Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Eine Geschichte der Loslösung

Eine Geschichte der Loslösung

Predigt zu Himmelfahrt
Pastorin

Andrea Busse

Gottedienst am 9. Mai

Predigt zu Apostegechichte 1, 3–11

Predigttext:

Jesus zeigt sich den Aposteln nach seinem Leiden durch viele Beweise als der Lebendige und ließ sich sehen unter ihnen vierzig Tage lang und redete mit ihnen vom Reich Gottes. 4 Und als er mit ihnen beim Mahl war, befahl er ihnen, Jerusalem nicht zu verlassen, sondern zu warten auf die Verheißung des Vaters, die ihr – so sprach er – von mir gehört habt; 5 denn Johannes hat mit Wasser getauft, ihr aber sollt mit dem Heiligen Geist getauft werden nicht lange nach diesen Tagen. 6 Die nun zusammengekommen waren, fragten ihn und sprachen: Herr, wirst du in dieser Zeit wieder aufrichten das Reich für Israel? 7 Er sprach aber zu ihnen: Es gebührt euch nicht, Zeit oder Stunde zu wissen, die der Vater in seiner Macht bestimmt hat; 8 aber ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde. 9 Und als er das gesagt hatte, wurde er vor ihren Augen emporgehoben, und eine Wolke nahm ihn auf, weg vor ihren Augen. 10 Und als sie ihm nachsahen, wie er gen Himmel fuhr, siehe, da standen bei ihnen zwei Männer in weißen Gewändern. 11 Die sagten: Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und seht gen Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg gen Himmel aufgenommen wurde, wird so wiederkommen, wie ihr ihn habt gen Himmel fahren sehen. 

Predigt:

Als meine Oma starb, dachten alle, jetzt muss Opa ins Heim. Meine Oma hat immer alles gemacht. Klassische Rollenauf­teilung damals: Sie hat den Alltag organisiert, hat gekocht, Wäsche gewaschen, meinem Opa rausgelegt, was er morgens anziehen sollte, dass sie ihn nicht angezogen hat, war eigent­lich alles. Als sie weg war, war er total hilflos. Saß im Sessel und starrte auf das Sofa, wo sie immer gesessen hatte. Meine Eltern haben also nach einem Heimplatz gesucht, aber es gab lange Wartelisten. Dann haben sie versucht, eine Betreuerin zu engagieren, die ins Haus kommt, aber die fand man damals auch nicht so einfach.
Wir waren so damit be­schäftigt, eine Lösung zu finden, dass wir gar nicht mitbe­kommen haben, dass Opa irgendwann aufgestanden ist aus seinem Sessel. Einmal kam mein Vater zu ihm ins Haus und stellte fest: Alle Schranktüren standen offen: Küchenschränke, Kleider­schränke, Keller­schränke, alles. „Ich muss doch sehen können, wo was ist!“ war der Kommentar meines Opas. Seine Klamotten hatte er alle gefunden. Die Kombinationen, die er seitdem trug, waren seltsam, aber alles war am Mann: frische Socken, Hose, Hemd, Pulli. Und dann ließ er sich von meinem Vater erklären, wie die Wasch­maschine funktioniert. Im Küchen­schrank hatte er die alte Kladde mit Rezepten gefunden, hand­geschrieben von meiner Oma. Nachdem er eine gefühlte Ewig­keit nur von Käsebroten gelebt hatte, fing er mit Kartoffeln an. Die ersten waren total verkocht. Er aß sie trotzdem. „Gemüse“, sagte er, „ich muss lernen, Gemüse zu kochen. Sie hat immer gesagt, das brauchst du, das ist gesund“. Und er mühte sich mit seinen alten Händen, Karotten zu schälen. Schließlich kochte er sie einfach ungeschält, nur gut gewaschen, ging ja auch. Er ging zur Bank und ließ sich erklären, wie man eine Über­weisung ausfüllt und wie man an Bargeld kommt. Der Ange­stellte dort war wohl sehr freundlich und geduldig.

Irgendwann holte er beim Drogeriemarkt große blaue Säcke und packte nach und nach all die Kleider meine Großmutter hinein. Wir alle waren erstaunt, dass es ihm nicht schwerfiel, sich davon zu lösen. Er konnte also doch alleine. Und im Prinzip war er auch gar nicht ganz ohne seine Frau. Er sagte oft: „Sie hätte das so gemacht“, und machte es dann so. (Oder auch anders.) Er kam zurecht. Ein neuer Lebensabschnitt.

