Predigttext:

Wandelt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit. Prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist, 1und habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis; deckt sie vielmehr auf. Denn was von ihnen heimlich getan wird, davon auch nur zu reden ist schändlich. Das alles aber wird offenbar, wenn’s vom Licht aufgedeckt wird; denn alles, was offenbar wird, das ist Licht. Darum heißt es: Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten. (Eph 5, 8b-14)

 

Predigt:

Morgen früh beginnen wir mit dem Licht. Morgen startet nämlich in unserer Gemeinde die Kinder­ferienwoche, es geht thema­tisch um die Schöpfung und die beginnt mit dem Licht. So beginnt Gott. Ganz am Anfang. Ganz am Anfang bringt Gott Licht ins Dunkle. „Es werde licht und es ward licht.“ Ohne Licht geht gar nichts. Ohne Licht kein Leben. Pflanzen brauchen Licht für die Photo­synthese und wir Menschen, um z.B. Vitamin D zu produzieren. Es ist wirklich faszinierend, was man mit Licht­­strahlen alles machen kann: Man kann damit Metallplatten zer­schneiden, Nachrichten um die Welt schicken oder die Ver­schiebung von Kontinentalplatten messen. Und man kann mit Licht heilen: Man lasert damit Augen und entfernt Tumore; mit Lichttherapie behandelt man erfolgreich Depressionen und Schlaf­störungen.

Und dann gibt es Menschen, ich bin mir sicher, Sie alle kennen so jemanden, die wirken ein bisschen wie Lichttherapie. Sie haben eine zugewandte, freundliche, eben herzerwärmende Art, mit der sie die Umgebung um sich herum aufhellen. Sie haben Aus-Strahlung im wahrsten Sinn des Wortes. Wenn sie den Raum betreten oder sich am Gespräch beteiligen, ver­ändert sich das Klima zum Posi­tiven. „Die Sonne geht auf, wenn du kommst“ sagt man vielleicht spaßeshalber zu solchen Menschen. Und beschreibt damit, dass ihre Gegenwart wohl­tuend ist und heilsam. Menschen können wie Licht sein.

Sie sollen wie Licht sein – sagt unser Wochenspruch aus dem Epheserbrief: „Wandelt als Kinder des Lichts!“. Da hört sich das, was manche als be­wundernswerte Begabung mitbringen, nach einer Forderung an, vielleicht sogar nach Überforderung. Kann ich das? Bin ich so?

Unser Briefschreiber spielt mit Licht und Schatten. Denn wo das eine ist, ist immer auch das andere. Kein Wunder also, dass in unserem kleinen Briefabschnitt von den „Werken der Finster­nis“ die Rede ist. Das klingt natürlich ein bisschen altertümlich, und das, was er darunter versteht, so wie er es im weiteren Brief beschreibt, ist natürlich zeitgenössisch geprägt, also ein klassischer antiker Lasterkatalog, der z.B. Unzucht, Unreinheit, Hab­sucht und lose Rede aufzählt.

Was würden wir heute nennen? Lose Rede heißt heutzutage vielleicht Shitstorm. Wenn man an die Schattenseiten unserer Gesellschaft denkt, dann würde man vielleicht verweisen auf solche digitalen Hassreden oder auf Miss­brauchs­skandale, auf die hohe Zahl anitsemitischer Vor­fälle oder auf Remigrations­ideen. „Werke der Finsternis“ gibt es in allen Jahrhunderten.

Und es gibt ja nicht nur Licht und Schatten, es gibt so viel dazwischen, so viele Graube­reiche. Was ist eigentlich gut und was nicht?

„Prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist!“

rät der Autor des Briefes deswegen im gleichen Atemzug, und nennt als Krite­rium: „Die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerech­tigkeit und Wahrheit.“ Ganz schön große Begriffe. Und alles ziemlich abstrakt.

Wenn ich nach etwas Konkretem suche, dann denke ich in diesen Tagen an die finstersten Zeiten hier in Deutschland. Gestern am 20. Juli jährte sich das Attentat auf Hitler zum 80. Mal. In Berlin wurde deswegen der Männer und Frauen ge­dacht, die mit ihrem Gewissen rangen und schließlich den Tyrannen­mord planten. Menschen, die ihr Leben riskierten und zum Teil verloren, um wieder Raum für Gerechtigkeit und Wahr­heit zu schaffen. Einer von Ihnen, der Pfarrer und Theo­loge Dietrich Bonhoeffer, schrieb in seiner „Ethik“ von solchen außer­gewöhnlichen Situationen: „So oder so wird der Mensch schuldig und so oder so kann er allein von der gött­lichen Gnade und der Vergebung leben.“

Bonhoeffers Aufgabe im Widerstand bestand darin, bei seinen Auslandsreisen heimlich über den geplanten Putsch zu infor­mieren. In den Augen des Auslands waren die Menschen im Widerstand sicher eine Art Lichtblick im gleichgeschalteten Deutsch­land. Sie haben dem Bild der Massen, die Hitler zuju­belten, etwas anderes entgegengesetzt. Ein kleines Aufflackern von Gerechtigkeit und Wahrheit eben.
Nicht nur in der räumlichen Distanz, auch im zeitlichen Abstand dieser 80 Jahre hat das Strahlkraft. Schaue ich als Nachgebo­re­ne auf die Zeit des Nationalsozialismus, dann bin ich froh, dass es überhaupt Widerstand gab in dieser finsteren Epoche: Mutige Menschen, die uns heute als Vorbild leuchten. Sie kamen aus ganz verschiedenen Kreisen: aus Bürgertum, Militär und Unis, aus kommunistischen, sozialistischen und eben auch kirchlichen Kreisen. Letztere haben sich vielleicht von dem leiten lassen, was wir heute lesen:

„Prüft, was Gott wohl­gefällig ist.“

Derselbe Bonhoeffer, der schrieb, dass wir uns in manchen Situationen nur schuldig machen können und immer von Gottes Gnade leben, schrieb auch, dass ein Christ nicht einfach von Gottes Liebe und Vergebung ausgehen und sich darauf ausruhen solle, sondern ernsthaft versuchen muss, Gottes Willen für sich zu erkennen, und danach handeln (Nachfolge,1937). Beides stimmt. Wir können nur von Gottes Gnade leben und wir dürfen uns nicht darauf ausruhen. Wir machen uns immer wieder schuldig und doch sollen Gerechtigkeit, Güte und Wahrheit unser Handeln bestimmen.

Zuspruch und Anspruch. Wir sind das Licht der Welt – und wir sollen uns gefälligst auch so verhalten. In dieser Spannung leben wir. Das müssen wir aushalten.

Manchmal müssen wir auch das Licht aushalten. Mal will ja gar nicht so gerne überall den Scheinwerfer drauf­halten. „Das Licht wird alles aufdecken“, steht im Epheser­brief. Das klingt ja nicht nur erhellend, sondern fast bedrohlich: Will man denn, dass alles ans Licht kommt? Jeder und jede von uns hat doch dunklen Seiten in sich, und die hält man lieber versteckt.

Ich habe gelesen von einer Stadt in der Schweiz in der sich ein paar Jungs einen Streich erlaubt haben. Sie haben einfach will­kürlich bei Leuten angerufen und nichts anders gesagt als: „Es ist alles herausgekommen.“ Manche Leute haben sicher achsel­zuckend aufgelegt, aber es gab viele, die sich ertappt fühlten, bloßgestellt. Manche der Angerufenen haben sich tage­lang nicht aus dem Haus getraut, einer zog weg, einer beging sogar Suizid. Offensichtlich ist es für manche eine unerträgliche Vorstellung­, dass das, was sie als dunklen Fleck in ihrem Leben ansehen, ans Licht gezerrt wird.

Unser Briefschreiber will seine Adressanten eigentlich nicht ein­schüchtern, er will ihnen keine Angst machen. Im Gegenteil: Wenn etwas, was man lange versteckt und krampfhaft geheim gehalten hat, endlich ans Licht kommt, dann ist das für Be­troffene oft auch – entlastend. Wenn das Dunkle der Ver­gangenheit nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden muss, dann sind wir endlich auch nicht mehr darauf festgelegt. Dann können wir uns neu erfinden. Der Autor schreibt deswegen hier von Auferstehung. So kann sich das durchaus anfühlen.

Ich spinne mal den Jungsstreich aus der Schweiz weiter. Da sitzt jemand in seinem Haus und traut sich nicht raus, weil angeblich alles rausgekommen ist. Vielleicht hat er seine Frau betrogen, vielleicht in der Firma Gelder veruntreut. Keine Ahnung. Seine Fassade ist zusammengebrochen und er muss sich dem stellen. Er weiß, andere sehen jetzt seine hässlichen Seiten, für die er sich schämt. Und dann kommt seine Frau nach Hause und verhält sich wie immer. Oder sein Chef ruft ihn an und fragt, ob er krank ist, und er merkt, dass niemand etwas weiß und sein Geheimnis sein Geheimnis bleibt und eine Schuld seine Schuld. Ob er erleichtert ist? Bestimmt, zumindest am Anfang. Vielleicht stellt sich dann aber auch Enttäuschung ein, dass es jetzt einfach so weitergeht. Dass er weiter damit leben muss. Vielleicht hat er schon vom Neuanfang geträumt? Vielleicht merkt er, dass er so nicht mehr will, dass es ihn zu viel Kraft kostet, sich ständig zu verstellen. Vielleicht spricht er mit seiner Frau, seinem Chef, und lässt sie ganz freiwillig drauf schauen auf die dunklen Seiten seines Lebens. Vielleicht verzeiht ihm seine Frau, vielleicht trennt sie sich. Vielleicht kann er eine neue Beziehung beginnen, in der er ehrlich ist. Ein Neuanfang, ein neuer Mensch. Im Licht.

„So wird dich Christus erleuchten.“

So endet unser Abschnitt. Ich finde das sehr tröstlich – das heißt nämlich, dass nicht wir leuchten müssen, sondern das Christus leuchtet, uns erleuchtet.

Unser Textabschnitt ist aus einem Brief herausgeschnitten. So ist das immer mit den Versen, die einer Predigt zugrunde liegen. Es ist ein Abschnitt, also abgeschnitten, herausge­schnitten aus dem Kontext. Wer auch immer diesen Ab-Schnitt geschnitten hat, hat meines Erachtens danebengeschnitten, nämlich mitten durch den 8. Vers durch. „Wandelt als Kinder des Lichtes“ – so beginnt der Text. Aber Vers 8 beginnt anders: Er beginnt „Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr im Licht des Herrn. Wandelt als Kindes des Lichts.“ Da hört sich die Forderung schon ganz anders an: Weil wir im Licht Gottes stehen, können wir als Kinder des Lichts leben. Und nicht, weil wir so viel Leucht­kraft in uns selbst besitzen.

„Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr im Licht des Herrn“; Früher Finsternis, heute Licht – der Briefschreiber hat beim diesem lichtwechselnden Lebens-Einschnitt sicher die Taufe im Hinterkopf. Vor kurzem habe ich hier eine kleine Helene getauft. Der Name ist gerade sehr beliebt, aber nicht deswegen haben die Eltern ihn ausgesucht, sondern weil Helene zurückgeht auf das indo­germanische Wort für „brennen, schwelen“. Man kann es auch als „die Licht Bringende“ über­setzen. Als die Mutter schwanger war, starben fast zeitgleich beide Großväter. Ein Schock für alle und eine schwere Zeit. Das einzige, was Hoffnung gab, war, dass neues Leben sich an­kündigte. Und als Helene geboren wurde, brachte sie Licht zurück in die Familie. Bei der Taufe saß sie auf dem Schoß des Vaters und strahlte die anderen an – und sie konnten nicht anderes und strahlten zurück. Eine kleine Lichtbringerin. Ein Kind des Lichts. Bei so einem kleinen Kind wird deutlich, dass das Lichtbringen keine eigene Leistung ist, sondern ein Geschenk. Die Taufkerze symbo­lisiert, woher das Licht kommt. Von der Osterkerze nämlich, in deren Licht wir alle heute morgen sitzen. Und nur in diesem Licht können wir als Kinder des Lichts leben – aber das können und sollen wir. Amen

Predigttext: Johannes 6, 1–15

Danach ging Jesus weg ans andre Ufer des Galiläischen Meeres, das auch See von Tiberias heißt. 2 Und es zog ihm viel Volk nach, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat. 3 Jesus aber ging hinauf auf einen Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern. 4 Es war aber kurz vor dem Passa, dem Fest der Juden. 5 Da hob Jesus seine Augen auf und sieht, dass viel Volk zu ihm kommt, und spricht zu Philippus: Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben? 6 Das sagte er aber, um ihn zu prüfen; denn er wusste wohl, was er tun wollte. 7 Philippus antwortete ihm: Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder auch nur ein wenig bekomme. 8 Spricht zu ihm einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus: 9 Es ist ein Knabe hier, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische. Aber was ist das für so viele? 10 Jesus aber sprach: Lasst die Leute sich lagern. Es war aber viel Gras an dem Ort. Da lagerten sich etwa fünftausend Männer. 11 Jesus aber nahm die Brote, dankte und gab sie denen, die sich gelagert hatten; desgleichen auch von den Fischen, so viel sie wollten. 12 Als sie aber satt waren, spricht er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrigen Brocken, damit nichts umkommt. 13 Da sammelten sie und füllten zwölf Körbe mit Brocken von den fünf Gerstenbroten, die denen übrig blieben, die gespeist worden waren. 14 Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll. 15 Da Jesus nun merkte, dass sie kommen würden und ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen, entwich er wieder auf den Berg, er allein. 

 

Predigt zu Johannes 6, 1–15

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

Die Ferienzeit ist da! Am Mittwoch ist für die Schülerinnen und Schüler letzter Schultag, die Kitas haben bald ihre Schließzeiten, Familien und Gruppen gehen auf Reisen. Wer nicht an die Schulferien gebunden ist, reist schon seit einigen Wochen.

Dass die Reisezeit begonnen hat, kann ich unter anderem daran ablesen, dass auf meinem Handy-Bildschirm Essensfotos auftauchen: Meine Patentochter schickt frittierte Calamaretti aus Kroatien, meine Freundin Limoncello Spritz aus Italien, mein Bruder Elch-Steaks aus Schweden…

Besonderes, landestypisches Essen wie ein Nachweis, dass man wirklich verreist ist – auch wenn es die allermeisten Nahrungsmittel auch bei uns zuhause zu kaufen gibt. Vielleicht aber, so habe ich bei der Beschäftigung mit dem heutigen Evangelium von der Speisung der 5.000 gedacht, auch ein Nachweis, dass es mir gut geht. Dass es mir schmeckt, dass ich gesund bin und mein Leben genieße.

