Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Gottes Stimme erkennen

Gottes Stimme erkennen

Gottesdienst am 21. Mai
Pastorin

Andrea Busse

Sonntag Exaudi

Predigt zu 1. Samuel 16, 1-10

Predigttext:

Und zu der Zeit, als der Knabe Samuel dem HERRN diente unter Eli, war des HERRN Wort selten, und es gab kaum noch Offenbarung. Und es begab sich zur selben Zeit, dass Eli lag an seinem Ort, und seine Augen fingen an, schwach zu werden, sodass er nicht mehr sehen konnte. Die Lampe Gottes war noch nicht verloschen. Und Samuel hatte sich gelegt im Tempel des HERRN, wo die Lade Gottes war. Und der HERR rief Samuel. Er aber antwortete: Siehe, hier bin ich!, und lief zu Eli und sprach: Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen. Er aber sprach: Ich habe nicht gerufen; geh wieder hin und lege dich schlafen. Und er ging hin und legte sich schlafen. Der HERR rief abermals: Samuel! Und Samuel stand auf und ging zu Eli und sprach: Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen. Er aber sprach: Ich habe nicht gerufen, mein Sohn; geh wieder hin und lege dich schlafen. Aber Samuel kannte den HERRN noch nicht, und des HERRN Wort war ihm noch nicht offenbart. Und der HERR rief Samuel wieder, zum dritten Mal. Und er stand auf und ging zu Eli und sprach: Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen. Da merkte Eli, dass der HERR den Knaben rief. Und Eli sprach zu Samuel: Geh wieder hin und lege dich schlafen; und wenn du gerufen wirst, so sprich: Rede, HERR, denn dein Knecht hört. Samuel ging hin und legte sich an seinen Ort. Da kam der HERR und trat herzu und rief wie vorher: Samuel, Samuel! Und Samuel sprach: Rede, denn dein Knecht hört.

Predigt:

Wir befinden uns in einer Zeitenwende. Ich meine jetzt nicht heute, sondern damals, damals „zu der Zeit als der Knabe Samuel dem Herrn diente unter Eli“ – so beginnt unsere Geschichte. Das Volk Israel befand sich in einer Phase des Übergangs. Viele Jahre waren die Israeliten geführt worden von charis­matischen Persönlichkeiten, die Gott ganz individuell auser­wählt hatte. „Richter“ nannte man sie, die die Angelegenheiten der Menschen regelten, also eigentlich regierten. In unserer Bibel finden wir das Buch „Richter“, das von dieser Epoche erzählt. Zu Samuels Lebzeiten verändert sich das. An die Stelle der Theokratie – der Herrschaft Gottes durch seine berufenen Männer – tritt die Monarchie mit einer dynastisch legitimierten Herrscherfolge. Samuel selbst wird die ersten Könige salben: Saul, dann David. Historisch gesehen spricht man von Über­gang von der vorstattlichen Zeit Israels zur staatlichen.

Dieser Umbruch – aus unserer Sicht natürlich Ewigkeiten her, ein Wimpernschlag in der Geschichte – war für die Menschen damals ein großer Einschnitt in ihr gewohntes Leben. Und wie alle Umbrüche erschütternd, verunsichernd. Es hat ja Gründe, warum sich die Dinge verändern. Ein Grund war Eli selbst. Er war Priester am Heiligtum von Silo. Vermutlich haben Sie noch nie von Silo gehört, aber damals war es das Zentrum der religiösen Macht. Dort stand die Bundes­­lade mit den 10 Geboten. Dort amtierten seit langem die Vorfahren Elis als das bedeutende Priestergeschlecht. Das Problem aber waren Elis Söhne! Sie werden als gottlos geschildert, die sich weder um den Kultus noch um die Gemeinde sorgen, sondern nur um ihr eigenes Wohlergehen. Und Eli, die maßgebliche Persönlichkeit, wird aus Altersgründen dem Amt nicht mehr gerecht. „Seine Augen fingen an schwach zu werden“, so wird es beschrieben. Er sieht nicht mehr klar. Er gebietet seinen Söhnen keinen Einhalt. Die Tage des Heilig­tums von Silo und dieses Priester­geschlechtes sind damit gezählt. Der Tempel von Jerusalem erscheint am zeitlichen Horizont, dort werden andere Priester amtieren. Aber das ist noch etwas hin, erstmal befinden wir uns hier in einer Krise: Religiöse Institutionen und Amtsträger versagen.

