon Teil dieser Gemeinschaft – Lotte, die erst später dazukommt und außerdem viel zurückhaltender ist als ihre Schwester, noch nicht. Im Laufe der Geschichte wird auch sie in die quirlige, phantasievolle, abenteuerlustige Mädchengruppe integriert. Aber dann wird auch schon das Verwechselspiel der beiden eineiigen Zwillinge im Gange sein und beide Mädchen vollauf beschäftigen.

Bei ihrem ersten bewussten Aufeinandertreffen sind die Zwillingsschwestern, die kurz nach ihrer Geburt getrennt wurden, entsetzt: Da gibt es eine Doppelgängerin! Luise rennt erschrocken davon – Lotte geht still verwundert ihrer Wege.

Vollkommen zu Recht sind sie erschrocken, entsetzt, ins Mark getroffen. Wer möchte schon einer Kopie von sich selbst begegnen? Die eigene Identität, um die wir als Kinder wie als Erwachsene ringen, steht in Gefahr.

Noch am gleichen Abend entsteht jedoch ein zartes Band zwischen Luise und Lotte. Gesponnen aus Mitleid und Einfühlungsvermögen. „Schüchtern“, heißt es, streichelt Luise der ihr unbekannten Zwillingsschwester übers Haar. „Ganz langsam“ tastet Lotte im Dunkeln nach der streichelnden Hand (S. 19). Zwei Mädchen nehmen Kontakt auf, trösten einander und fassen Zuneigung.

Was bei Kästner sozusagen der Normalfall ist, der erzählte Idealfall, das ist in der Realität oft komplizierter und schwieriger. Vielleicht gerade bei Geschwistern, jedenfalls bei solchen, die sich kennen und zusammen aufwachsen. Die tagtäglich um Mama und Papa, um Zuwendung, Abgrenzung und Individualität kämpfen, die gemessen und verglichen werden.

Die Bibel erzählt im Blick auf Geschwister härtere Geschichten. Angefangen bei den ersten Brüdern Kain und Abel über Josef und seine Brüder bis hin zu den Zwillingen Esau und Jakob, bei denen der Zweite mit List und Tücke, mit kräftiger Unterstützung seiner Mutter und anscheinend mit Gottes Zustimmung dem Erstgeborenen den Segen stiehlt und den Rang abläuft.

Ein bekanntes biblisches Schwesternpaar sind Maria und Martha (vgl. Lk 10, 38-42). Als Jesus sie besucht und bei ihnen mit seinen Jüngern einkehrt, kümmert Martha sich sofort um alle praktischen Gebote der Gastfreundschaft und verschwindet in der Küche – das wäre in unserem Buch wohl Lottes Rolle, die des „Hausmütterchens“ (S. 18). Maria hingegen setzt sich selbstbewusst zu Jesus, hört ihm zu und nimmt am Gespräch teil. Jesus urteilt: „Maria hat das bessere Teil gewählt.“

Wie ein Keil kann diese Geschichte zwischen Schwestern oder Frauen liegen, die unterschiedliche Charaktere haben, unterschiedliche Berufe ergreifen oder in verschiedenen Milieus leben.

Luise und Lotte dagegen nähern sich in der Dunkelheit der Nacht an. Die mutigere Luise tröstet die eingeschüchterte, einsame Lotte. Daraus erwächst eine innige und auch gleichberechtigte Beziehung, die beide Mädchen ausgeglichener und auch stärker werden lässt: Luise gewinnt an Einfühlungsvermögen und Disziplin, Lotte an Mut und Neugier. Zusammen sind die unterschiedlichen Schwestern stark!

 

2. Lesung „Das doppelte Lottchen“, S. 60-63. 125-127

Lied: Fürchte dich nicht EG 607

Predigtimpuls

Als eine zweite Perspektive blickt Erich Kästner nach den Kindern auf die beteiligten Erwachsenen. Sie spielen bei ihm eigentlich immer die zweite Geige. Sie treten nicht nur seltener auf und bekommen weniger Raum, sie werden auch distanzierter betrachtet. Während Kästner sich in seine Kinderfiguren leicht hineinversetzt und sie so schildert, als wäre er selbst dabei, stellt er die Erwachsenen oft aus der Distanz und mit dem Blick von Erwachsenen dar, urteilend und wertend.