Dazu gehören Essen und Trinken und dazu gehören – was auf den Fotos nicht immer zu sehen ist – andere Menschen. Nur wenige sitzen ja alleine beim Apéritif oder am Grill. Andere sind dabei: Kinder, Eltern, Freundinnen und Freunde, Urlaubsbekanntschaften.

Vielleicht, so habe ich mich gefragt, ist neben einer schönen Landschaft, Ruhe und Freizeit eigentlich das Schönste am Urlaub das gemeinsame Essen mit anderen!?

Ein Bild für die Freude am gemeinsamen Essen ist mir aus den letzten Wochen in besonderer Erinnerung: Bei der Gute-Nacht-Kirche, zu der einmal im Monat mittwochs am frühen Abend kleinere Kinder mit ihren Eltern zum Abendsegen kommen, habe ich vor zehn Tagen das Bilderbuch „Die kleine Raupe Nimmersatt“ mitgebracht. Darin frisst sich eine kleine Raupe durch die unterschiedlichsten Lebensmittel, bis sie sich am Ende verpuppt und in einen großen bunten Schmetterling verwandelt.

Von Montag bis Freitag frisst sie sich durch Äpfel, Birnen, Orangen, Pflaumen und Erdbeeren. Alle diese Obstsorten hatte ich mitgebracht, und Seite für Seite, Tag für Tag futterten sich die Kinder munter durch das Obst.

Am Wochenende dann frisst sich die Raupe durch einen Früchtekuchen, ein Stück Käse, eine saure Gurke, ein Würstchen, einen Muffin… Große Begeisterung bei den Kindern, dass es auch all diese Dinge zu essen gab!

Während ich befürchtete, dass den Kindern langsam schlecht werden könnte, griffen sie beherzt zu Käsewürfeln, bissen vorsichtig in saure Gurken, schnappten sich ein Würstchen, freuten sich über ein zweites Stück Kuchen…

Eine glückliche, gefräßige Stille breitete sich im Altarraum aus… Am Ende des Abends liefen zwei kleine Jungen auf mich zu: „Frau Tietz, das war die beste Gute-Nacht-Kirche!“

Keins der Kinder leidet zuhause oder in der Kita Hunger. Wahrscheinlich wird ihnen täglich abwechslungsreiches, gesundes, leckeres Essen angeboten. Aber selten – so bemerkten es auch die Eltern – essen sie so viel und fröhlich, so voller Lust und guter Laune wie da in der Gute-Nacht-Kirche. Mit einer unverhohlenen Freude an den verschiedenen Farben und Geschmacksrichtungen – und mit dem großen Glück, in Gemeinschaft zu essen. Mit ihren Eltern, Geschwistern und Kita-Freundinnen, aber auch zusammen mit unbekannten Kindern und Erwachsenen, die am gemeinschaftlichen Essen ebenso viel Freude hatten!

Jede und jeder von uns könnte wahrscheinlich eine ähnliche oder auch eine ganz andere Geschichte erzählen von einem besonders glücklichen gemeinsamen Essen: Vom Picknick auf einer Berghütte, wo die Küche schon geschlossen war und man mit anderen Wanderern die kargen Reste aus dem Rucksack teilte. Oder vom spontanen Grillen in der Nachbarschaft, als die Kinder Maiskolben vom Feld klauten, weil die Würstchen zur Neige gingen. Oder von den Mitbring-Buffets, die viel interessanter sind als jedes Sterne-Menü…

Die Geschichte von der Speisung der 5.000, die wir heute gehört haben, ist eine von vielen, sehr vielen Essensgeschichten in der Bibel. Von Jesus wird erzählt, wie er immer wieder die unterschiedlichsten Menschen um einen Tisch, zu einer Mahlzeit versammelte: Menschen mit Behinderung, Prostituierte, Fremde, dubiose Zolleinnehmer…

Wer genau bei der Speisung der 5.000 dabei war, wissen wir nicht. Hier ging es offenbar darum festzuhalten, dass so unglaublich viele Menschen zusammen aßen und satt wurden. So satt, dass sogar für noch mehr Menschen Essen übrigblieb!

Bestimmt geht es in der Geschichte um das, was gewöhnlich schnell als „Moral von der Geschicht‘“ erkannt wird: Dass das Essen – wie auch das Glück und die Liebe – mehr wird, sich verdoppelt und verdreifacht, wenn man es teilt. Dass so viel mehr Menschen in unserer Stadt gesundes Essen bekommen könnten, dass so viel mehr Menschen auf der Erde satt werden könnten, wenn wir Nahrungsmittel gerechter teilen würden.

Bestimmt geht es in der Erzählung aber auch darum, das Wunder, den Wert, das Glück der Gemeinschaft zu schildern. So ähnlich, wie es die Kinder bei der Gute-Nacht-Kirche erlebt haben. Auf den Geschmack der urchristlichen Botschaft zu kommen, die auf Jesus selbst zurückgeht: Der Ruf, in seiner Nachfolge als Christinnen und Christen unsere Ressourcen mit anderen zu teilen – und dazu gehört auch so etwas Alltägliches und Lebensnotwendiges wie das Essen – und Gemeinschaft zu suchen und zu stiften, gerade auch außerhalb unserer Familien.

Im Brot-Teilen und in der Gemeinschaft – so die Erfahrung und so Jesu Botschaft – ist Jesus Christus unter uns lebendig. Wird er für uns zum „Brot des Lebens“, wie er sich selbst bezeichnet hat. Stärkt uns, nährt und erfüllt uns, begleitet uns auf unseren Wegen.

Wenn ich an eure Taufsprüche denke, liebe Lara und lieber Darius, wenn ich an eure Wege denke, die ihr zurückgelegt habt und die vor euch liegen, dann denke ich an den Schutz und an das Vertrauen, um das ihr heute bittet.

„Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst“ (1. Mose 28, 15), spricht Gott dir, liebe Lara, und uns allen zu. Ich will dich versorgen, wo du auch studieren, arbeiten und leben wirst. Mit Essen und Kraft, mit Freunden und Geborgenheit, mit meiner – Gottes – Gegenwart, wie du sie im Gebet erfährst. Ich bin da, sichtbar in dem, was dich ernährt und wärmt, und unsichtbar in meinem Geist der Liebe.

Und dir, lieber Darius, ist wie uns allen das Wort zugesagt, das auf Jesus zurück geht: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ (Mk 9, 23) Wer glaubt und vertraut – und das heißt meistens: wer Vertrauen vorschießt – für den oder die kann möglich werden, was wir für unmöglich halten, so lange wir sparsam, eng und ängstlich denken. Die Welt, das Leben wird weiter – auf der Erde, zu anderen Menschen hin, und zum Himmel, zu Gott hin – durch den Glauben, durch Liebe und Hoffnung.

Und so möge Jesus Christus für euch und für uns, für alle Getauften zum „Brot des Lebens“ (Joh 6, 35) werden, das uns kräftig und zuversichtlich macht. Bereit zum Teilen und zur Gemeinschaft. Denn er ist mit uns alle Tage bis an der Welt Ende. Amen.

Predigttext:

Aber der Engel des Herrn redete zu Philippus und sprach: Steh auf und geh nach Süden auf die Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt und öde ist. Und er stand auf und ging hin. Und siehe, ein Mann aus Äthiopien, ein Kämmerer[1] und Mächtiger am Hof der Kandake, der Königin von Äthiopien, ihr Schatzmeister, war nach Jerusalem gekommen, um anzubeten. Nun zog er wieder heim und saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja. Der Geist aber sprach zu Philippus: Geh hin und halte dich zu diesem Wagen! Da lief Philippus hin und hörte, dass er den Propheten Jesaja las, und fragte: Verstehst du auch, was du liest? Er aber sprach: Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet? Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen. Die Stelle aber der Schrift, die er las, war diese: »Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf. In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen aufzählen? Denn sein Leben wird von der Erde weggenommen.« Da antwortete der Kämmerer dem Philippus und sprach: Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das, von sich selber oder von jemand anderem? Philippus aber tat seinen Mund auf und fing mit diesem Schriftwort an und predigte ihm das Evangelium von Jesus. Und als sie auf der Straße dahinfuhren, kamen sie an ein Wasser. Da sprach der Kämmerer: Siehe, da ist Wasser; was hindert’s, dass ich mich taufen lasse? Und er ließ den Wagen halten und beide stiegen in das Wasser hinab, Philippus und der Kämmerer, und er taufte ihn. Als sie aber aus dem Wasser heraufstiegen, entrückte der Geist des Herrn den Philippus und der Kämmerer sah ihn nicht mehr; er zog aber seine Straße fröhlich. (Apg 8 26-39)

Predigt:

„Er zog aber seine Straße fröhlich.“

So endet unsere biblische Geschichte heute. Wann hat man das schon mal? Happy end – so ganz ausdrücklich. Wie schön! Und wie kommt man dahin? Die eigene Straße fröhlich zu ziehn?mDirekter Auslöser für diese Fröhlich­keit ist in unserer Geschich­te die Taufe. Der fröhliche Mann kommt direkt aus dem Wasser. Da ist er: Nass und glücklich.

Taufen sind tatsächlich oft fröhliche Angelegenheiten. Meistens taufen wir ja Kinder. Da kommen dann die glücklichen Eltern mit ihren meistens ziemlich süßen Sprösslingen und natürlich auch die stolzen Großeltern und Freundinnen und Freunde, und alle feiern das neue Leben und sind dabei ziemlich fröhlich. Außer, wenn das Kind weint, das kommt natürlich schon mal vor. Es gibt aber auch Kinder die strah­len, weil sie spüren, dass sie das Zentrum der Aufmerksamkeit sind. Ich hatte schon mal einen kleinen Täufling, der lautstark mit „nochmal“ auf die Taufe reagiert hat. Oder kleine Gäste, die die Taufe mit „Ich auch kommentierten, unab­hängig davon, ob sie schon getauft waren oder nicht. Also meistens ist das tatsächlich eine fröhliche Sache.

Diese Fröhlichkeit, die wir bei unseren Taufgottesdiensten er­leben, verbindet uns mit unserer biblischen Taufgeschichte, die natürlich ein ganz anderes Setting entwirft. Hier wird ja ein Erwachsener getauft, wie das generell in den ersten christlichen Gemeinden üblich war. Für mich als Pastorin heutzutage ist das die Aus­nahme. Aber es kommt schon vor, dass sich Menschen jenseits der 20, 30 oder auch 60 melden mit dem Wunsch, getauft zu werden. Das kann ganz unterschiedliche Gründe haben. Anders als bei einer Kinder­taufe ist die Vorbereitung dann gründ­­licher, dann es geht um die Frage, die Philippus auch dem Mann aus Äthiopien stellt: „Verstehst du das, was du liest! Verstehst du, worum es hier geht?“ – Und meistens kommen dann Rückfragen: Warum läuft ein Gottesdienst so ab und nicht anders? Wie muss man sich das vorstellen: „Er wird kommen zu richten die Lebenden und die Toten“? Was bedeutet das Sterben Jesu? Da gibt es viele Fragen. Und wenn wir – ich nehme an die meisten von uns sind getauft – wenn wir ehrlich sind, dann hören die Fragen nach der Taufe nicht auf. Das ist auch gut so! Meine Frage heute an diesen Text und an uns ist: Was genau macht hier eigentlich so fröhlich? Was lässt diesen Äthiopier glücklich seine Straße ziehen?

Zunächst einmal bekommt er Anleitung. Er bleibt nicht alleine mit seinen Fragen, sondern jemand nimmt sich Zeit, setzt sich zu ihm, hört sich seine Fragen an und geht darauf ein. Und dann versteht der Äthiopier. Sicher nicht alles, aber mehr als vorher. Das ist zutiefst be­friedigend, das kennen wir ja: Wir ver­suchen etwas zu begreifen, aber es erschließt sich uns nicht. Und dann kommt jemand und macht die verschlossene Tür auf. Etwas öffnet sich, wir können es nachvollziehen, es bekommt eine Bedeutung für uns. Sowas macht froh. Ich glaube, der Kämmerer hatte so ein Aha-Erlebnis.

Und es lohnt sich, genauer auf das „Aha“ zu gucken. Also was erschließt sich ihm eigentlich und macht ihn glücklich? Er kämpft da in seinem Wagen mit einem Text des Propheten Jesaja (mit dem nach ihm weiterhin viele, auch Theolog:innen gekämpft haben): “Wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Lamm, das vor dem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf.“

Als Predigerin würde mich natürlich jetzt brennend interes­sieren, was genau Philippus gesagt hat und wie. Aber wir kriegen nur eine Zusammenfassung: Philippus fängt bei dem Schriftwort, also bei den Fragen des Mannes an, und erzählt ihm das Evangelium, auf deutsch: die Frohe Botschaft von Jesus. Die frohe Botschaft macht ihn also fröhlich.

Wenn ich mit unserer heutigen Sprache die Lücken im Bericht füllen und Philippus Worte der Auslegung in den Mund legen müsste, dann würde ich vielleicht sagen: Ja, das gibt es auf dieser Welt, dass Menschen bedroht und mundtot gemacht werden. Jesus war einer von ihnen. Jesus hat all das Dunkle und Furchtbare der Welt ertragen. Am Ende ist er daran gestorben. Aber damit war es eben nicht vorbei. Weil er das ertragen hat, hat er Friede und Versöhnung möglich gemacht. Gott hat sich auf seine Seite gestellt. Gott hat sich damit auf unsere Seite gestellt, er ist bei uns.

Mhm. Diese Auslegung ist sicher theologisch richtig, aber macht das fröhlich? Ich sehe hier gerade niemanden lächeln. Theologische Wahrheiten per se, die machen noch nicht froh. Fröhlich macht nur das, was uns ganz konkret anspricht, mit dem, was wir sind und wonach wir uns sehnen. Den Kämmerer macht nicht die Lehre vom Gottesknecht bei Jesaja froh oder vom Sühneopfer Jesu. Sondern das, was der Text des Jesaja, was die Worte des Philippus für ihn ganz konkret bedeuten.

