Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Lahmgelegt?

Lahmgelegt?

Predigt am 23. Oktober
Pastorin

Andrea Busse

19. Sonntag nach Trinitatis

Predigt zu Johannes 5, 1-16

Predigttext Teil 1: Johannes 5, 1- 9

Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank. 6 Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! 9 Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.

Predigt Teil 1:

„Hört das denn nie auf?
Ändert sich in meinem Leben nie etwas?
Es bleibt doch sowieso immer alles beim Alten!“

Dieses Klagelied haben Sie sicher auch schon gehört – es existiert in den unterschiedlichsten Varianten:

Eine sagt z.B.:
Jetzt bin ich schon seit 12 Jahren in der Firma. Drei verschie­dene Chefs habe ich schon erlebt, aber das Arbeitsklima ist und bleibt einfach schlecht. Und von meiner 60 Stundenwoche komme ich einfach nicht runter! Es muss doch mehr geben, mein ganzes Privatleben bleibt auf der Strecke.

Eine andere jammert:
Ich bin 80 Jahre alt, mein Mann ist tot und meine Kinder haben nie Zeit! Früher habe ich mich immer um sie gekümmert, aber jetzt ist ihre Arbeit so wichtig, dass sie nur alle Schaltjahre mal bei mir vorbeikommen können. Also sitze ich hier alleine rum – was soll noch groß kommen in meinem Leben?

Und der nächste klagt:
Schon so lange bin ich gelähmt. Seit Jahrzehnten liege ich in diesem Sanatorium, in dem sich niemand so recht um mich kümmert. Andere werden geheilt, aber nir hilft ja niemand. Dieses letzte Klagelied steht schon in der Bibel – im Johannes­evangelium im 5. Kapitel, wir haben die Geschichte eben gehört.

Jesus begegnet einem Menschen, der leidet, der klagt. So wie wir Menschen begegnen, die leiden und klagen. Wir bemühen uns dann vielleicht, ihnen Mut zu machen – „Sieh doch nicht alles gleich so schwarz, hab doch Geduld, irgendwelche Wege finden sich immer“. Und dann ernten wir als Antwort oft Abwehr: „Ach, du hast gut reden, du musst ja nicht in meiner Haut stecken.“ Alle Versuche, den anderen zu trösten, werden so erstickt. Und manchmal macht mich das fast aggressiv und denke: Der gefällt sich ja in seiner Opferrolle. Die genießt ihr Klagelied. Und am besten sind dann auch noch die anderen schuld an der verfahrenen Situation. Der Staat, der nicht die richtigen Maß­nahmen trifft, der Chef, der die Arbeit unfair delegiert, die Kinder, die nicht genug Zeit haben, die anderen Kranken die vor ihm ins Wasser steigen. Aber wenn ich ehrlich bin: Natürlich bin ich genervt, weil ich das von mir selbst kenne. Weil auch ich gerne anderen die Schuld gebe, wenn es nicht so läuft, wie ich will. Weil auch ich immer wieder neue Klagelieder komponiere und in manche verliebe ich mich so, dass ich die Melodie gar nicht mehr loswerde. Ein richtiger Ohrwurm. Klar, dass andere entweder selbst mitsummen beim Klagelied oder eben einfach ab­schalten.

Jesus tut keines von beiden. „Willst du gesund werden?“ –fragt er. Das ist fast unverschämt. Was für eine überflüssige Frage. Natürlich will der Gelähmte gesund werden. Oder doch nicht? „Willst du dein Problem wirklich lösen?“

Unsere unglückliche Angestellte denkt über ihre Möglichkeiten nach: So einen gutbezahlten Job findet sie vermutlich nie wieder. In dieser Coronazeit sowieso nicht und die Jüngste ist sie auch nicht mehr. Wer weiß, ob das in anderen Firmen nicht genauso läuft. Das kann sie nicht riskieren. Da bleibt sie lieber in ihrer Abteilung, das kennt sie wenigstens und weiß, wem sie besser aus dem Weg geht.