Da geht es dann, wie beim Vater der doppelten Lottchen, um Aussehen und Ansehen, um ein kompliziertes Innenleben und um solche hochgeschraubten Ansprüche an Selbstverwirklichung, dass man kichern könnte…

Luises und Lottes Mutter hingegen gewinnt Kontur im Gespräch mit der Lehrerin Fräulein Linnekogel. Die ältere, alleinstehende, berufstätige Frau kennt sich im Leben deutlich besser aus als die junge, gestresste Mutter. Für die Entstehungs- bzw. Veröffentlichungszeit des Buches zwischen Nationalsozialismus und Adenauer-Ära geradezu revolutionär sagt sie: „Die Frauen, die wirklichen“ – ein ironischer Seitenhieb auf das Frauenbild der Zeit – „nehmen ihre Männer zu wichtig! Dabei ist nur eines wesentlich: das Glück der Kinder!“ (S. 126)

Kästner wuchs selbst als Einzelkind berufstätiger Eltern auf. Zu seiner Mutter hatte er zeitlebens eine intensive, enge Bindung. Sie arbeitete als Dienstmädchen und Heimarbeiterin und wurde später Friseurin. In vielen Kinderbüchern ergreift er Partei für die Mütter. Für die schwer arbeitenden Frauen, die sich für das Wohlergehen ihrer Kinder krummlegen.

Kästner ist offen parteiisch. Das mag einem missfallen. Aber Fakt ist: auch heute sind etwa 85% der Alleinerziehenden in Deutschland Frauen. Fast 60% der Mütter verdienen weniger als 1.500 Euro monatlich, während nur etwa 15% der Väter in diese Einkommensklasse fallen. Kinder bedeuten für viele Frauen ein Armutsrisiko.

Auch wenn es in der biblischen Tradition nicht um Kinder im Sinne von Familie, Elternrollen oder Kindheit geht, weil es ein besonderes Verständnis von „Kindheit“ noch gar nicht gab, kennt die Bibel aber die Sorge und Liebe von Müttern und Vätern zu ihren Kindern. Sie schildert übrigens auch die Not von Müttern, die unehelich oder unversorgt ein Kind bekommen, siehe Hagar und ihren Sohn Ismael.

Ich denke bei den Müttern, die Kästner schildert, an die Geschichte eines Vaters, eines Synagogenvorstehers mit Namen Jairus, der Jesus so lange hinterläuft, bis der ihm endlich zuhört und ihm nach Hause folgt, wo die Tochter todkrank zu Bett liegt. „Mädchen, steh auf!“ sagt Jesus, heilt das Kind und erlöst die Eltern von ihrer größten Angst (vgl. Mk 5, 21-43).

Nicht zufällig beschreibt Jesus Gott als einen Vater, der seine Kinder so sehr liebt und so gut kennt, dass er ihnen alles gibt, was sie brauchen. „Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, noch bevor ihr ihn bittet“, sagt er (vgl. Matth 6, 8).

Nur dass nach Kästners Einschätzung Gott wohl eher mit einer Mutter zu vergleichen wäre…

 

3. Lesung „Das doppelte Lottchen“, S. 150-152

Lied: Gott gab uns Atem EG 432

Predigtimpuls

Die letzte Szene: der Blick durchs Schlüsselloch.

Lotte und Luise ist es gelungen, ihre Eltern zu ihrem Geburtstag am 14. Oktober zusammenzubringen. Die Scheidungsfamilie sitzt im Kinderzimmer, es gab ein Geburtstagslied, Kuchen und Kerzen. Geschenke haben die Zwillinge abgelehnt. Denn sie haben nur einen Wunsch: „dass wir von jetzt ab immer zusammenbleiben dürfen!“ (S. 150)

Die Sehnsucht der Mädchen nach ihrem Geschwisterkind. Nicht mehr Einzelkind zu sein, sondern eine Schwester zu haben. Verlässliche Beziehungen herzustellen, Zusammenleben, alltägliche Nähe.

Damit so etwas in Scheidungs- oder Patchworkfamilien gelingt, braucht es zwei vernünftige und liebevolle Elternteile. Zwei oder ggf. mehr Erwachsene, die bereit und fähig sind, ihren Kindern zuliebe einen Familienfrieden herzustellen. Sie müssen dazu nicht wieder ein Paar werden – so sehr das oft der Wunsch der Kinder ist. Aber sie müssen sich gegenseitig als Mutter, als Vater respektieren, Absprachen im Blick auf die Kinder aushandeln, Erziehungs- und Aufenthaltsregeln einhalten. Das fällt oft schwer! Aber wenn es nicht gelingt, leiden die Kinder darunter am meisten…

„Daumen halten“, flüstert Luise. Und Lotte fängt an zu beten (S. 152). Sie stehen vor der geschlossenen Tür; nebenan reden die Eltern. Sie hoffen, sie wünschen und sehnen sich mit aller Kraft. Aber für den nächsten Schritt, für einen Familienfrieden, die Erlösung der Mädchen braucht es die Erwachsenen.