Dazu müssen wir den Mann aus Äthiopien ein bisschen besser kennenlernen. Er hat es ganz schön weit gebracht: Er ist ein Kämmerer, ein Mächtiger am Hof der Königin, ihr Schatz­meister. Erfolgreich ist er und reich. Er kann sich die weite Reise nach Jerusalem leisten und zwar in einem Privatwagen, und eine Schriftrolle kauft er auch noch. Die Lutherüber­setzung verschleiert aber eine ganz entscheidende Information über ihn. Im griechischen Originaltext wird der Kämmerer als Eunuch bezeichnet und zwar gleich fünfmal. Wer am Hof der Königin von Äthiopien Karriere machen wollte, musste seine Zeugungs­fähigkeit opfern. Es war für Herrscherin sicherer, sich mit Men­schen zu umgeben, die keine Machtinteressen für die eigenen Nach­kommen hatten. Unser Mann ist also verstümmelt worden, kastriert, vermutlich schon als Kind. Was für ein grau­sames Los. Wie schmerzhaft und wie demütigend. Er kann reich und mächtig werden, aber niemals Vater. Er kann eine Karriere vorweisen, aber Kinder UND Kult waren ihm ver­wehrt. Letzteres zumindest im Judentum, für das er sich ja offensichtlich interessiert, sonst wäre es nicht zum Tempel gereist und würde nicht die Heiligen Schriften studieren. In diesen Schriften steht aber: „Kein Entmannter oder Ver­schnittener soll in die Gemeinde des HERRN kommen.“ Vielleicht hat er das gerade auf seiner Reise erlebt: Dass er nicht dazugehören darf. Außen vorgelassen. Wie erniedrigend! Und dann liest er bei Jesaja: „In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen aufzählen?“ Und Philippus, der erzählt ihm von einem, der sich selbst hat erniedrigen lassen, damit keiner mehr so niedrig ist, dass er außen vorbleiben muss. Das spricht ihn persönlich an, das öffnet seine innere Herzenstür, lässt ihn hoffen, dass er doch dazugehören kann. Und er macht die Probe aus Exempel: Darf ich wirklich dazugehören? Was hindert, dass ich getauft werde? Nichts hindert. Philippus tauft ihn. Kein Wunder, dass der Äthiopier fröhlich wieder auftaucht!

Ein Wunder allerdings, dass Philippus ihn tauft. Heute wäre das nicht so einfach. Heute sind wir eine institutionalisierte Kirche und für den Vollzug der Taufe gibt es natürlich Richtlinien. Z.B. dass bei Kindertaufe mindestens einer der beiden Eltern in der Kirche sein muss, ein Pate oder eine Patin evangelisch. Das macht ja auch Sinn: Wie sollen Eltern oder Pat:innen ver­sprechen, ein Kind christlich zu erziehen, wenn sie selbst der Kirche den Rücken gekehrt haben? Das sind doch gute Hinderungs­gründe, oder?

Auch Philippus hätte gute Hinderungsgründe gehabt. Denn der Äthiopier ist ja nicht mal Jude. Und in den Anfängen war die Jesus-Bewegung eine reine inner-jüdische Angelegenheit. Die Frage, wer alles dazugehören kann, war noch gar nicht geklärt in der jungen Gemeinde. Darüber wird später heftig diskutiert: Können Menschen, die nicht Juden sind, können Unbe­schnittene über­haupt getauft werden? All das ist noch nicht entschieden und Philippus tauft erstmal einfach. Er klärt nicht vorher die Richtlinien, er stimmt sich nicht mit seinen Mitgläu­bigen ab. Er taucht einfach am Straßenrand auf, und dann taucht er mit dem Fremden ins Taufwasser ein und dann taucht er genauso wieder ab.

Heute nennt man so ein spontanes Auftauchen kirchlicher Mitarbeiter auf den Straßen Pop-Up-Church. Es ist ein Versuch unserer Kirche, weniger behördenhaft daherzukommen, weniger regulativ, sondern eben spontaner und offener, näher an den Menschen. Konkret sah das in Hamburg z.B. so aus, dass auf dem Jungfern­stieg Pastor:innen im Talar standen und Vorbeigehenden Segen anboten. In dem Bericht, den ich darüber gesehen habe, sah das ehrlich gesagt nach einer ganz fröhlichen Angelegen­heit aus.

Für uns kirchlich Geprägte ist das vielleicht etwas gewöh­nungs­­­­bedürftig. „Taufe to go“ – ist das ok oder macht sich da die frohe Botschaft zu billig? Stmoment, die Ritualagentur unseres Kirchen­kreises, probiert es aus. Auf ihrer Homepage heißt es: „Du möchtest gerne spontan getauft werden? Dann bist du bei unserem „Goldmoment“ am 6. September in der Hamburger Hauptkirche St. Jacobi genau richtig. Du kannst an diesem Tag
einfach vorbeikommen und musst vorher nichts tun. Vor Ort kannst du dich anmelden, lernst dein*e Pastor*in bei deinem Taufgespräch kennen, und wirst in einem geschützten Rahmen getauft.“ So schnell und unkompliziert kann es gehen. Was hindert, dass jemand getauft wird?

Das Ergebnis einer solchen Taufe ist dann vielleicht nicht ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinde (davon ist bei unserem Kämmerer übrigens auch nicht die Rede). Das Ergebnis ist vielleicht / hoffentlich, dass Menschen ihre Straße fröhlich ziehen.

Vor der Hauptkirche St. Jacobi jedenfalls, wo diese Spontan-Taufen gefeiert werden sollen, steht eine Bank, auf der steht: „Er zog aber seine Straße fröhlich.“ Die Bank steht unter den Pilgerwegweisern, denn der Heilige Jakob ist ja Schutzpatron der Pilger. Da passt unser Eunuch gut hin. Er ist ein Reisender, ein Sinnsuchender. Unterwegs mit seinen Verlet­zungen und mit der Sehnsucht, Heilung zu finden. So wie wir alle eigentlich. Wir suchen nach dem Beständigen, wenn unser Leben oder wenn die Welt aus den Fugen zu geraten scheint. Und vielleicht, schickt uns Gott ja auch einen Engel oder einen Philippus. Jemand der aufploppt in unserem Leben, der Zeit hat für unsere Fragen, der uns Türen öffnet, damit die frohe Botschaft auch uns ganz persönlich erreicht und die Pilgerreise unseres Lebens fröhlich wird. Unsere Kirche, sei sie nun spontan oder behördenhaft, sie hat mit Taufe und Abendmahl, mit dem Segen und den alten Worten Schätze zu bieten, die uns stärken können, damit auch wir unsere Straße fröhlich ziehen. Amen.

Predigttext: 2. Korinther 12, 1–10

Gerühmt muss werden; wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn. 2 Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren – ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? Ich weiß es nicht; Gott weiß es –, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel. 3 Und ich kenne denselben Menschen – ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es –, 4 der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann. 5 Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit. 6 Denn wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich kein Narr; denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört. 7 Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. 8 Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche. 9 Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne. 10 Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

„Gerühmt muss werden“ (V. 1) – so beginnt der Apostel Paulus den zweiten Teil seiner sog. Narrenrede, unseren heutigen Predigttext. „Gerühmt muss werden“ – das war anscheinend seine Erfahrung in der reichen, multikulturellen Hafenstadt Korinth, wo er wenige Jahre zuvor eine kleine, streitbare christliche Gemeinde gegründet hatte. Als er Korinth verlassen hatte, um in Ephesus und dann später in Makedonien zu missionieren, wandten sich Teile der Gemeinde anderen religiösen Lehrern zu, die wohl teils christliche, teils andere Ansichten verbreiteten. Um die und in der Gemeinde in Korinth war ein Wettstreit ausgebrochen: Wer ist der beste Leiter für uns? Wer kann am besten reden, wer sieht am besten aus? Wer passt zu uns und überzeugt uns?

„Gerühmt muss werden“, stellt Paulus fest. Ob er dies überdrüssig-entnervt oder von seinen Gemeindegliedern enttäuscht oder amüsiert sagt, wissen wir nicht. Jedenfalls begibt er sich aus der Ferne, schriftlich per Brief in den Wettkampf mit den anderen religiösen Autoritäten. Wem sollte der Ruhm, die Ehre gebühren, in der weltläufigen Stadt Korinth ein angesehener Mann des öffentlichen, philosophisch gebildeten Lebens zu sein? Welchen Ruhm beansprucht Paulus für sich?

Ich habe mich bei der Beschäftigung mit dem Text gefragt, was Ruhm eigentlich ist, wozu das Rühmen gut sein soll? Wen kennen wir, der sich gerne selbst rühmt, und wofür? Wer möchte sich solcher Aufmerksamkeit lieber entziehen? Und wofür, meinen wir, könnte uns selbst Ruhm gebühren?

Das ist für die meisten von uns, glaube ich, gar nicht so leicht zu sagen: Was wohl unsere Verdienste oder Leistungen sind, oder wofür wir gerne laut und öffentlich gerühmt würden… Gar nicht so leicht zu wissen!

Ich musste an ein Buch von Daniel Kehlmann denken, schon 2009 erschienen, das den Titel „Ruhm“ trägt. Kehlmann setzt sich darin phantasievoll und hellsichtig mit den Folgen zwischenmenschlicher Kommunikation per Mobiltelefon, Computer und Internet auseinander. In neun lose miteinander verknüpften Geschichten erzählt er zum Beispiel von dem Techniker Ebling, der sich ein Handy zulegt, dabei aber die noch aktive Nummer des Filmschauspielers Ralf Tanner zugewiesen bekommt. Ebling verabredet sich mit den Frauen, die den Schauspieler anrufen, und versucht auch, in dessen Geschäfte einzusteigen – ohne jedoch wirklich zur Tat zu schreiten. Nur virtuell ist er ein anderer geworden und partizipiert an Tanners Ruhm.

Eine andere Geschichte erzählt von einem Paar – er Schriftsteller, sie bei „Ärzte ohne Grenzen“ politisch engagierte Ärztin –, das sich zu einer Vortragsreise in Lateinamerika aufhält. Während er unter den Vorträgen, Lesungen und Empfängen leidet, gelangweilt und angestrengt ist, ist sie per Handy und PC völlig absorbiert vom Schicksal drei entführter Ärzte in Afrika. Spannung, Ansehen und Ruhm erleben die beiden nicht gemeinsam als Paar vor Ort, obwohl alles dafür da wäre, sondern getrennt und sie, die Frau, abgeleitet vom dramatischen Schicksal ihrer Kollegen.

Zwei Beispiele für den Umgang, die Sehnsucht oder Unsicherheit im Blick auf Ruhm in unseren Zeiten der digitalen Kommunikation, wo sich das Ansehen eines Menschen mitunter völlig von der realen Person und ihrem Erleben ablösen kann.

Ohne jetzt auf die möglichen problematischen Folgen von Social Media eingehen zu wollen, frage ich mich, welche Art von Ruhm und Ansehen darin heute vor allem gesucht wird? Aussehen, Kraft, Sex Appeal, Mut, Besitz, Experimentierfreude und Offenheit… Bilder von Stärke in den Vorstellungen und Inszenierungen unserer Zeit.

Je nach unseren eigenen Prägungen, unseren Interessen und wahrscheinlich auch je nach Alter werden wir auf das Eine oder Andere anspringen: Vielleicht auf Ästhetik, Weltgewandtheit, Offenheit oder Bildung…

Was bewundern, was rühmen wir am ehesten an einem Menschen?

„Gerühmt muss werden“ – stellt Paulus fest. Und dann rühmt er einen Menschen – es ist nicht ganz klar, ob er sich selbst, einen anderen oder eine Phantasiegestalt meint – der „ins Paradies entrückt“ wurde und „unaussprechliche Worte hörte, die kein Mensch sagen kann“ (V. 4). Der also Visionen und Auditionen hatte, besondere spirituelle Erlebnisse.

Ich glaube, wir erkennen hier wie durch einen Türspalt, wofür Paulus selbst eigentlich am liebsten gerühmt würde: Für seine Nähe zu Gott, sein Verständnis der göttlichen Offenbarungen und seine spirituellen Sensationen.

Aber zugleich weiß er: Genau das liegt eigentlich nicht an ihm. Dafür ist nicht er zu rühmen. Nähe zu Gott, spirituelle Erfahrungen, Glauben, Vertrauen kann man nicht selbst herstellen. Sie sind nicht Ausweis einer mentalen oder geistlichen Stärke, die wir selbst entfaltet hätten. Das macht ihm Gott – so deutet es Paulus – immer wieder deutlich, indem er ihm Schmerzen, Krankheiten, Anfechtungen, Schmähungen und Verfolgungen auferlegt. Das tut Gott, „damit ich mich nicht überhebe“ (V. 7), sagt Paulus.

Er legt damit seine eigenen inneren Kämpfe offen: Den Drang nach Ruhm, nach einem guten Namen, nach Anerkennung der Gemeinde in Korinth und auch der anderen Apostel – und zugleich sein Drang, Gott zu gehören, Gottes Nähe zu spüren, sich in Gottes Dienst zu stellen.

Ein Dilemma, groß und berühmt sein zu wollen, aber gleichzeitig gar nicht so sicher zu sein, was ich mir eigentlich selbst zuschreiben darf, was wirklich meine eigenen Verdienste ist.

So geht es manchmal Erbinnen und Erben, die vom Vermögen ihrer Eltern leben – nicht sicher, was sie von diesem Erbe eigentlich verdient haben. So geht es manchmal auch besonders begabten Menschen, denen viel zufällt, ohne dass sie sich dafür anstrengen mussten – und die dann gar nicht so sicher fühlen, was eigentlich ihr eigener Anteil am Erfolg ist.

„Damit ich mich nicht überhebe“, sagt Paulus, mich nicht überschätze, mir nichts Falsches einbilde über meine eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten – darum lässt Gott mich auch Krankheiten und Anfechtungen erfahren. Ein Gedanke, der sicherlich nicht im Umkehrschluss heißen soll: Gott bestraft unseren Übermut. Vielmehr die Erfahrung, in Krisen oder in Schwäche so auf mich selbst zurückgeworfen zu sein, dass ich zweifelsfrei erkenne, wer ich bin, was mich ausmacht, worin meine Kraft liegt.

Ist es meine Phantasie und Kreativität, die mir in Schmerzen oder Schwäche helfen? Ist es meine Geduld? Sind es Freundschaften, Beziehungen zu anderen, meine Liebesfähigkeit, die mich tragen? Ist es meine Freude am Denken, am Lernen oder an der Musik, die mir auch in Krisenzeiten andere Welten aufschließt?