Und mittendrin Samuel. Er wird das Bindeglied werden in dieser Zeitenwende, wird selbst die Dinge wenden – im Auftrag Gottes. Viele Rollen vereinen sich in dieser einen biblischen Figur. Manchmal tritt Samuel auf wie einer der alten Richter, ein Streiter dafür, dass das Volk von Gott regiert wird und nicht von Menschen. Und doch wird er zum Königsmacher. Ausgebildet wurde er am Heiligtum bei Eli, um Priester zu werden, aber hier in unserer Geschichte wird er berufen wie ein Prophet. Er wird berufen in diese Zeit der Krise hinein, die als gottlos beschrieben wird. „Des Herrn Wort war selten, es gab kaum noch Offenbarungen.“

 

Zeitenwende – Dinge verändern sich, man weiß noch nicht, wohin es geht, und oft auf nicht, wohin es gehen soll. Nur, dass das Alte endgültig vorbei ist. Coronakrise, Energiekrise, Klimakrise. Demokratie in der Krise? Schwächeln unsere Institutionen, unsere Amtsträger:innen? Was wird Künstliche Intelligenz mit unserem Leben machen – begreifen wir das überhaupt schon, welche immensen Um­wälzungen das bringen wird? Zurückdrehen lässt sich natürlich nichts. Auf welche Welt steuern wir also zu? Was zählt und hält, wer hat das Sagen und die Macht? Und spielt Gott darin überhaupt noch eine Rolle? Ist Gott uns fern? Oder scheint es nur so?

Krisenzeiten werden oft wahrgenommen als Phasen der Gottverlassenheit. Die Klagepsalmen singen ein Lied davon. „Mein Herz hält dir vor dein Wort: Ihr sollt mein Antlitz suchen. Darum suche ich, Herr, dein Antlitz. Verbirg dein Antlitz nicht vor mir“ – so haben wir vorhin im Psalm gebetet. Du hast doch gesagt Gott, dass wir dich suchen sollen, dann lass dich auch finden. Dann zeig uns, was richtig ist, wohin wir gehen, wer wir sein sollen.

Dieser Psalm hat dem Sonntag seinen Namen gegeben. Exaudi – Höre, meine Stimme, wenn ich rufe – so der Beter. Die Geschichte von Samuels Berufung dreht das Ganze um. Nicht Samuel ruft nach Gott, sondern Gott ruft nach Samuel. Und Samuel? Ja er hört mehr oder weniger gut. Er braucht drei, eigentlich vier Anläufe und Nachhilfe vom erfahrenen Priester, um Gottes Stimme zu erkennen. Offenbar ist sie der mensch­lichen Stimme von Eli zum Verwechseln ähnlich. Oder Samuel erwartet den Ruf Gottes gar nicht. Wenn jemand nach ihm ruft, dann eben der, der im Zimmer nebenan schläft, wer sollte es sonst sein?

Gott macht sich bemerkbar in der menschlichen Lebenswelt, so wie wir es nicht erwarten. Seine Stimme ist zum Verwechseln. Sie ist menschlich, nicht übermenschlich. Man kann sie über­hören. Man kann sie falsch deuten. Aber Gott bleibt beharrlich, ruft immer wieder. Es braucht aufmerksames Hinhören und andere Menschen, die uns an die Hand nehmen, um die gött­liche Stimme zu erkennen.

Ich muss gestehen, diese alten biblischen Geschichten haben mich als Kind immer etwas eifersüchtig gemacht. Wenn Gott da so direkt mit den Menschen spricht: Mit Mose, mit Elia, mit den anderen Propheten. Das hat eine Sehnsucht in mir geweckt: Gottes Stimme wirklich hören, direkt angesprochen werden, gerufen werden. Wissen, was Sache ist, was Gott von mir will. Wäre das schön, wenn das heute noch so funktionieren würde! Die Geschichte von Samuel zeigt: So einfach war’s wohl nie, Gottes Stimme herauszuhören. Und gleichzeitig liegt in der Erzählung auch eine Verheißung, ein Versprechen an uns. „Die Lampe Gottes war noch nicht verloschen“ – so heißt es im biblischen Text – obwohl die Zeit als gottlos geschildert wird. Ich denke, das gilt auch uns. Ich bin sicher: Gottes Licht ist immer noch zu sehen, Gottes Stimme immer noch zu hören – aber es war nie einfach, sie zu sehen, sie zu hören, sie zu erkennen – und zu wissen, wozu wir berufen sind.