Luise und Lotte betend an der verschlossenen Tür – das erinnert mich an Noah und seine Frau, seine Söhne und deren Familien in der Arche (vgl. 1. Mose 6-9). Die mit Pech verschlossen auf den Wassern der großen Flut dahintreibt. Niemand weiß, ob und wann man jemals wieder sicheres Land betreten, festen Boden unter die Füße bekommen wird.

Anders als von Jona, der im dunklen Walfischbauch um Errettung betet, wissen wir nicht, ob Noah mit seiner Familie in der Arche gebetet hat. Ob sie Worte fanden, um ihrer Not Ausdruck zu geben? Ob sie sich überhaupt an Gott wenden mochten, sich von ihm Hilfe versprachen? Worauf ihre Sorgen und Wünsche wohl gerichtet waren?

Auch Luise und Lotte sind nicht im Beten geübt. Soll ihnen alles gesegnet sein, was die Erwachsenen ihnen beschert und aufgetischt haben? Sollen sie brav und widerspruchslos, wie ein Gottesurteil, annehmen, was die Erwachsenen entscheiden?

Sicher ist, sie werden – wie Noah – jubeln, wenn ihnen ihr sehnlichster Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben gewährt wird. Wenn es neues Leben für ihre schwierige Familie gibt, Perspektiven und Zukunft. Ob mit oder ohne Regenbogen.

„Es passt nicht“, stellt Luise entmutigt zu ihren Gebetsversuchen fest. „Aber mir fällt nichts anderes ein.“ (S. 152)

So kann es auch uns manchmal gehen: Dass wir nicht sicher sind, wie wir zu Gott sprechen und beten sollen… Welche Gebete wohl überhaupt erhört werden?! Oder dass wir nicht genau wissen, wie wir mit denen sprechen sollen, mit denen wir zerstritten sind, zwischen denen und uns Schweigen liegt.

Aber das Miteinander-Reden und Zu-Gott-Beten ist, denke ich, an sich wie ein Blick durchs Schlüsselloch. Ein Moment, wo es einen Ausblick, einen Lichtblick gibt – aus der Geschlossenheit des Kastens heraus, sei es die Arche Noah oder ein Kinderzimmer, seien es zerrüttete Beziehungen, Einsamkeit oder Streit.

Ein Blick in die Freiheit, in ein neues friedliches Leben. In der die Kleinen und Schwachen und vor allem die Kinder zu ihrem Recht kommen.

In diesem Sinne ist „Das doppelte Lottchen“ eine Geschichte, die mich immer wieder berührt, weil sie von der Sehnsucht, dem dringenden Wunsch erzählt zusammenzugehören. Schwierigkeiten, Streit und Trennung zu überwinden, vielleicht gerade in der Familie. Und sie erzählt auch davon, dass Kinder dabei überhaupt nicht machtlos sind! Amen.

Lesungen aus Rico, Oskar und die Tieferschatten

„Ich sollte an dieser Stelle wohl erklären, dass ich Rico heiße und ein tiefbegabtes Kind bin. Das bedeutet, ich kann zwar sehr viel denken, aber das dauert meistens etwas länger als bei anderen Leuten. An meinem Gehirn liegt es nicht, das ist ganz normal groß. Aber manchmal fallen ein paar Sachen raus, und leider weiß ich vorher nie, an welcher Stelle. Außerdem kann ich mich nicht immer gut konzentrieren, wenn ich etwas erzähle. Meistens verliere ich dann den roten Faden, jedenfalls glaube ich, dass er rot ist, er könnte auch grün oder blau sein, und genau das ist das Problem. In meinem Kopf geht es manchmal so durcheinander wie in einer Bingotrommel.“

Der elfjährige Rico, der eigentlich Frederiko Doretti heißt und von seiner Mutter allein erzogen wird, wohnt in Berlin in der Dieffenbachstraße, der Dieffe 93. Dort trifft er eines Tages auf einen anderen Jungen:

„Ich hob den Kopf. Der Junge, der da vor mir stand, reichte mir gerade so an die Brust. Das heißt, sein dunkelblauer Sturzhelm reichte mir bis an die Brust. Es war ein Sturzhelm, wie ihn Motorradfahrer tragen. (…) Es sah total beknackt aus.“

Kaum haben die beiden ein paar Sätze miteinander gesprochen, sagt dieser Junge:

„Kann es sein, dass du ein bisschen doof bist?“
Also echt!
„Ich bin ein tiefbegabtes Kind.“
„Tatsache?“ Jetzt sah er wirklich interessiert aus. „Ich bin hochbegabt.“
Nun war auch ich interessiert. Obwohl der Junge viel kleiner war als ich, kam er mir plötzlich viel größer vor. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Wir guckten uns so lange an, dass ich dachte, wir stehen hier noch, wenn die Sonne untergeht.
Ich hatte noch nie ein hochbegabtes Kind gesehen, außer mal im Fernsehn bei Wetten, dass Da war mal ein Mädchen gewesen, das spielte wie eine Bekloppte irgendetwas total Schwieriges auf einer Geige.“ (….)
„Ich muss jetzt weiter, sagte ich endlich zu dem Jungen. „Bevor es dunkel wird. Sonst verlaufe ich mich womöglich.“ (…)
„Du bist wirklich doof, oder? Wenn man etwas direkt vor Augen hat und nur geradeausgehen muss, kann man sich unmöglich verlaufen.“ (…)
„Ach ja, ICH kann das. Und wenn du wirklich so schlau wärst wie du behauptest, wüsstest du, dass es Leute gibt, die das können.“
„Ich…“
„und ich sag dir noch was: Es ist kein bisschen witzig!“
Alle Bingokugeln waren auf einmal rot und klackerten durcheinander.
„Ich hab mir nicht ausgesucht, dass aus meinem Gehirn manchmal was rausfällt! Ich bin nicht freiwillig dumm oder weil ich nicht lerne!“
„He, ich …“
„Aber du bist ja wohl eins von den Superhirnen, die alles wissen und dauernd mit irgendwas angeben müssen, weil sich nämlich sonst keiner für sie interessiert, außer wenn sie im Fernsehn Geige spielen.“
Es ist total peinlich, aber wenn ich mich heftig über etwas aufrege, zum Beispiel Ungerechtigkeit, fang ich an zu heulen. Ich kann überhaupt nichts dagegen machen. (…)
Jetzt sagte der Junge gar nichts mehr. Er guckte runter auf seine Sandalen. Dann guckte er wieder hoch. Seine Lippen waren ganz schmal geworden. Er streckte eine Hand aus. Sie war so klein, dass die doppelt in meine passte.
„Ich heißte Oskar und ich möchte mich aufrichtig bei dir entschuldigen. Ich hätte mich nicht über dich lustig machen dürfen. Das war arrogant.“
Ich hatte keine Ahnung, was er mit dem letzten Wort meinte, aber die Entschuldigung hatte ich verstanden.

Rico wird von anderen Kindern – und auch Erwachsenen – gemobbt, weil er tiefbegabt ist, Oskar, weil er diesen Helm trägt. Auch Ricos Mutter starrt ihn an, als sie ihn das erste Mal sieht.

„Sie mag dich“ sagte ich.
Er schüttelte den Kopf. „Sie weiß noch nicht, ob sie mich mag. Sie findet mich komisch wegen des Helms.“ Er klappte das Visier runter. Seine Stimme klang jetzt wieder ganz dröhnig. „Jedes Jahr verunglücken fast vierzigtausend Kinder in Deutschland. (…) Die meisten erwischt es auf dem Schulweg oder nachmittags beim Spielen.“ murmelte Oskar düster weiter. (…) „Von den Fußgängern meistens, weil sie ohne zu gucken über die Straße gehen. Ich gucke immer. Immer!“
Mit fiel der Unterschied zwischen uns auf: Ich habe fast dauernd gute Laune. Weiß aber nicht so viel. Oskar wusste jede Menge merkwürdiger Dinge, aber seine Laune war dafür im Keller. Bestimmt war das so, wenn man sehr schlau ist – es fallen einem zum allen schönen Sachen auch gleich noch ein paar schreckliche ein.

Predigt:

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Er segne unser Reden und Hören. Amen.

Amen – dieses Wort würde sicher auch ein Kästchen in Ricos Privatwörterbuch bekommen. Vielleicht würde er schreiben:

Amen
Das sagt man zum Schluss. Aber manchmal (wie jetzt) geht auch eine Rede damit los, was schon mal total unlogisch ist.
Amen ist so, wie wenn in den Indianergeschichten – die man nicht mehr so nennen soll – der Häuptling – den man nicht mehr so nennen soll – sagt: Howgh ich habe gesprochen.

Sie merken, wie kompliziert das alles ist und wie schwierig zu be-sprechen. Vielleicht klackern da auch bei Ihnen im Hirn ein bisschen die Bingokugeln und Sie können sich etwas in Rico einfühlen. Überhaupt ist „Rico, Oskar und die Tiefer­schatten“ eine Einfühl-Geschichte mit unglaublich vielen Schattierungen.