Als ich am Freitag in der Diakoniestiftung im Mittelweg nach dem Gottesdienst die Bewohnerinnen fragte, was sie in Altersschwäche, Krankheiten oder Krisen für sich entdeckt hätten, antworteten sie fast wie aus einem Mund: Innere Kraft! Und auf meine Nachfrage, was das denn für sie sei, sagten sie: Furchtlosigkeit – keine Angst mehr vor körperlicher Schwäche, vor dem Vergessen, der Abhängigkeit von anderen zu haben. Geduld, sagte eine andere, Beharrlichkeit, Dranzubleiben am Leben, auch wenn es ganz anders geworden ist. Freude, meinte eine weitere, Freude über das, was ihr jeden Tag begegnet…

Paulus schreibt in eine ähnliche Richtung, wie er in den Tiefen und Kämpfen seines Lebens Gott kennengelernt hat: „Er – Gott – hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen. Denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit.“ (V. 9)

Paulus hat Gottes Nähe und Hilfe – so verstehe ich ihn – vor allem in den Phasen gespürt, in denen er äußerlich betrachtet schwach war. Krank oder einsam auf seinen vielen Reisen, verspottet oder in Gefangenschaft. Das, wofür er sich selbst am liebsten rühmen würde, was für ihn das Wichtigste und Beste ist – Gotteserkenntnis, Gottesnähe, geistliche Erfahrungen –, das konnte er dann am meisten, am intensivsten empfinden, wenn er schwach war. Zurückgeworfen auf sich selbst.

„Wenn ich schwach bin, so bin ich stark“ (V. 10), schließt Paulus seine Narrenrede. Wenn ich frei werde, kann ich Gott nah sein. Wenn ich leer werde, entsteht Raum für Gottes Gnade. Und das mag dann unser Schatz sein, unser Gewinn und unsere Freude!

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Predigttext: Epheser 2, 11-22

Darum denkt daran, dass ihr, die ihr einst nach dem Fleisch Heiden wart und »Unbeschnitten­heit« genannt wurdet von denen, die genannt sind »Beschneidung«, die am Fleisch mit der Hand geschieht, dass ihr zu jener Zeit ohne Christus wart, ausgeschlossen vom Bürgerrecht Israels und den Bundesschlüssen der Ver­heißung fremd; daher hattet ihr keine Hoffnung und wart ohne Gott in der Welt.

Jetzt aber in Christus Jesus seid ihr, die ihr einst fern wart, nahe geworden durch das Blut Christi. Denn er ist unser Friede, der aus beiden eins gemacht hat und hat den Zaun abgebrochen, der dazwischen war, indem er durch sein Fleisch die Feindschaft wegnahm. Er hat das Gesetz, das in Gebote gefasst war, abgetan, damit er in sich selber aus den zweien einen neuen Menschen schaffe und Frieden mache und die beiden versöhne mit Gott in einem Leib durch das Kreuz, indem er die Feindschaft tötete durch sich selbst. Und er ist gekommen und hat im Evangelium Frieden verkündigt euch, die ihr fern wart, und Frieden denen, die nahe waren.

Denn durch ihn haben wir alle beide in einem Geist den Zugang zum Vater. So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist, auf welchem der ganze Bau ineinandergefügt wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn. Durch ihn werdet auch ihr mit erbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist. 

Predigt:

Der Freundeskreis von Friederike und Michael existiert schon lange. Das passt einfach zusammen: Man ist beruflich gut etab­liert, kulturell interessiert, politisch informiert und auf ähn­licher Wellenlänge. Die Gespräche an den gemeinsamen Abenden sind immer anregend, die Kleidung casual, das Essen nach Rezepten von Ottolenghi.

Und dann bringt Theresa ihren neuen Partner mit. Alle sehen es auf den ersten Blick, er ist viel zu schick angezogen für ein Abend­­essen. Alle sehen es und ver­suchen, es zu übersehen, heißen ihn herzlich willkommen. Selbst­ver­ständ­lich, so ist man. Man bemüht sich, ihn ins Gespräch mit einzu­be­ziehen, aber er war nicht in der Marathonafführung von Haratisch­wilis „Das mangelnde Licht“, die gerade alle begeistert. Vielleicht ja im Kino? Ja, in Dune Teil 2, immerhin auch ein Marathon von fast 3 Stunden, aber das hat keiner der anderen gesehen. Das Gespräch mit ihm, so zugewandt und offen man auch sein möchte, ist müh­sam. Kai wird immer stiller. Mit Versuchen, ihn einzubinden, scheint man ihn noch mehr zu stressen, ihn einfach zu über­gehen, damit fühlt sich der Rest der Gesellschaft nicht wohl. Theresa und Kai gehen früh und kommen so schnell vermutlich nicht wieder, obwohl alle das wirklich bedauern.
Wer gehört dazu? Das ist die Frage.

In unsere deutschsprachige-evangelische Gemeinde in Paris kamen immer wieder Menschen, die aus Syrien oder Iran, aus Afghanistan oder Bangladesch geflüchtet waren, Menschen, die entweder schon dort Christen waren oder jetzt welche werden wollten. Warum sie genau bei der deutschsprachigen Gemein–de gelandet waren, keine Ahnung, sprachlich war es für sie überall schwierig, aber sie wollten dazugehören. Sie kamen regelmäßiger in den Gottesdienst, als alle noch so verbun­denen Gemeindeglieder, sie kamen zum Kirchenkaffee, zu den Veranstaltungen, sie hatten ja auch Zeit. Sie baten höflich um Gespräche, um Gebete, um gemeinsames Bibellesen. Sie wollten alles lernen über diesen Glauben, der für sie nicht nur ein Schutz vor Abschiebung sein sollte, sondern der sie ehrlich berührt hatte, weil er doch verspricht, dass alle willkommen sind. Sie wollten, dass in den Predigten über Jesus und seine Wunder gesprochen wird, nicht über Kochgurus und irgend­welche sozialen Blasen und Milieus.

Pastorin und Gemeindeglieder taten sich schwer, die Bedürf­nisse waren so weit auseinander. „Wir sind doch die Altein­gesessenen“ – sagten die deutschen Zugezogenen in Frank­reich – „wir dürfen doch sagen, wo es lang geht“. Andererseits über Jesus reden, kann ja auch nicht falsch sein. Die Gespräche veränderten sich also doch ein bisschen, die Ge­meinde veränderte sich ein kleines bisschen. Die Verstän­digung blieb immer auch schwie­rig. Oft klappte sie nicht. Manche der Neuen ver­schwan­den wieder, andere waren hartnäckig.
Wer gehört dazu?

Albanien, Bosnien und Herzegowina, Georgien, Moldau, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien, Türkei, Ukraine – sie alle wollen dazugehören, zur EU. Von manchen Ländern könnten wir vielleicht auf Anhieb nicht mal die Hauptstadt nennen. Und wir fragen uns: Wie stabil sind die demokratischen Systeme dort? Fangen wir uns da nicht ein neues „Ungarn“ ein, kann das die EU verkraften, wie verschiebt das die Balance zwischen Nettozahlern und -empfängern? Wen wollen wir wirklich als Mit-Bürger in der EU haben – mit all den Rechten, die wir schon lange genießen. Z.B. dem Wahlrecht, von dem Sie heute hoffentlich alle Gebrauch machen. (Der Hinweis musste jetzt natürlich sein!).
Also: Wer gehört zu uns?

Wer gehört dazu? – Die Frage hat schon die junge christliche Gemeinde umgetrieben und führte zu heftigen Konflikten. Ent­standen war die Jesusbewegung ja innerhalb der jüdischen Gemeinden, durch Menschen, die in Jesus den erwarteten Messias erkannt hatten. Aber nicht alle sahen das so, im Gegenteil, die meisten nicht. Stattdessen begeisterten sich Leute außerhalb des Judentums für die Botschaft von Jesus: Unbe­schnittene, also Heiden. Sollten die dazugehören? Die standen doch der jüdischen Religion gar nicht nahe und die ist die Voraussetzung für die Predigt vom Messias, auf griechisch vom Christus. Diese Leute waren „ausgeschlossen aus dem Bürgerrecht Israels“, wie es im Epheserbrief heißt. Und weiter im Zitat „den Bundesschlüssen der Verheißung fremd.“

Heiden und Juden, das waren streng getrennt Blasen, Welten. „Ihr wisst, dass es einem jüdischen Mann nicht erlaubt ist, mit einem Nichtjuden Umgang zu haben und zu ihm zu kom­men.“ sagt Petrus, als er den heidnischen Hauptmann Kornelius taufen soll – und dann trotzdem tauft, denn – und jetzt zitiere ich noch einmal unseren Epheserbrief: „Jetzt aber in Jesus Christus seid ihr, die ihr einst ferne wart, nahe geworden. Denn er ist unser Friede, der aus beiden eins gemacht hat und hat den Zaun abgebrochen, der zwischen uns war.“

Zäune aufbauen, Mauern aufbauen – ist so viel einfacher, als sie einzureißen. Denn was könnte da passieren, wenn man sie einreißt – da könnten ja viele kommen! Und es kamen vielen – zumindest viele Heidenchrist:innen. Die christliche Botschaft breitet sich aus von Palästina bis hierher zu uns und noch weiter. Wir würden sonst auch nicht dazu­gehören. Wäre dieser Zaun nicht eingerissen worden, gäbe es kein jüdisch-christ­liches Abendland.
Wer gehört dazu?

Dazugehören ist ein urmenschliches Bedürfnis. Wir alle wollen uns irgendwo beheimaten, verwurzeln; wir wollen ankommen, bleiben dürfen, ein Dach über dem Kopf haben und uns Zuhause fühlen. Der Schreiber des Epheserbriefes nimmt dieses Bild vom Zuhause auf und malt es aus. Er zeichnet das Bild vom „Vater­haus“, in dem Israel sozusagen das Geburtsrecht hat, in dem aber alle willkommen sind. Und zwar eben nicht nur als Besuch, der kommt und wieder geht, nicht nur als Gäste, die fremd in dem Haus sind, sondern als echte „Mitbürger der Heiligen“ so heißt es. Heute würde man vielleicht sagen: als WG-Mitbe­wohner gemeinsam und gleichberech­tigt mit Israel.

Und eben als „Gottes Hausgenossen“, denn als Vater-Haus ist es natürlich auch Gottes-Haus, und zwar ein ganz besonderes. Gotteshäuser kennen wir viele, wir sitzen hier in einem ganz besonders schönen. Aber Kirchen können zerstört werden, das Mahnmal St. Nikolai in der Innenstadt erinnert uns daran. Der zerstörte Tempel in Jerusalem erinnerte den Schreiber des Epheser­briefes und alle seine Leser:innen daran. Deswegen soll dieses neue Gotteshaus anders sein, nicht aus Backstein oder Ziegel, sondern ein Haus aus lebendigen Steinen. Funda­ment sind die Apostel, also diejenigen, die die Nachricht von Jesus in die Welt gesandt und sie auch für uns Nachkomm­en­de aufge­schrieben haben. Der Eckstein, der alles zusammen­­hält ist Jesus Christus selbst. Und darauf und daraus kann das Haus wachsen, mit lebendigen Steinen. Das sind all die Gläu­bigen, das wir sind, und diese Steine müssen ineinander­greifen, damit es hält.

Es ist ein schillerndes Bild: Wir bauen das Haus und bewohnen es auch. Unsere Arbeitskraft wird gebraucht, aber es wächst durch Gottes Geist und gibt uns Schutz und Obdach. Es ist ins­gesamt eine im wahrsten Sinn des Wortes „erbauliche“ Angele­genheit für uns.

Und dann kommt es wie bei jedem Haus: Man feiert Richtfest, Einzug und Hauswarming-Party, man ist Feuer und Flamme – das haben wir an Pfingsten gerade gefeiert. Aber dann gehen ein paar Wochen ins Land, und es staubt und der Putzplan muss geschrieben werden. Der Geist kam wie ein Beben von Himmel und hat Feuerzungen angezündet und dann versucht man, diese zum Dauerbrenner zu machen. Nach den Hochfesten – Ostern, Himmelfahrt, Pfing­sten, meinetwegen auch noch Trinitatisfest, sind wir heute am 2. Sonntag nach Trinitatis endgültig im Alltag gelandet, in dem Wissen, dass wir die nächsten Sonntage nur noch zählen: 3. nach Trinitatis, 4.,5.,6. bis zum 23. nach Trinitatis geht das jetzt so weiter. Der Soziologe Max Weber hat von der „Veralltägli­chung des Charis­mas“ gesprochen.

All das müssen die „Mitbewohner der Heiligen, die Hausbe­wohner Gottes“, muss die „göttliche WG“ erstmal aushalten und hinkriegen. Und – so macht dieser Text es unmissverständlich klar – dieses WG-Leben funktioniert nur, wenn es a) friedlich abläuft und b) wenn die Tür offen­bleibt. Wenn auch Fremde einziehen dürften und zu Mitbe­wohner:innen werden. „Denn Christus hat den Frieden gebracht denen, die fern waren und denen die nahe waren“, also denen, die das Hausrecht beanspruchen und denen, die Obdach suchen. Das ist die Verheißung und gleichzeitig die Herausforderung für diese Wohngemein­schaft.

Für jede Generation stellt sich diese Herausforderung anders dar: Wir heute haben ein schönes Haus, wir haben erbau­liche Orte und Gemeinschaften, gute Angebote, aber plötzlich gibt es gar nicht mehr viele, die wirklich darin und damit leben wollen. Im Gegenteil, sie wollen gar nicht Hausbe­wohner:innen werden, sondern Gäste bleiben. Sie wollen gerne kommen und wieder gehen. Sogenannte Passagere. Sie wollen z.B. in der Kirche getraut werden, nicht nur für die Party und die Kulisse, sondern für den Segen und für die durchbetete Atmosphäre, die dieser Raum ausstrahlt. Dafür sind sie em­pfäng­lich, danach gibt es ein Bedürfnis. Aber Kirchenmitglied wollen sie lieber nicht werden. Sie wollen zu Besuch kommen, aber nicht am Putzplan beteiligt werden. Machen wir denen die Tür vor der Nase zu? Oder sollen wir taufen, trauen, beerdigen ohne Kirchenmitgliedschaft, den Solidargedanken aushebeln, wenige die Arbeit machen und die Miete zahlen lassen?