Die Himmelfahrtsgeschichte erzählt auch von einem neuen Abschnitt, einem neuen Lebensabschnitt für die Jüngerinnen und Jünger. Sie erzählt von Los-Lösung. Und auch davon, dass das nicht so einfach ist. Jesu Anhängerinnen und Anhänger stehen erstmal da und starren in den Himmel. Sie schauen Jesus hinterher und scheinen nicht so recht zu wissen, was sie tun sollen, obwohl doch alles ange­kündigt war. Aber ihr Alpha-Tier ist weg! er, dem sie nachge­folgt sind, der ihnen Gott und die Welt erklärt hat, der gesagt hat, wo’s langgeht, auch wenn dieser Weg manchmal schwer war. Sie haben ihm vertraut und jetzt ist er ver­schwunden.

Dem, was vergangen ist, hinterher zu starren, ist sehr mensch­lich. Vermutlich haben wir alle schon auf unterschiedliche Weise Abschied nehmen müssen von etwas, das uns wichtig war, von jemandem, der uns nahestand. Ein Mensch ist nicht mehr da oder anderes da, als er vorher da war: Kinder ziehen aus, der gemeinsame Alltag ist verschwunden. Eine Arbeitsstelle wird gekündigt und der tägliche Kontakt mit den Kolleg:innen entfällt. Ein Mensch wird dement und verändert seine Persönlichkeit. Ein Umzug nimmt uns die vertraute Umgebung, in der wir uns beheimatet fühlten. Trennung und Tod be­enden Beziehungen. Und wir reagieren dann mit Trauer, vielleicht auch mit Wut und Ent­täuschung. Mit Sehnsucht. Die Frage ist: Können wir uns lösen?

Manchmal schauen wir auch als Kirche oder als Gemeinde den (angeblich) guten, alten Zeiten hinterher, als die Stimme der Kirche noch gesellschaftlich relevant war, als noch viele Leute in den Gottesdienst kamen – auch wenn nicht wie heute drei Gemeinden zusammensitzen, als man noch nicht über Zu­sammenarbeit und Fusionen einzelner Gemeinden nachdenken musste, sondern darüber, wie man viele Kirchen baut, damit die Leute kurze Wege dorthin haben. Ja, vielleicht war das schön, als es noch selbstverständlich war, sich taufen, trauen und kirchlich beerdigen zu lassen. Kirche wird sich verändern. Da werden wir uns von einigem Liebgewonnenen lösen müssen. Das wird dann Neuem Platz machen. Wie das genau aussehen wird, keine Ahnung.

Bei den Gedanken an die Zukunft der Kirche oder auch unserer eigenen Zukunft stehen wir manchmal etwas verloren rum zwischen alter und neuer Zeit und wissen nicht so recht, wohin mit uns. Und halten dann fest an dem, was wir kennen.
Manche halten an ihren Vorstellungen fest, weil sie sich nichts anderes vorstellen können.
Manche halten Menschen fest, aus Angst, sie zu verlieren,
manche halten Ängste fest, weil die so schön vertraut sind,
manche halten am Stress fest, weil sie mit Muße gar nicht umgehen können,
manche halten daran fest, dass es ihnen schlecht geht, weil ihnen das Aufmerksamkeit und Zuwendung sichert.
Wir halten fest, um die Kontrolle zu behalten.

An etwas festzuhalten ist ja per se auch nicht schlecht. Nur, wenn das, was wir festhalten wollen, eigentlich schon längst weg ist, schon längst Vergangenheit, dann starren wir – wie die Jünger – ins Leere. Und dann brauchen wir jemanden, der – in weißen Gewändern oder auch nicht – daherkommt und sagt: Was steht ihr da unbeweglich rum und schaut zurück? Das Leben geht weiter!

Ich bin sicher, man braucht die Zeit zum Hinterherstarren und Trauern. Mein Opa brauchte das. Die Jünger auch. 40 Tage lang zeigt Jesus sich ihnen, redet mit ihnen, bereitet sie vor auf das, was kommt. Nach diesen symbolischen 40 Tagen erzählt Himmelfahrt dann vom Aufbruch. Jesus entzieht sich, und die Jünger:innen müssen los, müssen sich los-lösen.