Der Autor Andreas Steinhöfel nimmt uns mit in ein ganz spezielles Berliner „Miljöh“, das er unglaublich einfühlsam be­schreibt. Als Leserin laufe ich durch dieses Mietshaus in der Dieffenbachstraße, rieche den Mief aus Bohner­wachs­gestank und Bratendüften im Treppenhaus und höre die Geräusche hinter den Türen: überlaute Fernsehapparate, das Kreischen von Kindern, das Schlurfen von alten Männern. Und ich lerne die Bewohner:innen des Hauses kennen:

Den alten Fitzke aus dem vierten Stock, den Sicherheits­manager Marrak mit seinem fetten Schlüsselbund aus dem fünften, die Nachbarin, deren Gefühle im Rollstuhl sitzen, seit ihr Mann ihr abhandengekommen ist, und die gerne den tiefbe­gabten Rico verwöhnt – und zwar pädagogisch völlig un-wert­voll. Und natürlich Ricos alleinerziehende Mutter – Geschäfts­führerin in einem Nacht­club, die gerne Marienkäfer auf den Finger­nägeln trägt und so enge Jeans, dass man sie beinahe heraus­schneiden muss.

Vordergründig ist das Buch erstmal einfach ein Kinderkrimi, eine Hauptstadt-Detektivgeschichte. Denn Mister 2000 treibt als Kinderentführer sein Unwesen. Die Besonderheit an ihm ist, dass er einen Sonderpreis macht, weshalb er auch der ALDI-Entführer genannt wird. Er ver­schleppt nicht den Nachwuchs der Reichen oder Prominenten, sondern einfach beliebige Kinder von der Straße und verlangt „nur“ 2000 €. Denn bei dieser „lächerlichen“ Summe schalten die Eltern die Polizei gar nicht erst ein, sondern zahlen einfach. Rico hat schon ange­fangen zu sparen, damit seine Mutter, die ständig knapp bei Kasse ist, das Geld auch hat, falls es ihn erwischt.

Insofern ist es nicht erstaunlich, dass man in dem Buch eine späte Nachfolge von Kästners „Emil und die Detektive“ gesehen hat. Und es ist sicher kein Zufall, dass Steinhöfel dem schlauen Emil seinen tiefbegabten Rico gegenübergestellt hat und damit in Frage stellt, wie wir Begabungen bewerten. Die alleiner­ziehen­de Mutter ist so auch ziemlich die einzige Gemein­samkeit, die Emil und Rico haben. Wobei Ricos Mutter nicht als züchtige Friseurin, sondern eben nachts in einer Bar arbeitet und ihren Busen als ihr Betriebskapitel bezeichnet. Und – sie ist eine tolle Mutter, auch wenn sie Rico kein Biogemüse, sondern Fischstäbchen kocht – und schon wieder werden unsere Bewertungen in Frage gestellt, diesmal unsere Vorstellungen von „richtiger Erziehung“.

Erziehungsfragen waren für den Autor nach eigener Aussage ein entscheidender Antrieb, diese Geschichte zu erzählen, nämlich – Zitat – „aus Wut über Eltern, die ihren Kindern eine Höllenangst vor der Welt einimpfen. (….) Die Kinder werden überallhin gefahren, man sieht sie nicht mehr alleine im Wald spielen, ihr Bewegungsradius ist extrem eingeschränkt. (…) Sie lernen nicht hinfallen und wieder aufstehen. Das ist traurig.“ So Steinhöfel.

Symbol für diese „Höllenangst“ ist der Sturzhelm, den Oskar trägt, um sich vor den Gefahren der Welt zu schützen. Und der ihn doch nicht davor rettet, in die Hände von Mister X zu fallen.

Ja, es ist nicht nur ein Buch über vorhandene oder fehlende Begabungen, sondern auch über Angst und Ängste. Hinter dem Mietshaus, in dem Rico – von seiner Mutter oft sich selbst überlassen – vertrauensselig herumwandert, hinter diesem Mietshaus liegt das Hinterhaus. Nach einer Gasexplosion ist es einsturzgefährdet und deswegen unbewohnt. Nachts, wenn Ricos Mutter zur Arbeit geht und er alleine in der Wohnung ist, wird es zur Projektionsfläche für seine Ängste:

„Ich muss da einfach immer rübergucken. Ich hab schon oft überlegt, Mama darum zu bitten, Gardinen aufzuhängen oder ein Rollo. (…) Manchmal glaube ich, hinter den Schatten in der (…) Wohnung noch tiefere Schatten zu sehen, die durch die leeren Zimmer huschen. Ich weiß zwar, dass ich mir diese Tieferschatten nur einbilde, aber das macht die Sache nicht leichter. (…) Deshalb ziehe ich mir vor dem Einschlafen meistens die Decke über den Kopf.“