Was der Autor des Epheserbriefes wohl dazu sagen würde? Was er schreibt ist: „Denn durch Christus haben wir alle in einem Geist Zugang zum Vater!“ Und der Geist weht bekanntlich, wo er will. Er hält sich nicht an Mietverträge und Hausregeln, auch wenn wir gerne diese Sicherheit und Klarheit wollen.

Das Bild vom Haus, das hier gemalt wird, ist vielleicht ein Traum­haus, eine Vision. Reich Gottes eben – das heißt es ist schon da, aber auch noch nicht ganz. Und doch gibt dieses Vaterhaus, dieses Gotteshaus uns, die wir hier sitzen, ein Dach über dem Kopf, ein Zuhause. Und wir tun hier das, was man in einer guten WG tut: Wir reden mitein­ander, wir streiten auch mal miteinander, wir teilen uns ein bisschen was von unserem Leben mit, wir bewahren auch unsere Privatsphäre, wir trösten und kritisieren einander – und wir essen miteinander. Und genau das wollen wir nun tun, wenn wir jetzt Abendmahl miteinander feiern und uns dabei ver­sichern, dass wir dazugehören, dass wir gemeinsam an einen Tisch gehören, weil Gott uns eingeladen hat. Amen.

 

 

 

 

 

Predigttext: Jeremia 23,16–29

So spricht der HERR Zebaoth: Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen! Sie betrügen euch, sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen und nicht aus dem Mund des HERRN. 17 Sie sagen denen, die des HERRN Wort verachten: Es wird euch wohlgehen –, und allen, die im Starrsinn ihres Herzens wandeln, sagen sie: Es wird kein Unheil über euch kommen. 18 Aber wer hat im Rat des HERRN gestanden, dass er sein Wort gesehen und gehört hätte? Wer hat sein Wort vernommen und gehört? 19 Siehe, es wird ein Wetter des HERRN kommen voll Grimm und ein schreckliches Ungewitter auf den Kopf der Gottlosen niedergehen. 20 Und des HERRN Zorn wird nicht ablassen, bis er tue und ausrichte, was er im Sinn hat; zur letzten Zeit werdet ihr es klar erkennen. 21 Ich sandte die Propheten nicht, und doch laufen sie; ich redete nicht zu ihnen, und doch weissagen sie. 22 Denn wenn sie in meinem Rat gestanden hätten, so hätten sie meine Worte meinem Volk gepredigt, um es von seinem bösen Wandel und von seinem bösen Tun zu bekehren. 23 Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist? 24 Meinst du, dass sich jemand so heimlich verbergen könne, dass ich ihn nicht sehe?, spricht der HERR. Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt?, spricht der HERR. 25 Ich höre es wohl, was die Propheten reden, die Lüge weissagen in meinem Namen und sprechen: Mir hat geträumt, mir hat geträumt. 26 Wann wollen doch die Propheten aufhören, die Lüge weissagen und ihres Herzens Trug weissagen 27 und wollen, dass mein Volk meinen Namen vergesse über ihren Träumen, die einer dem andern erzählt, so wie ihre Väter meinen Namen vergaßen über dem Baal? 28 Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht. Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen?, spricht der HERR. 29 Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der HERR, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt? 

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

Es gibt Kombinationen von Situationen und Bibelworten, die sind schwierig. Da prallen Gottes Wort und unsere Erwartungen unvereinbar aufeinander; da verdunkelt sich der Himmel über unserer Festfreude.

Mir geht es heute so mit dem Predigttext aus dem Buch des Propheten Jeremia. Gerade erst haben wir Nouriels Taufe gefeiert. Gerade erst haben wir am Eingang Freundinnen und Bekannte begrüßt, freuen uns jetzt zusammen zu sein – da donnert uns dieser Text entgegen.

So spricht der HERR Zebaoth: Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen! Sie betrügen euch; denn sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen und nicht aus dem Mund des HERRN.

Schon in der hebräischen Bibel trägt dieser Abschnitt den Titel „Über die Propheten“. Es ist kein zusammenhängender Text, sondern eine Sammlung von Worten, zusammengehalten durch die Frage: Wer sind die wahren Propheten? Woran erkennen wir, was wirklich Gottes Wort und was bloß menschlicher Traum ist?

Verkündet sind diese Prophetenworte dem Volk Israel, als es nach der Zerstörung des ersten Jerusalemer Tempels nach Babylon deportiert ist. Warnende Worte, sich jetzt in der Not des Exils nicht an die falschen Propheten zu hängen. Zugleich auch eine nachträgliche Reflexion der Gründe, die zur Katastrophe geführt haben: Auf wen hatte man gehört, und warum? Eine Auseinandersetzung mit der Verführbarkeit von Menschen – und mit der Fremdheit des Wortes Gottes.

Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen!

So hebt der Prophet Jeremia gegen seine Berufsgenossen an.

Sie betrügen euch; denn sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen und nicht aus dem Mund des HERRN. Sie sagen denen, die des HERRN Wort verachten: Es wird euch wohlgehen -, und allen, die nach ihrem verstockten Herzen wandeln, sagen sie: Es wird kein Unheil über euch kommen.

„Hört nicht hin! Glaubt nicht so schnell“ Manchmal möchte ich das Menschen sagen, die auf der Suche sind. Manchmal sage ich es mir selbst: Glaub nicht so schnell, du, ihr könntet entkommen! Wir könnten uns selbst kleine heile Welten bauen. Uns allein auf unsere Gesundheit, eine gute Work-Life-Balance, eine harmonische Umgebung konzentrieren. Glaub nicht so schnell, es wird kein Unheil über dich, über euch kommen! Nur weil du gute Ärzte, eine bessere Krankenversicherung, mehr Bildung, eine größere Familie hast als andere.

So bedrohlich ist unsere Situation im Blick auf die Demokratie in Europa, auf die vielen Kriege weltweit und den Klimawandel, dass viele von uns geneigt sind, sich zurückzuziehen. Uns auf unser eigenes Wohlergehen zu fokussieren und nach solchen tröstenden Botschaften auszustrecken, wie Jeremia sie zitiert: „Es wird euch wohlgehen. Es wird kein Unheil über euch kommen.“ Eure landwirtschaftlichen Flächen werden nicht dem Anstieg des Meeresspiegels zum Opfer fallen. Der Krieg wird nicht nach Westeuropa kommen. Unsere demokratische Verfassung hat Bestand.

Wir brauchen Hoffnung, um in die Zukunft zu gehen, um Kinder wie Nouriel und Emilian ins Leben zu begleiten und nicht den Lebensmut zu verlieren. Und gleichzeitig macht uns diese Sehnsucht nach Sicherheit, Trost und Zuspruch mitunter auch verführbar. Kann sie uns träge oder undifferenziert machen.

Der Prophet Jeremia tritt auf als ein Anwalt der Realität. Er benennt unsere Verführbarkeit und hält unserer inneren Not stand. Er will nicht Angst schüren, aber er will aufrütteln. Gar nicht so sehr gegenüber der äußeren, gesellschaftspolitischen Lage – wiewohl sich das Volk Israel in einer hoffnungslosen politischen Lage befand – als vielmehr gegenüber unserer inneren, emotionalen Lage. Er will uns sensibilisieren für unsere Neigung das auszublenden, was uns unangenehm ist, womit wir uns nicht befassen möchten. Er will die Spannung bewusst machen zwischen dem, was wir hören und glauben möchten – und dem, was wir Mühe haben wahrzunehmen oder anzuerkennen.

Aushalten, wahrnehmen können wir unsere eigenen Spannungen zwischen Sehnsucht und Angst, Wunsch und Wirklichkeit aber wohl nur im Vertrauen auf eine dritte Stimme, auf ein anderes, auf Gottes Wort. Das uns anders trägt als unsere eigenen Wünsche und Sorgen. Das Zukunft eröffnet, wo wir Angst haben sie zu verlieren. Gottes Wort, das Gottes Blick auf uns und seine Schöpfung spiegelt.

Davon spricht ein anderes Wort aus dem Predigttext:

Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist? Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt?, spricht der HERR.

Ich denke an Gespräche mit Kranken oder Trauernden, mit Menschen, die Schweres erleben und fragen: „Warum hilft Gott nicht? Ich fühle ihn nicht. Ich höre ihn nicht.“

Zu Zeiten kann Gott einem fern sein, so fremd! Man kann sich wie abgeschnitten fühlen, taub und blind für irgendwelche Worte oder Zeichen der Liebe Gottes! Das gilt nicht nur für Krisen, das berührt Fragen, die sich viele stellen: Wie kann ich sicher sein, dass es Gott gibt? Wie zeigt sich mir Gottes Kraft?

Jeremia hält auch hier der menschlichen Sehnsucht stand: Nicht die Nähe, Liebe oder den Segen Gottes verkündet er, sondern seine Abständigkeit und Fremdheit. Gott „haben“ wir nicht wie einen Schutzmantel; Gott „kennen“ wir nicht wie einen Freund. Gott sprengt unsere Vorstellungen und läuft sicher so manchen unserer Gedanken und Wünsche zuwider.

Gott ist so groß und fern, sagt Jeremia, dass er Himmel und Erde ausfüllt. Seine Ferne begründet zugleich die Fülle seiner Herrschaft und Gegenwart. Während Nähe verkleinern und einengen kann, kann Ferne Raum schaffen, Luft zum Atmen und Denken geben.

Jeremia verkündet uns einen Gott, der nah und fern ist zugleich. Der uns Menschen als Gegenüber anspricht und zugleich in die Freiheit entlässt.

Wie aber von diesem Gott reden? Wie können wir, wie kann ich sicher sein, dass ich euch nicht meine Träume, sondern Gottes Wort verkünde?

Auf diese Gefahr weist ein dritter Vers aus dem Predigttext hin:

Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht.

Ich höre diese Mahnung als eine Aufforderung, Gott nicht vorschnell zu vereinnahmen. Und auch anzuerkennen, dass manche Einsichten, die wir heute in der evangelischen Kirche formulieren, durchaus nicht von innen, aus der Kirche heraus angestoßen wurden, sondern von anderen außerhalb der Kirche mutig vorangetrieben wurden. Ob dies die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung betrifft oder den kritischen Blick auf die frühere Missionsarbeit der Kirchen oder das Engagement für Klima und Umweltschutz. Wir sind als Christen nicht davor gefeit, Gottes Wort misszuverstehen, sind angewiesen auch auf die Fragen und Einsichten anderer.

Ich höre Jeremias Wort als eine Aufforderung, für unseren Glauben das richtige Zeugnis zu geben. Aber wie geht das, Gottes Wort „recht“ zu predigen? Unseren Kindern und Enkeln in einer angemessenen Sprache, in guten Bildern von Gott zu erzählen? Im Kollegenkreis den eigenen Glauben nicht zu verschweigen? Den „rechten“ Moment zu erkennen, um Gottes Wort durch unser Handeln zu bezeugen?

Dazu sind wir ja alle gerufen: die frohe Botschaft weiterzugeben, so schwer uns das oft fällt, weil uns die rechten Worte fehlen oder weil es die anderen schlicht nicht interessiert. Wie von Gott reden, wenn Gott fern und fremd ist und wir vor allem menschliche Worte im Ohr haben? Wie Gottes Stimme von den Stimmen in uns selbst unterscheiden?

Einen Hinweis gibt uns Jeremia, dieser widerständige, unbequeme Prophet:

Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der HERR, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?

Drohend und erschreckend klingt das. Als könne wahre Prophetie nur Unheilsprophetie sein. Eine Lust an Zerstörung und Untergang kann man daraus hören. Aber es steckt noch etwas anderes darin: Eine Verkündigung, die sich jenseits eingefahrener Hörgewohnheiten bewegt. Die von uns fordert, Abstand zu nehmen von der Sehnsucht nach Beruhigung und Trost. Die uns etwas von der Abständigkeit und Fremdheit Gottes zumutet.

Ihr, liebe Michelle und lieber Danny, habt für Nouriel als Taufspruch das Wort aus dem Johannes-Evangelium ausgesucht:

Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben. (Joh 8,12)

Und damit verbindet sich für uns – und auch für Jesus selbst – die Erwartung, dass Gottes Wort wie Gottes Sohn für uns wie ein unmissverständlich erkennbares Licht wirken. Dass Gottes Wort Orientierung schafft, wo wir uns unklar sind darüber, was zu tun ist. Dass es hilft die Geister zu scheiden, wenn es um Menschenfreundlichkeit oder Menschenverachtung, um Zuwendung oder Hass geht. Dass Gottes Wort die Dunkelheit nicht scheut, weder die Finsternis unserer Zukunftsängste noch die unserer inneren Nöte – sondern dort wirkt, wo wir uns der Nähe und auch der Ferne Gottes aussetzen, den unvorstellbaren Möglichkeiten der Wahrheit Gottes.

So gebe Gott uns seinen Heiligen Geist, dass er uns helfe, Gottes Wort recht zu hören und die Geister zu scheiden! Amen.

Predigttext: Epheser 1, 3–14

Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen im Himmel durch Christus. 4 Denn in ihm hat er uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war, dass wir heilig und untadelig vor ihm sein sollten in der Liebe; 5 er hat uns dazu vorherbestimmt, seine Kinder zu sein durch Jesus Christus nach dem Wohlgefallen seines Willens, 6 zum Lob seiner herrlichen Gnade, mit der er uns begnadet hat in dem Geliebten. 7 In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden, nach dem Reichtum seiner Gnade, 8 die er uns reichlich hat widerfahren lassen in aller Weisheit und Klugheit. 9 Gott hat uns wissen lassen das Geheimnis seines Willens nach seinem Ratschluss, den er zuvor in Christus gefasst hatte, 10 um die Fülle der Zeiten heraufzuführen, auf dass alles zusammengefasst würde in Christus, was im Himmel und auf Erden ist, durch ihn. 11 In ihm sind wir auch zu Erben eingesetzt worden, die wir dazu vorherbestimmt sind nach dem Vorsatz dessen, der alles wirkt, nach dem Ratschluss seines Willens, 12 damit wir zum Lob seiner Herrlichkeit leben, die wir zuvor auf Christus gehofft haben. 13 In ihm seid auch ihr, die ihr das Wort der Wahrheit gehört habt, nämlich das Evangelium von eurer Rettung – in ihm seid auch ihr, als ihr gläubig wurdet, versiegelt worden mit dem Heiligen Geist, der verheißen ist, 14 welcher ist das Unterpfand unsres Erbes, zu unsrer Erlösung, dass wir sein Eigentum würden zum Lob seiner Herrlichkeit.