Diese Himmelfahrtserzählung aus der Apostelgeschichte ver­spricht auch, dass sie die Kraft dazu haben werden. Es geht nicht nur um Los-Lösung, sondern auch um eine Art „Ab-Lösung“. Jesus geht, aber er lässt seine Anhänger:innen nicht allein zurück, er verheißt als Ab-Lösung den Heiligen Geist:

„Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen.“

Da kommt die Geschichte fast schon pfingstlich daher. Aus den Nachfolger:innen, die Jesus hinterherliefen, werden Zeug:innen, die von ihm erzählen – und zwar in Jerusalem und ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde. Das hat offensichtlich funktioniert, sonst würden wir hier in Hamburg nicht als christliche Gemeinden zusammensitzen.

Los-Lösung setzt Kräfte frei. Manchmal kommt einige Zeit nach der Trauer auch Erleichterung hoch. Oder zumindest ein neuer Freiraum, die Möglichkeit, etwas anders zu machen, anders zu werden. Mein Opa fing irgendwann an, mit Mais zu kochen. Das hatte meine Oma nie gemacht, kannte sie nicht, machte sie nicht. Diese Rezepte gab es nicht in ihrer Kladde. Aber in der Apo­theken­­rund­schau gab es sie, die hat mein Opa mitgenommen. Er hörte auch auf Hemden zu tragen, T-shirts fand er beque­mer. Er schlief morgens länger, ging abends später ins Bett. Er ver­änderte kleine Dinge und genoss es heimlich, auch wenn er das nicht zugeben wollte. In mancherlei Hinsicht war er freier.

Himmelfahrt ist ein Tag, der Freiraum verschaffen kann: Auch wir machen heute etwas anders, wir sitzen nicht drin, sondern draußen unter einem weiten Himmel. Da kann man die Gedanken vielleicht auch ein bisschen weiter schweifen lassen. Da könnte man mal überlegen, was man los­lassen kann, will, muss. Solche Gedanken macht man sich vermutlich nicht am Schreibtisch oder im Büro, auch nicht in dem Sessel, in den man sich immer fallen lässt und der sich schon der eigenen Form angepasst hat. Für neue Gedanken ist es gut, sich ein bisschen von den vertrauten Orten zu ent-rücken. Los-lassen hat ja auch immer mit sein-lassen zu tun, vielleicht auch mit ver-lassen werden, das ist nicht nur schön, da kommt auch Unangenehmes hoch. Und doch: Sich lösen kann auch ent-krampfen. Wir können uns an Himmelfahrt, das ja von einer Ent-rückung erzählt, auch ein bisschen aus unserem Alltag entrücken. Abstand von dem, was belastet, was uns bevorsteht, was im wahrsten Sinn des Wortes noch un-gelöst ist. Ein Tag, um Kraft zu sammeln für neue Wegabschnitte. Oder besser noch, um sich der Kraft zu vergewissern, die uns ja schon gegeben ist: die Kraft des Heiligen Geistes. Was Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern versprochen hat, das hat er ein-gelöst: Nach der Los-Lösung kommt die Ab-Lösung – der Heilige Geist. Das passende Fest, Pfingsten, werden wir in 10 Tagen feiern.

Aber Himmelfahrt gibt uns schon eine Vorahnung davon. Wir werden – wie die Jünger:innen – zu mündigen, selbst­ständigen Zeug:innen Jesu. Gott traut uns zu, dass wir das können. Dass wir nicht die Hoffnung verlieren angesichts der Krisen der Welt, der Kirche oder auch unseres eigenen Lebens. Natürlich sind wir von all dem nicht „völlig los-gelöst“. Wir leben unseren Alltag darin und damit. Und wir spüren die Trauer und den Schmerz wie andere auch. Aber über diesen Alltag mit seinen Krisen wölbt sich der Himmel. Ich glaube, das ist gemeint, wenn wir davon sprechen, dass Jesus uns er-löst. Dass wir dem allen eben nicht völlig ausgeliefert sind, sondern darauf vertrauen, dass die Kraft des Heiligen Geistes uns trösten und leiten wird. Mit diesem Versprechen schickt uns der Himmel­fahrtstag ins Freie und stellt unsere Füße auf weiten Raum.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserem Herrn. Amen.