Spätestens hier kann ich mich wirklich gut in Rico einfühlen. Wer kennt das nicht, dass man vor manchen Dingen, die uns Angst machen, gerne die sprichwörtliche Decke über dem Kopf ziehen würde. Wer kennt nicht diese huschenden, schwer zu greifenden Tieferschatten im Hinterhaus unseres Lebens, von denen wir genau wissen, dass weder Rollo, noch Gardine, noch Bettdecke uns davor schützen und auch nicht das Wissen, dass sie eingebildet sind. Ich glaube jeder Mensch hat seine Tiefer­schatten – was für eine wundervolle Wortschöpfung! – jeder Mensch hat seine Tieferschatten in den einsturzgefährdeten Bereichen des Lebens.

Es ist das Schöne, das Heilsame eines Kinderbuches, dass wir an die Hand genommen werden – in diesem Fall von einem angeblich tiefbegabten Kind, das uns vormacht, wie man sich diesen Schatten stellt. Rico muss dafür natürlich unter seiner Bettdecke vorkriechen. Er tut das, er kann das – weil er seinen Freund retten will. Und um die Schatten endgültig ins Licht zu zerren, braucht er wiederum seinen schlauen Freund, der ihm erklärt, wie man den komplizierten Mechanismus des Lichtschalters anknipst.

Jeder und jede von uns muss sich den je eigenen Schatten selbst stellen, muss alleine losgehen und ist doch angewiesen auf andere. Wir brauchen Menschen, die uns ergänzen, und wir brauchen die Zuwendung zu anderen, um den Mut aufzu­bringen, in die dunklen Ecken zu gucken.

In Bibel wird genau das immer wieder beschrieben: In den alten Geschichten von Menschen, die sich in Freundschaft ver­bunden sind und die einander brauchen, wie z.B. David und Jonathan. Oder in den Briefen des Neuen Testaments, die uns klar machen, dass wir mit unseren unterschiedlichen Bega­bungen aneinander verwiesen sind. Oder einfach in dem kurzen Satz: Fürchte dich nicht!, der in der Bibel angeblich genau 365 Mal vorkommen soll, also sozusagen für jeden tag des Jahres einmal. Ich habe es ehrlich gesagt nicht nach­gezählt.

Es sind die Kernbotschaften unseres Glaubens: Die Angst soll nicht unser Leben bestimmen. Und wir sind nicht allein: Gott stellt uns Menschen an die Seite, die auf uns, und auf die wir ange­wiesen sind. Genau diese Geschichte erzählt auch Andreas Steinhöfel – und zwar so liebevoll, dass man richtig Lust bekommt, unter der eigenen Bettdecke vorzulinsen.

Das Buch macht Mut. Und gleichzeitig weist es uns auch zu­recht. Immer mal wieder habe ich das Gefühl, wie Oskar den Kopf senken und mich entschuldigen zu müssen, bei denen, deren (ja meist nur sehr begrenzte) Tiefbegabung ich ungnädig beobachtet habe. Wenn ich ungeduldig war, weil andere zu langsam kapieren, reden, handeln. Weil ich glaubte, Dinge besser zu wissen oder besser machen zu können. Und dabei meine Maßstäbe absolut gesetzt habe.

Dadurch, dass wir alles aus Ricos Perspektive wahrnehmen geschieht zweierlei: Wir werden ein bisschen beschämt für die Urteile, die wir so schnell über andere fällen: über Leute mit Bingokugeln im Kopf oder Sturzhelmen auf dem Kopf. Und wir werden sehr behutsam auf die je eigenen Tief­bega­bung aufmerksam gemacht. Natürlich will ich mir das nicht angucken, wovon ich weiß, dass ich es nicht gut kann, natürlich lauern genau da meine Ängste, meine Schatten – die eingebil­deten und die echten. Und ich glaube jeder von uns hat Be­reiche im Leben, wo unser Radius deswegen sehr be­schränkt ist, wo wir nur geradeauslaufen können, so wie Rico, weil wir unglaubliche Angst haben, dass wir verloren gehen könnten, wenn wir rechts oder links vom Weg abweichen. Aber im Grunde genommen wissen wir auch, wie un­flexibel wir des­wegen sind.

Rico leidet unter seiner Tiefbegabung – keine Frage, kein Grund, das schön zu reden. Aber seine pädagogisch fragwürdig agierende Mutter hat ihm beingebracht, dazu zu stehen. Es nicht zu kaschieren. Das wäre doch echt mal was: Wenn wir zu unseren Tiefbegabungen stehen könnten, im Vertrauen darauf, dass es um uns herum andere begabte Menschen gibt oder anders begabte Menschen, die für uns im Notfall das Licht an­schalten können.