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von dem,
der da ist und der da war und der da kommt!

Die Fragen nach dem Großen und Ganzen, nach dem berühmten „Sinn des Lebens“ – manchmal kommen sie ganz unschuldig und unverhofft daher. Wie auf der Fähre nach Dänemark, als ein kleiner Junge neben mir stand, sich am Geländer festhielt, nach unten in die grau-blauen Fluten schaute und seine Mutter fragte: „Und was war da vor dem Meer?“ Oder als meine kleine Enkeltochter auf die Aussage, dass ihr verstorbener Urgroßvater jetzt im Himmel sei, fragte: „Und wo im Himmel?“ Die großen Fragen, die manchmal gar nicht so leicht zu beantworten sind …

Unser Predigttext heute, der Anfang des Epheserbriefes – er gibt uns seine Antwort. Eine Antwort des Urchristentums auf die Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält. Er antwortet darauf mit einem großen Gotteslob:

Gelobt sei Gott,
der Vater unseres Herrn Jesus Christus,
der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen
im Himmel durch Christus.
In ihm hat er uns erwählt,
ehe der Welt Grund gelegt war (V. 3+4)

Vor Beginn der Zeit, bevor es die Erde und die Meere gab, hat Gott uns Menschen gesegnet mit „allem geistlichen Segen“. Vor der Zeit, in der Ewigkeit, die unsere Zeit umspannt, hat Gott uns schon mit seinem Heiligen Geist und Segen bedacht.

In mir klingt bei diesen Worten das Weihnachtslied an „Ich steh an deiner Krippen hier“, in dem wir Christi Geburt besingen. Da formuliert Paul Gerhardt den gleichen Gedanken so:

„Eh ich durch deine Hand gemacht,
da hast du schon bei dir bedacht,
wie du mein wolltest werden.“ (EG 37, 2)

Diese innige, heilvolle Beziehung zwischen Gott und seinen Menschen – sie bildet für die Christinnen und Christen des Epheserbriefes den Grund des Lebens. Sie ist der Referenzrahmen für die Fragen nach Sinn und Zweck, Ethik und Glaube, Bestimmung oder Zukunft.

Gelobt sei Gott,
der Vater unseres Herrn Jesus Christus,
der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen
im Himmel durch Christus. (V. 3)

Dieser Segensraum unseres Lebens wird dann in den folgenden Strophen des großen Lobgesanges ausgemalt und ausbuchstabiert.

Beschrieben wird, wie sich der Segen Gottes des Vaters durch seinen Sohn für uns konkretisiert. Wie Jesus Christus der irdische Mittler des Segens ist und im Zentrum des Kraftfeldes steht, in das wir durch ihn hineingenommen sind:

In ihm hat Gott uns erwählt,
seine Kinder zu sein. (V. 4+5)
In ihm sind wir von den Mächten des Bösen befreit,
ist uns vergeben. (V. 7)
In ihm wissen wir die Geheimnisse Gottes. (V. 9)
In ihm sind wir als Erben eingesetzt (V. 11),
dass wir aus der Fülle des Segens leben
und Gott dafür danken. (V. 12+14)

Abstrakt mögen diese Bilder und Begriffe auf uns wirken. Fern der Fragen nach dem Sinn des Lebens, wie sie uns heute überfallen können, wenn wir denken an die Kriege, die weltweite Aufrüstung oder den Klimawandel, oder wenn wir miterleben, wie Menschen unter die Räder geraten oder Krankheit das Leben bedroht. Auf solche Fragen scheint das große Gotteslob des Epheserbriefes nicht unmittelbar zu antworten; mag die Vorstellung vom geistlichen Segensraum Gottes für uns nicht gleich zu greifen.

Ich denke, vielleicht geben uns die keltischen Christinnen und Christen des Mittelalters einen Schlüssel an die Hand, können uns mit ihren Traditionen und Vorstellungen eine Brücke bauen:

Für die Kelten war es Jesus Christus, der sie faszinierte und der sie für diesen neuen Gott einnahm, sodass sie Christen wurden. Ein Gott, der die Gestalt eines Menschen annimmt, um ihnen auf Erden nahe zu sein. Jesus Christus wollten sie folgen. Von ihm erwarteten sie auch den Schutz und die Stärke, die sie brauchten, um auf ihren rauen und gefährlichen Wanderungen, in ihren vielen Kämpfen zu bestehen.

Zu den bekanntesten Schutzgebeten der keltischen Christen gehören die „Circle Prayers“, die Kreisgebete. Wenn die keltischen Heiligen bedrängt oder angegriffen wurden, zogen sie in der Richtung des Sonnenumlaufs einen Kreis um sich herum, den sogenannten „Caim“. Sie machten sich auf diese Weise die Gegenwart Gottes bewusst. So, wie wohl auch die keltischen Steinkreise Sonnenkalender und Gottesraum in einem darstellen.

Eins der ältesten Kreisgebete, das bis heute bekannt ist, geht auf den Schutzheiligen Irlands zurück, auf Saint Patrick. Es wird bis heute als Segenswunsch gesprochen:

„Der Herr sei vor dir,
um dir den rechten Weg zu zeigen.

Der Herr sei neben dir,
um dich in die Arme zu schließen
und dich zu schützen.

Der Herr sei hinter dir, um dich zu bewahren
vor der Heimtücke böser Menschen.

Der Herr sei unter dir, um dich aufzufangen,
wenn du fällst, und dich aus der Schlinge zu ziehen.

Der Herr sei in dir, um dich zu trösten,
wenn du traurig bist.

Der Herr sei um dich herum,
um dich zu verteidigen,
wenn andere über dich herfallen.

Der Herr sei über dir, um dich zu segnen.

So segne dich der gütige Gott.“

„Der Herr“ – das ist der alte Titel für Jesus Christus, mit dem wir ihn auch in der Liturgie anrufen: „Kyrie eleison“.

Christus zu imaginieren und ihn anzurufen – ihn vor mich, neben mich, hinter mich, unter und über mich zu rufen – das ist nicht Aberglaube oder Magie. Sondern ein Gebet, mit dem man gedanklich einen Kreis um sich zieht, vielleicht sogar mit sichtbaren und spürbaren Gesten. Zeichen, die helfen, nicht nur mit dem Kopf und nur nach oben zu Gott hin zu beten, sondern auch mit dem Körper das Anliegen in alle Richtungen nachzuvollziehen.

Körperlich spüren zu können, was unseren Verstand übersteigt. Räumlich zu markieren, was geistlich und ewig ist: Gottes Segensraum, in den wir von Anbeginn gerufen sind. In dessen Mitte, an dessen Rändern Jesus Christus steht, der uns mit dem Heiligen Geist anrührt und uns Schutz schenkt, Trost und Frieden.

So, wie wir zum Segen einander die Hand auf den Kopf, die Schulter oder den Rücken legen, um Gottes heilsame Kraft deutlicher zu spüren, so kann ein „Circle Prayer“ helfen, uns die Gegenwart Gottes bewusst zu machen. Zum Beispiel vor einem schwierigen Gespräch, auf das wir uns innerlich vorbereiten, vor Aufgaben, die uns einschüchtern, oder in Gedanken, die uns bedrängen. Wenn man sich schutzlos fühlt, kann man im Gebet mit der Hand, in Gedanken oder Worten einen Kreis um sich schlagen. Um in uns wachzurufen und uns zu vergegenwärtigen: Wir stehen in Gottes Schutz- und Segensraum. Wir sind „in Christus“.

Für mich gehört diese Vorstellung vom „Raum“ Gottes, in den wir gestellt sind, zu den wesentlichen Einsichten der sogenannten Trinitätslehre. Erst die Dreifaltigkeit spannt einen heiligen Raum auf, der die Zweierbeziehungen von Vater und Sohn, Gott und Geist, Gott und Mensch weitet. Der den Glauben ermöglicht, dass wir uns im Kraftfeld der Liebe Gottes bewegen können, dass wir von Gott umgeben sind.

Geliebt von Gott, geschützt durch Jesus Christus, berührt vom Heiligen Geist. Von Anbeginn, wie es der Epheserbrief sagt, „gesegnet mit allem geistlichen Segen“ (V. 3).

Dieser Segensraum Gottes sei der Grund unserer Fragen. Er gebe uns den Halt, die Orientierung und Kraft, die wir zum Leben brauchen. Amen.

Predigttext: Ezechiel 37, 1-14

Die Lesung aus dem Alten Testament zugleich der Predigttext, ist eine Vision des Propheten Ezechiel.

Des HERRN Hand kam über mich, und er führte mich hinaus im Geist des HERRN und stellte mich mitten auf ein weites Feld; das lag voller Totengebeine. Und er führte mich überall hindurch. Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: HERR, mein Gott, du weißt es. Und er sprach zu mir: Weissage über diese Gebeine und sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret des HERRN Wort! So spricht Gott der HERR zu diesen Gebeinen: Siehe, ich will Odem in euch bringen, dass ihr wieder lebendig werdet. Ich will euch Sehnen geben und lasse Fleisch über euch wachsen und überziehe euch mit Haut und will euch Odem geben, dass ihr wieder lebendig werdet; und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin.

Und ich weissagte, wie mir befohlen war. Und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich und die Gebeine rückten zusammen, Gebein zu Gebein. Und ich sah, und siehe, es wuchsen Sehnen und Fleisch darauf und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen.

Und er sprach zu mir: Weissage zum Odem; weissage, du Menschenkind, und sprich zum Odem: So spricht Gott der HERR: Odem, komm herzu von den vier Winden und blase diese Getöteten an, dass sie wieder lebendig werden! Und ich weissagte, wie er mir befohlen hatte. Da kam der Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und stellten sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer.

Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, jetzt sprechen sie: Unsere Gebeine sind verdorrt, und unsere Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns. Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will eure Gräber auftun und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf und bringe euch ins Land Israels. Und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin, wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus euren Gräbern heraufhole. Und ich will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt, und will euch in euer Land setzen, und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin. Ich rede es und tue es auch, spricht der HERR.

Predigt:

Großes Kino, was uns Ezechiel da bietet. Wer ist das überhaupt dieser Prophet? Jesaja, hat man schon mal gehört und Jeremia, aber Ezechiel oder Hesekiel? Schon der Name – der übrigens „Gott möge kräftig machen“ bedeutet – also schon der Name ist schwer auszusprechen. Und schwer zu verdauen ist vieles, was in seinem Buch zu lesen ist: Entrück­ungen, apokalyptische Visionen, drastische Zeichen­handlungen werden von ihm berichtet. In der älteren Forschung hat man seinen Gemütszustand bisweilen als schizophren dia­gnostiziert. Also Ezechiel fällt schon mal aus der Rolle, aber solche Fern­diagnosen über die Jahrtausende finde ich dann doch ziemlich gewagt.

Also wer ist dieser Ezechiel und was hat er uns zu sagen?
Priester war er, so kann man nachlesen, und Angehöriger einer einflussreichen Jerusalemer Familie. 597 v. Chr., als das Groß­reich Babylon das schwache Israel erobert und die oberen Zehntausend (daher stammt übrigens diese Redewendung) ins Exil führt wird, ist er, Ezechiel, dabei. Er wird in die Exulanten­siedlung Tel Abib am großen Kanal in Babylonien verschleppt.

Das ist vermutlich, wie wenn man aus einer Harvestehuder Villa in eine Flüchtlingsunterkunft mit vielen anderen und ohne jede Privatsphäre verpflanzt wird, in einem Land, in der die eigene Sprache und Qualifikation nicht mehr zählt und man kein An­recht auf Mindestlohn hat, geschweige denn eine Arbeitser­laubnis. Dafür Zwangsarbeit leisten darf, und zwar in der Land­wirtschaft, so war das damals am Großen Kanal in Babylon.

In der Trostlosigkeit dieses Exils ergreift Gottes Geist unseren Ezechiel und lässt ihn Unglaubliches sehen. Vielleicht hatten Sie vorhin – bei der Lesung und der Musik innere Bilder vor Augen: Da ist ein riesiges Feld von Gebeinen, über das der Hauch des Todes weht. Grinsende Totenschädel, verstreute Knochen – soweit das Auge sehen kann. Eine Horrorvision.

Und doch gibt es solche Totenfelder ja leider ganz real. Es gibt sie die verdorrten Gebeine, die zurückbleiben auf den Flucht­routen durch die afrikanische Wüste, verzweifelte Menschen, die das Mittel­meer nie erreichen. Das Mittelmeer ist selbst ein Massen­grab geworden für Tausende Flüchtende jährlich. Und natürlich gibt es die Totenfelder auf den Kriegsschau­plätzen: Leichen auf den Straßen von Butscha, im Kibbuz Beeri, unter den Trümmern in Gaza.

Abgründe der Unmenschlichkeit werden uns da gezeigt und viele dieser verdorrten Gebeine werden vergessen oder bekommen im besten Fall ein Andenken gegen das Vergessen, rücken ein in die Erinnerungskultur. Manchmal mag es gelin­gen, dass Unrecht zur Sprache kommt, dokumentiert wird in Prozess­akten. Das macht die Toten allerdings nicht lebendig.

Meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden? fragt Gott Ezechiel.
Meinst du wohl….
Meinst du, da geht noch was?
Meinst du, es gibt Hoffnung?
Meinen wir angesichts der Totenfelder, deren Andenken wir wahren oder die wir Menschen gerade ganz aktuell neu schaffen, meinen wir angesichts dessen, dass diese Welt noch zu retten ist? Was meinen Sie?

Die Horrorvision des Ezechiel ist auf jeden Fall nicht das Ende des Kapitels, sondern der Anfang. Da passiert etwas auf dem Totenfeld: Die Knochen rücken zusammen, sortieren sich, finden sich zu Körpern, Sehnen bilden sich, Fleisch und Muskeln, Haut umschließt sie, Haare wachsen, Gesichter werden erkennbar. Ein Wind hebt sich, ein Atmen, er bläst Leben in die verdorrten Körper.

Odem, Hauch, Wind, Atem, Geist – auf Hebräisch heißt all das Ruach. Und diese Ruach – sie ist tatsächlich weiblich – eine Geistkraft also eher, sie ist schon von Anfang an da. Schon als die Erde wüst und leer war, schwebt die Geistkraft Gottes über dem Wasser und wird kurz darauf dem Menschen als Leben eingehaucht.