Es geht hier ja nicht nur um eine gesellschaftliche Krise und den Umsturz einer politischen Ordnung. Es geht hier auch um eine ganz individuelle Berufung. Um das Geschehen zwischen Gott und einem Menschen. Eine Begegnung mit Anlauf­schwierigkeiten, die damit endet, dass Samuel sagt: „Rede, denn dein Knecht hört!“ Samuel lässt sich von Gott rufen und er wird seinen Lebensweg mit Gott gehen.

Krisenzeiten im eigenen Leben sind immer auch Zeiten der Selbstfindung, des Nachdenkens darüber, was unsere Berufung ist. Wenn uns etwas erschüttert – Krankheit, Tod, Trennung, Jobverlust – dann gibt es kein Zurück mehr in das alte Leben, so sehr wir das wünschen. Aber wie das neue aussehen soll, ist noch nicht klar. Viele Wege offen, die meisten machen Angst. Wie soll ich mich neu erfinden, wer soll ich sein, wie will ich sein?

Wir alle sind von Gott dazu berufen, das zu sein, was wir wirklich sind. Uns selbst leben zu können, so wie wir von Gott gemeint sind. Das klingt ein bisschen, wie ein Selbstgänger, aber ich denke, wir alle kennen Menschen, die sich in ihrem Leben zumindest phasenweise verfehlt haben, die in ihrem Beruf oder ihrem Privatleben immer jemand anders sein müssen oder auch sein wollen, die sich darin verausgaben, so zu sein, wie andere es von ihnen erwarten oder wie sie selbst glauben, dass sie sein müssten. Sich selbst zu finden, mit sich selbst im Einklang zu sein – ich würde formulieren: das zu sein, wozu Gott mich berufen hat – das ist ein Findungsprozess. Das braucht vielleicht auch mehrere Anläufe, vielleicht verwechseln wir uns auch, finden uns im falschen Leben, so wie Samuel bei Eli im falschen Zimmer stand. Das ist auch ein Ausprobieren, wir folgen unterschiedlichen Stimmen in uns und manche führen uns auf Umwege. Bei der Arbeit an der eigenen Identität wird es immer Widersprüche und Spannungen geben. Identität ist nicht monolithisch, das sind einzelne Versatzstücke, die wir in unserem Leben versuchen zusammenzubringen.

Der Theologe Henning Luther hat von Fragmenten gesprochen, die die menschliche Identität ausmachen. Und davon, dass die Gesellschaft ihr Versprechen auf Selbstbestimmung nicht einlöst, auch nicht einlösen kann. Aber die Idee von der Identität als etwas Fragmentarischem gibt auch Freiheit: Es gibt nicht ein ganz oder gar nicht gelungen oder verfehlt. Und die Gesellschaft zwingt auch nicht mehr in lebenslange Rollen­klischees. Diese Berufungsgeschichte von Samuel löst bei manchen vielleicht die Sehnsucht aus, zu wissen, wo man hingehört, einfach zu hören und zu wissen, was richtig ist.

Ich denke, sie ist auch ein Appell, der Appell, auf Gott zu hören, wenn ich mich definiere – und das tue ich mit jeder Entscheidung meines Lebens. Täglich. Täglich entscheide ich, was ich tue und damit auch wer ich bin und wie ich bin. Samuels Berufung ist eine beispielhafte Erzählung über das Selbst-Werden eines Menschen, für uns auch mit Blick auf unsere gläubige, unsere christliche Identität.

Bei unseren Lebensentwürfen, bei den Prioritäten, die wir setzen, im Beruflichem, im Privaten – gibt es da einen Resonanzraum für die göttliche Stimme? Dazu gehört sicher das Verwechseln und Irregehen, dazu gehört die Anleitung durch andere und schließlich auch das gläubige: „Rede, denn ich höre!“. Dazu gehört das Vertrauen, dass Gott sich bemerkbar macht, in dieser Welt, dass er uns ruft, anders als erwartet, vielleicht mit menschlicher Stimme. Aber immer wieder ruft uns Gott. Amen.