Und insofern ist für mich diese Geschichte wirklich eine „Ein­fühl­geschichte“, eine Anregung für ein gutes Miteinander in Beziehungen, Familien, Freundeskreisen und in der Gemeinde. Sie ist eine wunderbare Veranschaulichung von den biblischen Versen aus dem 1. Petrusbrief, mit denen ich den Gottesdienst begonnen habe:

Dient einander mit den Fähigkeiten, die Gott euch geschenkt hat – jeder und jede mit der eigenen, besonderen Gabe! Dann seid ihr gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes.

Amen.

 

Text: 1. Johannes 4, 7–12

Ihr Lieben, lasst uns einander lieb haben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist aus Gott geboren und kennt Gott. 8 Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist Liebe. 9 Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. 10 Darin besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden. 11 Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben. 12 Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

Wie viele Liebesgeschichten haben Sie, habt ihr wohl schon gehört? Auf Bahnfahrten von Fremden, am Gartenzaun von der Nachbarin oder auf langen Spaziergängen mit Freundinnen und Freunden, in Filmen oder Büchern…

Und welche Liebesgeschichten haben Sie, habt ihr wohl selbst schon erlebt? Als Jugendliche oder Erwachsene, in einer Beziehung, der Ehe oder einer Affaire, glücklich oder schmerzlich, offen oder heimlich…

Wie viele Liebesgeschichten gibt es nicht! Unterschiedlichster Art, manchmal staunt man, nichts ist unmöglich. Nicht umsonst sagt man: „Wo die Liebe hinfällt“ und lässt dabei offen, was einem nachvollziehbar und anständig erscheint und was nicht. Wo auch immer die Liebe hinfällt, wen sie treffen, beglücken oder verstören mag – Liebe ist aufregend und spannend für uns, egal in welchem Alter.

Besonders spannungsreich wird es meistens, wenn die Liebe nicht nur Zwei betrifft. Wenn eine oder einer zu einer Zweierbeziehung dazukommt, wenn man sich der Liebe eines Menschen nicht mehr hundertprozentig sicher ist oder das eigene Herz nicht mehr nur einem, sondern zwei Menschen gehört. Dann wird es meistens spannungsgeladen und schwierig.

Das gilt in gewisser Weise nicht nur für die romantische Liebe, für Liebesbeziehungen, sondern auch für die Familie. Wenn ein Paar ein Baby bekommt und aus Zweien Drei werden. Oft ist dann zu Beginn eine oder einer auf die Nähe zwischen den beiden anderen eifersüchtig: der Vater auf Mutter und Baby oder später das Kind auf das Elternpaar.

Es ist nicht leicht und kann Menschen lange beschäftigen, aus einer engen Zweierbeziehung in die Weite zu kommen, aus der Dyade in die Triade.

An solche Fragen der Liebe und Nähe musste ich bei unserem Predigttext aus dem 1. Johannesbrief denken. Er spricht von Gottes Liebe – wie ja die Bibel überhaupt viele Liebesgeschichten erzählt –, er lobt, preist, rühmt Gottes Wesen der Liebe, aber er schildert Gottes Liebe durchaus nicht nur als eine Zweierbeziehung zwischen Gott und Mensch, dir oder mir. Sondern eher als eine Dreiecksbeziehung.

„Niemand hat Gott je gesehen“ (V. 12), heißt es in unserem Text. „Niemand hat Gott je gesehen“, aber umso mehr fragen wir uns, fragen sich Menschen überall und immer wieder, wie man sich so etwas wie Gott, eine göttliche Macht oder Energie überhaupt vorstellen kann. Wer, was oder wo Gott wohl ist?

Die markante Antwort des Christentums lautet: Gott ist Liebe. Gottes Wesen ist wie Liebe, Barmherzigkeit oder Gnade. Wir können Gottes Wesen am ehesten in der Liebe begreifen oder uns ihm annähern. Eher als im Gebet oder in der Stille, eher als im Meditieren oder Nachdenken finden wir Gott im Lieben.

Aber diese Liebe beschreibt der Predigttext eben nicht als eine romantische oder freundschaftliche Zweierbeziehung zwischen Gott und dem, der Einzelnen, sondern als ein etwas unübersichtliches Geschehen zwischen mehreren, zumindest drei Personen.