Diese Geistkraft ist der zentrale Begriff der Vision und der Grund, warum wir sie inzwischen nicht mehr an Ostern, sondern an Pfingsten bepredigen. Es ist nicht wirklich eine Auf­erstehungsgeschichte, auch wenn sie auf den ersten Blick so daherkommt, sondern eine Geist-Geschichte. Im Gespräch mit seinem Propheten Ezechiel, den Gott diese Wandlung vom Horror zur Hoffnung schauen lässt, erklärt er zum Schluss, was da geschieht. Die Deutung wird also netterweise mitge­liefert:

„Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, jetzt sprechen sie: Unsere Gebeine sind verdorrt, und unsere Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns.“

Die Israeliten befinden im Exil, ihr Land ist verwüstet, Jerusalem zerstört und das Volk sitzt an den Flüssen von Babylon und weint. Sie haben ihre Hoffnung verloren. Sie glauben nicht mehr an eine Rückkehr und Rettung, sie werden untergehen. Verdorrt, verloren, vorbei. Babylon hat Israel das Existenzrecht genommen.

Und dahinein sagt Gott: „Ich meine sehr wohl, das geht noch was.“
„Siehe, ich will eure Gräber auftun und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf und bringe euch ins Land Israels. Und ich will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt, und will euch in euer Land setzen. Ich rede es und tue es auch, spricht der HERR.“

Ein Hoffnungsbild für Israel und was für eines. Und Gott tut es! Er führt sein Volk heraus aus dem Exil, Jahrzehnte später unter dem Perserkönig Kyrus dürfen sie zurückkehren und bauen ihr Land wieder auf.

Und Jahrhunderte später kehren sie zurück aus den Gräbern und Gaskammern Deutschlands und Europas. Sie kehren zurück in diesen Landstrich und gründen den Staat Israel.

„Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr.“

Ich erinnere hier noch einmal an den Wochenspruch, denn ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich kann diese Worte vom Volk Israel, das Gott in sein Land setzen will, nicht lesen, und gleichzeitig ausblen­den, was gerade in diesem Land geschieht und welche Toten­felder dort neu entstanden sind und entstehen und welche Horrorvision dort gerade Realität wird.

Da sind die Bilder vom entsetzlichen Massaker am 7. Oktober und von der humanitären Katastrophe im Gazastreifen jetzt. Und wieder tun sich menschliche Abgründe auf und wieder schreien die Gebeine der Toten – und dabei ist es egal, ob sie auf Hebräisch oder Arabisch schreien.

Die Frage ist gleich:
Meinst du wohl….?
Meinst du wohl, da geht noch was?
Meinst du wohl da gibt es Hoffnung, Hoffnung auf Leben und Zukunft? Hoffnung auf den Wind, den Gott herbeiruft, auf den Geist? Auf eine Geistkraft, die für Frieden sorgen kann, für Verstän­digung zwischen den Sprachen, den Kulturen, den Völkern. Und dieses Fragen hinein hören wir heute die Geschichte von Pfingsten, vom Geist, der ausgegossen wird, und alle können sich verstehen und verständigen.
Meinst du wohl da geht noch was….?

So haben sich vermutlich auch die Jünger und Jüngerinnen damals in Jerusalem gefragt. Die ganze Stadt feiert ausgelassen das Schawuotfest und sie sitzen drinnen hinter verschlossenen Türen. Sie haben auch ein Totenfeld vor Augen, eine Schädelstätte, genannt Golgatha. Ein Kreuz und die ausgetrockneten Gebeine ihres geliebten Freundes. Ins Grab haben sie die gelegt. Und dann haben sie ihn wieder­gesehen irgendwie lebendig, aber nicht greifbar, bei ihnen, aber dann doch entrückt in den Himmel. Das alles ist so verwirrend, sie verstehen das nicht, können nicht damit um­gehen. Die Trauer lähmt sie noch immer, sie haben Angst, wissen nicht, wohin mit sich. So sitzen sie hinter verschlos­senen Türen, igeln sich ein, machen dicht.

Und dann passiert etwas: Dann wird der Wind herbeigerufen wie damals bei Ezechiel. Ein frischer Wind bläst durch das Haus, wie ein Brausen und Beben, so erzählt es die Pfingstgeschichte. Er öffnet die Fenster und Türen des Hauses und die Herzen der Jünger. Er treibt sie nach draußen. Er be-geistert sie. Sie sind Feuer und Flamme. Leben kommt in sie, mit diesem Hauch, Atmen, Wind, die Geistkraft bringt das Leben zurück und die Hoffnung.

Meinst du da geht noch was?
Meinst du es gibt Hoffnung für diese Welt?
Für den Nahen Osten, für die Ukraine, für diesen gebeutelten Planeten?
Nein, sagen sicher die Pessimisten.
Nein, sagen vielleicht auch die Realisten.
„HERR, mein Gott, du weißt es.“ – sagt Ezechiel
Und Gott sagt: Ja, da geht noch was. Mein Geist geht, er weht, er kommt. Er schafft neues Leben. Das ist die Hoffnung, die Pfingsten uns predigt.

Hoffnung auf Neuanfang, für den uns Gott die Kraft schenkt. Das heißt nicht, dass uns alles in den Schoß fällt. Als die Israeliten damals aus dem Exil heimkehrten, wich die Euphorie schnell der Ernüchterung. Sie kamen in eine zer­störtes Nachkriegsland, der Aufbau war mühsam und dauerte Jahrzehnte. Neuanfang ist mühsam. Als die Juden und Jüdinnen vor den Pogromen und aus den KZs nach Zion flüchteten, wurden sie nicht mit offenen Armen empfangen. Wie schwierig die Geschichte des Staates Israels ist, erleben wir ja gerade ganz aktuell. Neuanfang ist nicht ein Happy End, es ist eben ein Anfang. Aber dass es einen Anfang geben kann, wenn alles zuende scheint, Lebensodem, wo Todeshauch zu spüren war, das ist der Geist der Hoffnung, den wir heute an Pfingsten feiern.

Schließen möchte ich mit einem Text von Dietrich Bonhoeffer über diese Hoffnung:
„Mich beschäftigt die Behauptung“, schreibt Dietrich Bonhoeffer, „dass kein Mensch ohne Hoffnung leben kann, und dass Menschen, die wirklich alle Hoffnung verloren haben oft wild und böse werden. Es bleibt dabei offen, ob hier Hoffnung gleich Illusion ist. Gewiss ist auch die Bedeutung der Illusion für das Leben nicht zu unterschätzen; aber für Christen kann es sich doch wohl nur darum handeln, begründete Hoffnung zu haben. Und wenn schon die Illusion im Leben des Menschen eine so große Macht hat, dass sie das Leben in Gang hält, wie groß ist dann erst die Macht, die eine absolut begründete Hoffnung für das Leben hat und wie unbesiegbar ist so ein Leben.“ Amen.

Predigttext:

Jesus zeigt sich den Aposteln nach seinem Leiden durch viele Beweise als der Lebendige und ließ sich sehen unter ihnen vierzig Tage lang und redete mit ihnen vom Reich Gottes. 4 Und als er mit ihnen beim Mahl war, befahl er ihnen, Jerusalem nicht zu verlassen, sondern zu warten auf die Verheißung des Vaters, die ihr – so sprach er – von mir gehört habt; 5 denn Johannes hat mit Wasser getauft, ihr aber sollt mit dem Heiligen Geist getauft werden nicht lange nach diesen Tagen. 6 Die nun zusammengekommen waren, fragten ihn und sprachen: Herr, wirst du in dieser Zeit wieder aufrichten das Reich für Israel? 7 Er sprach aber zu ihnen: Es gebührt euch nicht, Zeit oder Stunde zu wissen, die der Vater in seiner Macht bestimmt hat; 8 aber ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde. 9 Und als er das gesagt hatte, wurde er vor ihren Augen emporgehoben, und eine Wolke nahm ihn auf, weg vor ihren Augen. 10 Und als sie ihm nachsahen, wie er gen Himmel fuhr, siehe, da standen bei ihnen zwei Männer in weißen Gewändern. 11 Die sagten: Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und seht gen Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg gen Himmel aufgenommen wurde, wird so wiederkommen, wie ihr ihn habt gen Himmel fahren sehen. 

Predigt:

Als meine Oma starb, dachten alle, jetzt muss Opa ins Heim. Meine Oma hat immer alles gemacht. Klassische Rollenauf­teilung damals: Sie hat den Alltag organisiert, hat gekocht, Wäsche gewaschen, meinem Opa rausgelegt, was er morgens anziehen sollte, dass sie ihn nicht angezogen hat, war eigent­lich alles. Als sie weg war, war er total hilflos. Saß im Sessel und starrte auf das Sofa, wo sie immer gesessen hatte. Meine Eltern haben also nach einem Heimplatz gesucht, aber es gab lange Wartelisten. Dann haben sie versucht, eine Betreuerin zu engagieren, die ins Haus kommt, aber die fand man damals auch nicht so einfach.
Wir waren so damit be­schäftigt, eine Lösung zu finden, dass wir gar nicht mitbe­kommen haben, dass Opa irgendwann aufgestanden ist aus seinem Sessel. Einmal kam mein Vater zu ihm ins Haus und stellte fest: Alle Schranktüren standen offen: Küchenschränke, Kleider­schränke, Keller­schränke, alles. „Ich muss doch sehen können, wo was ist!“ war der Kommentar meines Opas. Seine Klamotten hatte er alle gefunden. Die Kombinationen, die er seitdem trug, waren seltsam, aber alles war am Mann: frische Socken, Hose, Hemd, Pulli. Und dann ließ er sich von meinem Vater erklären, wie die Wasch­maschine funktioniert. Im Küchen­schrank hatte er die alte Kladde mit Rezepten gefunden, hand­geschrieben von meiner Oma. Nachdem er eine gefühlte Ewig­keit nur von Käsebroten gelebt hatte, fing er mit Kartoffeln an. Die ersten waren total verkocht. Er aß sie trotzdem. „Gemüse“, sagte er, „ich muss lernen, Gemüse zu kochen. Sie hat immer gesagt, das brauchst du, das ist gesund“. Und er mühte sich mit seinen alten Händen, Karotten zu schälen. Schließlich kochte er sie einfach ungeschält, nur gut gewaschen, ging ja auch. Er ging zur Bank und ließ sich erklären, wie man eine Über­weisung ausfüllt und wie man an Bargeld kommt. Der Ange­stellte dort war wohl sehr freundlich und geduldig.

Irgendwann holte er beim Drogeriemarkt große blaue Säcke und packte nach und nach all die Kleider meine Großmutter hinein. Wir alle waren erstaunt, dass es ihm nicht schwerfiel, sich davon zu lösen. Er konnte also doch alleine. Und im Prinzip war er auch gar nicht ganz ohne seine Frau. Er sagte oft: „Sie hätte das so gemacht“, und machte es dann so. (Oder auch anders.) Er kam zurecht. Ein neuer Lebensabschnitt.

Die Himmelfahrtsgeschichte erzählt auch von einem neuen Abschnitt, einem neuen Lebensabschnitt für die Jüngerinnen und Jünger. Sie erzählt von Los-Lösung. Und auch davon, dass das nicht so einfach ist. Jesu Anhängerinnen und Anhänger stehen erstmal da und starren in den Himmel. Sie schauen Jesus hinterher und scheinen nicht so recht zu wissen, was sie tun sollen, obwohl doch alles ange­kündigt war. Aber ihr Alpha-Tier ist weg! er, dem sie nachge­folgt sind, der ihnen Gott und die Welt erklärt hat, der gesagt hat, wo’s langgeht, auch wenn dieser Weg manchmal schwer war. Sie haben ihm vertraut und jetzt ist er ver­schwunden.

Dem, was vergangen ist, hinterher zu starren, ist sehr mensch­lich. Vermutlich haben wir alle schon auf unterschiedliche Weise Abschied nehmen müssen von etwas, das uns wichtig war, von jemandem, der uns nahestand. Ein Mensch ist nicht mehr da oder anderes da, als er vorher da war: Kinder ziehen aus, der gemeinsame Alltag ist verschwunden. Eine Arbeitsstelle wird gekündigt und der tägliche Kontakt mit den Kolleg:innen entfällt. Ein Mensch wird dement und verändert seine Persönlichkeit. Ein Umzug nimmt uns die vertraute Umgebung, in der wir uns beheimatet fühlten. Trennung und Tod be­enden Beziehungen. Und wir reagieren dann mit Trauer, vielleicht auch mit Wut und Ent­täuschung. Mit Sehnsucht. Die Frage ist: Können wir uns lösen?

Manchmal schauen wir auch als Kirche oder als Gemeinde den (angeblich) guten, alten Zeiten hinterher, als die Stimme der Kirche noch gesellschaftlich relevant war, als noch viele Leute in den Gottesdienst kamen – auch wenn nicht wie heute drei Gemeinden zusammensitzen, als man noch nicht über Zu­sammenarbeit und Fusionen einzelner Gemeinden nachdenken musste, sondern darüber, wie man viele Kirchen baut, damit die Leute kurze Wege dorthin haben. Ja, vielleicht war das schön, als es noch selbstverständlich war, sich taufen, trauen und kirchlich beerdigen zu lassen. Kirche wird sich verändern. Da werden wir uns von einigem Liebgewonnenen lösen müssen. Das wird dann Neuem Platz machen. Wie das genau aussehen wird, keine Ahnung.

Bei den Gedanken an die Zukunft der Kirche oder auch unserer eigenen Zukunft stehen wir manchmal etwas verloren rum zwischen alter und neuer Zeit und wissen nicht so recht, wohin mit uns. Und halten dann fest an dem, was wir kennen.
Manche halten an ihren Vorstellungen fest, weil sie sich nichts anderes vorstellen können.
Manche halten Menschen fest, aus Angst, sie zu verlieren,
manche halten Ängste fest, weil die so schön vertraut sind,
manche halten am Stress fest, weil sie mit Muße gar nicht umgehen können,
manche halten daran fest, dass es ihnen schlecht geht, weil ihnen das Aufmerksamkeit und Zuwendung sichert.
Wir halten fest, um die Kontrolle zu behalten.

An etwas festzuhalten ist ja per se auch nicht schlecht. Nur, wenn das, was wir festhalten wollen, eigentlich schon längst weg ist, schon längst Vergangenheit, dann starren wir – wie die Jünger – ins Leere. Und dann brauchen wir jemanden, der – in weißen Gewändern oder auch nicht – daherkommt und sagt: Was steht ihr da unbeweglich rum und schaut zurück? Das Leben geht weiter!