Zum Einen heißt es: „Aus Liebe sandte Gott seinen Sohn auf die Erde“ (V. 9). Wie ein Stellvertreter Gottes oder ein lebendiges Zeichen oder ein Unterpfand seiner Liebe.

Das heißt, im Raum der Liebe Gottes kommen wir an seinem Sohn Jesus Christus nicht vorbei. Er ist Gottes Liebe. Er steht mit seinen Worten und Taten, mit seinem Leben und Sterben dafür ein, macht für uns konkret, was mit Gottes Liebe gemeint ist.

Ein prominentes Beispiel dafür ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das Jesus erzählt hat. Das wir heute gehört haben und im Medaillon gegenüber der Kanzel in Stein gemeißelt sehen. Wie ein Predigtbild, Sonntag für Sonntag.

Der Samariter, ein Fremder aus Samarien, der anders als die zwei Passanten vor ihm den Mann nicht liegen lässt, der zusammengeschlagen und ausgeraubt wurde. Der ihm so etwas wie 1. Hilfe zukommen lässt, ihn verbindet, tröstet und aufrichtet und ihn dann in ein Gasthaus bringt, wo er gepflegt werden soll, bis er wieder gesund ist.

Ein Beispiel für spontane Hilfe. Nicht überschwänglich, nicht für immer, aber direkt, spontan, von Herzen kommend.

Heute denke ich bei diesem Gleichnis an Sabine Puhle, zu deren Aufgaben in der Kirchengemeinde es ja gehörte, Menschen zu versorgen, Kaffee und Tee zu kochen, einzukaufen und Räume herzurichten. Die aber vielen vor allem deshalb in Erinnerung bleiben wird, weil sie weit darüber hinaus spontan und herzlich geben konnte: Kinder, die hingefallen waren, mit Pflaster und Worten trösten; die Bedürftigen bei der Essensausgabe mit einem Becher Kaffee empfangen; Älteren auf dem Weg helfen.

Ich denke auch an die drei ukrainischen Familien, denen wir als Kirchengemeinde zur Zeit versuchen zu helfen, indem sie bei uns im Gemeindehaus wohnen können. Oder an unsere langjährige Beziehung zum Verein Kanduyi Children e.V., dem Straßenkinderprojekt in Kenia.

Wo wir als Gemeinde und als Einzelne versuchen, etwas von der spontanen Hilfe und Liebe zum Nächsten zu leben. Und uns von Jesus, wie in der Geschichte, fragen lassen: Wem stellen wir uns als Nächste zur Seite? Wer braucht unsere Liebe und Hilfe?

Wenn wir versuchen, Gottes Wesen auf die Spur zu kommen, uns ihm anzunähern, dann kommt Jesus ins Spiel. Menschgewordene Liebe.

Und dann kommen in unserem Predigttext auch unsere Beziehungen untereinander ins Spiel. „Liebt euch untereinander“ (V. 7+11), heißt es. Liebe nicht nur hierarchisch oder als Einbahnstraße gedacht, von Gott über seinen Sohn zu uns, sondern als Netzwerk, mindestens als Dreiecksbeziehung zwischen Gott, dir und mir.

Manche von Ihnen, von euch kennen vielleicht als Konfirmanden, Erzieherinnen oder Lehrer das Gruppenspiel mit dem Wollknäuel: Eine Gruppe sitzt oder steht im Kreis. Einer hält ein dickes Wollknäuel in der Hand, das wirft er einem anderen in der Gruppe zu und hält dabei das Ende des Fadens fest. Man kann dabei den Namen desjenigen rufen, dem man die Wolle zuwirft, oder eine Frage stellen. Das Wollknäuel wird so lange weitergeworfen, bis alle ein Stück Faden in Händen halten und ein Netz zwischen allen gesponnen ist.

So ähnlich, denke ich, ist der Satz „Liebt euch untereinander!“ zu verstehen. Dass Gottes Liebe aus der Höhe in die Weite geht. Dass unsere Nächsten nicht immer die sind, die wir am liebsten haben, sondern die, denen wir ein Wort, einen Blick, eine Geste oder Gabe zuwerfen. Mit denen wir uns auf Augenhöhe in einer Haltung der Nächstenliebe vernetzen.

Ihr kennt sicher den populären Satz: „Gott liebt dich.“ Das stimmt – aber ich glaube, es ist nur zum Teil wahr.

Eher gilt wohl, dass es in Gott einen Raum der Liebe gibt, in dem wir durch den Heiligen Geist mit Gott, Jesus Christus und miteinander verbunden sind – und aus dem wir nicht hinausfallen können. Nicht in diesem und nicht im kommenden Leben. „Denn die Liebe hört niemals auf.“ (1. Kor 13, 8). Amen