Ich bin sicher, man braucht die Zeit zum Hinterherstarren und Trauern. Mein Opa brauchte das. Die Jünger auch. 40 Tage lang zeigt Jesus sich ihnen, redet mit ihnen, bereitet sie vor auf das, was kommt. Nach diesen symbolischen 40 Tagen erzählt Himmelfahrt dann vom Aufbruch. Jesus entzieht sich, und die Jünger:innen müssen los, müssen sich los-lösen.

Diese Himmelfahrtserzählung aus der Apostelgeschichte ver­spricht auch, dass sie die Kraft dazu haben werden. Es geht nicht nur um Los-Lösung, sondern auch um eine Art „Ab-Lösung“. Jesus geht, aber er lässt seine Anhänger:innen nicht allein zurück, er verheißt als Ab-Lösung den Heiligen Geist:

„Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen.“

Da kommt die Geschichte fast schon pfingstlich daher. Aus den Nachfolger:innen, die Jesus hinterherliefen, werden Zeug:innen, die von ihm erzählen – und zwar in Jerusalem und ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde. Das hat offensichtlich funktioniert, sonst würden wir hier in Hamburg nicht als christliche Gemeinden zusammensitzen.

Los-Lösung setzt Kräfte frei. Manchmal kommt einige Zeit nach der Trauer auch Erleichterung hoch. Oder zumindest ein neuer Freiraum, die Möglichkeit, etwas anders zu machen, anders zu werden. Mein Opa fing irgendwann an, mit Mais zu kochen. Das hatte meine Oma nie gemacht, kannte sie nicht, machte sie nicht. Diese Rezepte gab es nicht in ihrer Kladde. Aber in der Apo­theken­­rund­schau gab es sie, die hat mein Opa mitgenommen. Er hörte auch auf Hemden zu tragen, T-shirts fand er beque­mer. Er schlief morgens länger, ging abends später ins Bett. Er ver­änderte kleine Dinge und genoss es heimlich, auch wenn er das nicht zugeben wollte. In mancherlei Hinsicht war er freier.

Himmelfahrt ist ein Tag, der Freiraum verschaffen kann: Auch wir machen heute etwas anders, wir sitzen nicht drin, sondern draußen unter einem weiten Himmel. Da kann man die Gedanken vielleicht auch ein bisschen weiter schweifen lassen. Da könnte man mal überlegen, was man los­lassen kann, will, muss. Solche Gedanken macht man sich vermutlich nicht am Schreibtisch oder im Büro, auch nicht in dem Sessel, in den man sich immer fallen lässt und der sich schon der eigenen Form angepasst hat. Für neue Gedanken ist es gut, sich ein bisschen von den vertrauten Orten zu ent-rücken. Los-lassen hat ja auch immer mit sein-lassen zu tun, vielleicht auch mit ver-lassen werden, das ist nicht nur schön, da kommt auch Unangenehmes hoch. Und doch: Sich lösen kann auch ent-krampfen. Wir können uns an Himmelfahrt, das ja von einer Ent-rückung erzählt, auch ein bisschen aus unserem Alltag entrücken. Abstand von dem, was belastet, was uns bevorsteht, was im wahrsten Sinn des Wortes noch un-gelöst ist. Ein Tag, um Kraft zu sammeln für neue Wegabschnitte. Oder besser noch, um sich der Kraft zu vergewissern, die uns ja schon gegeben ist: die Kraft des Heiligen Geistes. Was Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern versprochen hat, das hat er ein-gelöst: Nach der Los-Lösung kommt die Ab-Lösung – der Heilige Geist. Das passende Fest, Pfingsten, werden wir in 10 Tagen feiern.

Aber Himmelfahrt gibt uns schon eine Vorahnung davon. Wir werden – wie die Jünger:innen – zu mündigen, selbst­ständigen Zeug:innen Jesu. Gott traut uns zu, dass wir das können. Dass wir nicht die Hoffnung verlieren angesichts der Krisen der Welt, der Kirche oder auch unseres eigenen Lebens. Natürlich sind wir von all dem nicht „völlig los-gelöst“. Wir leben unseren Alltag darin und damit. Und wir spüren die Trauer und den Schmerz wie andere auch. Aber über diesen Alltag mit seinen Krisen wölbt sich der Himmel. Ich glaube, das ist gemeint, wenn wir davon sprechen, dass Jesus uns er-löst. Dass wir dem allen eben nicht völlig ausgeliefert sind, sondern darauf vertrauen, dass die Kraft des Heiligen Geistes uns trösten und leiten wird. Mit diesem Versprechen schickt uns der Himmel­fahrtstag ins Freie und stellt unsere Füße auf weiten Raum.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserem Herrn. Amen.

 

Predigttext: Lukas 11, 5–13

Und Jesus sprach zu ihnen: Wer unter euch hat einen Freund und ginge zu ihm um Mitternacht und spräche zu ihm: Lieber Freund, leih mir drei Brote; 6 denn mein Freund ist zu mir gekommen auf der Reise, und ich habe nichts, was ich ihm vorsetzen kann, 7 und der drinnen würde antworten und sprechen: Mach mir keine Unruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen und meine Kinder und ich liegen schon zu Bett; ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben. 8 Ich sage euch: Und wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, so wird er doch wegen seines unverschämten Drängens aufstehen und ihm geben, so viel er bedarf.

9 Und ich sage euch auch: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. 10 Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. 11 Wo bittet unter euch ein Sohn den Vater um einen Fisch, und der gibt ihm statt des Fisches eine Schlange? 12 Oder gibt ihm, wenn er um ein Ei bittet, einen Skorpion? 13 Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten! 

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

Ein Festtag ist dies heute! Feiern wir doch neben der Einführung von zwei Mitarbeiterinnen auch die Eröffnung einer kleinen Ausstellung. „Klein“, denn es handelt sich nur um wenige, dafür großformatige Bilder, die an den Seitenwänden im hinteren Teil des Kirchenschiffes bis Ende Mai zu sehen sind.

Bilder in Acrylfarbe, gemalt an der Nordsee und in Schleswig-Holstein. Sie zeigen das Meer und die Elbe, Wiesen und Weite und den Himmel. Er ist immer mit dabei.

Die Künstlerin Nina Catharina Nollen hat der Ausstellung den Titel gegeben: „Ich möchte nie ohne Himmel sein …“

Mal ist der Himmel im Hintergrund des Bildes zu sehen, bildet den Horizont, die Grenze der Landschaft. Mal spiegelt sich der Himmel im Wasser, ist sein Gegenüber. Mal steht der Himmel mit seinen Wolkenformationen und Farbspielen im Vordergrund, füllt das Bild fast ganz aus.

Nina Catharina Nollen hat schon viele verschiedene Dinge in ihrem Leben gemacht und ist erst relativ spät zum Malen gekommen. Aber dann hat es sie gepackt! Beim Malen, so sagt sie, kommt sie in Verbindung mit ihrer eigenen inneren Kraft und Kreativität – und auch mit ihrer Umgebung, der Außenwelt, die von einer anderen Kraft – ich würde sagen: von Gottes Kraft – mit durchdrungen ist.

„Ich möchte nie ohne Himmel sein“ – das könnte man in ihrem Fall also übersetzen mit: „Ich möchte nie ohne Beziehung zur schöpferischen Kraft sein“.

Der Sonntag Rogate – „Betet!“ – ist der Dritte in einer Reihe von österlichen Sonntagen, deren Namen zur Beziehungsaufnahme auffordern. Beziehung aufzunehmen, Verbindung zu suchen zum lebendigen, schöpferischen Geist Gottes, den das Leben aus der Auferstehungskraft Christi verleiht: Jubilate – „Freuet euch!“, Kantate – „Singt!“ und nun: Rogate – „Betet, bittet!“

Das Freuen, das Singen und das Beten als drei Weisen, nach Jesu Tod und Auferstehung in Kontakt zu treten mit Himmel und Erde, Gott und den Menschen. Das erschütternde Geschehen von Jesu Kreuzigung und dann seiner unfassbaren Auferweckung irgendwie zu verarbeiten. Damit umzugehen, dass Jesus nicht mehr hier auf der Erde lebt, wie er es zuvor tat, aber dennoch als Auferstandener gegenwärtig und erfahrbar ist. Den Jüngern damals in den 40 Tagen nach seiner Auferweckung noch so real und nah, dass sie ihn leibhaftig schauten.

Die Wochen nach Ostern als eine Zeit, uns für Gottes Gegenwart offenzuhalten und ihr anzunähern, obwohl diese seit Karfreitag und Ostern irgendwie in der Schwebe ist.

Wer schon einmal einen nahestehenden Menschen verloren hat, wird dies kennen: den Schwebezustand, die zunächst noch offene Wunde, vielleicht wie ein Taubheitsgefühl, eine Unsicherheit gegenüber dem Alltag und der Realität. Die Fragen nach dem eigenen Leben und nach Gott.

Die Namen der Sonntage nach Ostern kann man lesen als Hinweise zu den Wegen, auf denen wir – im Zyklus des Kirchenjahres gedacht – nach Jesu Abschied wieder Zugang zu unserer eigenen Lebendigkeit und Kreativität finden:

Jubilate – verbunden mit der Frage nach unseren Gefühlen, nach unserer Achtsamkeit und Empfindsamkeit: Worüber freue ich mich, noch oder wieder? Ist meine Freude eher laut oder eher leise? Wie kann ich meiner Freude Ausdruck verleihen?

Kantate – verbunden mit der Frage nach unserer Stimme, unseren inneren Klängen und unserer Phantasie: Was kann ich singen? Wie und wovon möchte ich singen oder summen oder pfeifen?

Und nun Rogate – die Frage nach meiner Kraft und Beharrlichkeit: Wie kann ich im Gebet bleiben – oder ins Beten kommen?

Aufmerksamkeit, Phantasie und Beharrlichkeit, die es für jeden kreativen Prozess braucht, sei es das Malen, Schreiben oder Musizieren. Sei es das Beten.

Ich führe zur Zeit Gespräche mit einer jungen Frau, die sich taufen lassen möchte. Sie ist in unserem Stadtteil aufgewachsen, kennt unsere Kirche vom Sehen, aber es gab in ihrer Familie keinen Impuls zur Taufe oder zur Konfirmation, zur Verbindung mit der Kirche. Als ich sie fragte, woher ihr Wunsch rühre, meinte sie ebenso kurz, wie für mich überraschend: „Ich habe gemerkt, dass Beten hilft.“

Auf Nachfrage meinte sie, Beten würde für sie im Alltag etwas verändern. Nicht dass alles genauso passiert, wie sie es sich wünsche. Aber es würde anderes passieren, das sei spannend! Und sie würde das, was geschieht, auch anders wahrnehmen, sich selbst, die Prüfungen, die fremde Stadt, in der sie studiert, die vielen neuen Leute. „Beten hilft mir!“

Ich verstehe sie so, dass sie sich durch ihre Zwiesprache mit Gott weniger allein fühlt, sondern geborgen und begleitet. Und dass das bewusste Gebet sie auch ihr Leben bewusster erfahren lässt, sie aufmerksamer, konzentrierter und irgendwie erwartungsvoller stimmt für das, was auf sie zukommt.

Im Grunde macht die Studentin ähnliche Erfahrungen, wie die, von denen der heutige Predigttext aus dem Lukas-Evangelium spricht. Die beiden Beispielerzählungen Jesu vom bittenden Freund und vom freundlichen Vater, in deren Mitte der eindrückliche Vers steht:

Bittet, so wird euch gegeben;
suchet, so werdet ihr finden;
klopfet an, so wird euch aufgetan.
(Lk 11, 9)

Nicht, dass der Studentin, dass uns genau das gegeben wird, worum wir bitten: weder eine bestimmte gute Note in der Klausur, noch unverwüstliche Gesundheit oder der Mann, die Frau unseres Lebens. Und doch kann uns gegeben werden, so wir bitten: Konzentration zum Lernen, Zuversicht in Heilung oder Offenheit für glückliche Begegnungen, Freundschaft und Anteilnahme.

Nicht, dass wir immer das finden, was wir suchen. Manchmal geht es beim Beten wohl eher darum, dass wir uns selbst ehrlich begegnen und uns selbst finden – oder uns von Gott finden lassen.

Nicht, dass uns immer die Türen und Ohren aufgetan werden, an die wir anklopfen, wo wir unbedingt gehört und gesehen werden möchten. Aber dass uns Gottes Ohren und Gottes Haus offenstehen, dass Menschen – vielleicht auch andere, als wir zunächst hofften – sich für uns öffnen. Dass auch wir selbst uns für andere, auch für Gott öffnen können …

Mit diesen Möglichkeiten zu rechnen, auf solche Erfahrungen zu setzen – dazu fordert Jesus uns auf. Dem zu vertrauen, was Gott uns Menschen verheißen hat: dass wir Kraft oder Hoffnung oder Liebe empfangen können, so wir darum bitten, danach suchen und fragen. Dass Gottes heiliger, Gottes schöpferischer Geist uns an Leib und Seele erneuern kann.

„Ich möchte nie ohne Himmel sein“ – das sagt Nina Catharina Nollen über ihr Malen, über ihre Suche nach ihrer schöpferischen Kraft. Und es könnte auch über unseren Versuchen stehen zu beten, über unserer Suche nach Kraft, Hoffnung und Liebe.

Der Himmel – als den wir Gottes Raum beschreiben, Gottes Herrlichkeit und heilige Geistkraft – ist da. Immer. Über jeder und jedem von uns.

Das hat der griechische Dichter Jannis Ritsos in einem wunderbaren kurzen Gedicht so ausgedrückt:

„Jeder Mensch hat einen Himmel über seiner Wunde
und einen kleinen gesetzwidrigen Frühlingszettel in seiner Tasche.“

Das Vertrauen, dass der Himmel da ist – auch über unseren Wunden. Und dass wir mit diesem himmlischen Raum in Beziehung treten können, zum Beispiel durchs Malen, zum Beispiel durchs Beten.

Der „kleine gesetzwidrige Frühlingszettel“, den wir in uns tragen, hält uns in Verbindung mit der Kraft, die von oben kommt, die heilt und versöhnt und inspiriert. Auf diesen „Frühlingszettel“, auf euer Herzensgebet, gebt gut Acht! Dass ihr bittet, sucht, klopft – und bleibt. In Beziehung zu Gott und eurer eigenen schöpferischen Kraft! Amen.