Unsere 80-Jährige hat fast ihr ganzes Leben damit ver­bracht, für andere zu sorgen. Wie soll sie da das Leben plötzlich genießen? Noch dazu allein. Oder soll sie etwa losgehen und sich neue Freunde suchen. In ihrem Alter, wie soll das gehen? Im Seniorenkreis kennt sie doch niemanden. Da kann sie doch nicht einfach auftauchen. Nein, da bleibt sie lieber in ihrem Zimmer, wartet, dass die Kinder kommen, und ist traurig, dass es so selten ist.

Veränderungen machen Angst – das ist menschlich. Wir können das, was kommt, nicht voraussehen und befürchten oft das Schlimmste. Das lähmt uns, im wahrsten Sinn des Wortes. Auch der Gelähmte in der Geschichte sagt nicht freudig „Ja!“, als Jesus ihn fragt: „Willst du gesund werden?“ Er lässt sich gar nicht so schnell unterbrechen in seinem Klagelied. Er jammert einfach weiter: „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt.“ Am liebsten möchte er hingetragen werden, am liebsten die Verantwortung für seine Heilung, für sein Leben in Jesu Hände legen. Getragen werden. Auch sehr verständlich. Aber wer sich tragen lässt, wird nie auf eigenen Beinen stehen.

Und die Frage ist im Raum: „Willst du gesund werden?“ Dadurch zwingt Jesus den Kranken, sich zu überlegen: Will ich das, will ich gesund werden? Was will ich? Mit dem Kranken wird nicht einfach irgendwas gemacht, er wird gefragt, was er selber will. Jesus fragt ihn nach seinen Erwar­tungen und seinen Wünschen. Das weckt seinen Lebenswillen und so kann die Gesundung beginnen. „Steh auf, nimm dein Bett und geh!“ Der Gelähmte braucht niemanden, der ihn trägt. Er kann selbst Kräfte mobilisieren.

Das heißt nicht, dass wir uns allein aus jedem Leid heraus­kämpfen können und deswegen auch müssen. Gott hat uns Menschen so angelegt, dass wir den Mitmenschen brauchen. Nicht, dass er uns trägt, sondern, dass er uns zutraut, dass wir uns selbst tragen können. Der Kranke braucht Jesu Zuspruch: „Du kannst das, also mach!“ Und so wird Jesus ihm zu dem Menschen, von dem er vorher sagte: Ich habe keinen. Jesus wir hier zum Mitmenschen schlechthin – da geschieht Menschwerdung Gottes.

Und der Mann steht auf und geht. Halt nicht ganz – er nimmt sein Bett mit. Fast, als ob er sein Leid, plötzlich schultern kann, als ob seine Krankheit jetzt leicht genug ist, um sie zu tragen. Er streift seine Vergangenheit nicht völlig ab, das wäre auch unrealistisch – er nimmt sie mit.

Und jetzt wird es ja eigentlich erst spannend. Der ehemals Gelähmte geht in ein neues Leben. Er tut genau das, wovor die meisten Menschen Angst haben, selbst wenn sie noch so unzufrieden sind. Er ändert sich. Und was kommt dann? Und tatsächlich: Die Geschichte ist hier nicht zuende, sie geht weiter und zwar folgendermaßen:

Predigttext Teil 2: Johannes 5, 10-16

Es war aber an dem Tag Sabbat. Da sprachen die Juden zu dem, der gesund geworden war: „Es ist heute Sabbat; du darfst dein Bett nicht tragen.“ Er antwortete ihnen: „Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: ‚Nimm dein Bett und geh hin!’“ Da fragten sie ihn: „Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: ‚Nimm dein Bett und geh hin?’“ Der aber gesund geworden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war entwichen, da so viel Volk an dem Ort war. Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: „Siehe du bist gesund geworden; sündige hinfort nicht mehr, dass dir nichts Schlimmeres widerfahre“. Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hat.

Predigt Teil 2:

Der Mann beginnt sein neues – geheiltes – Leben und schon gibt es Stress. Eigentlich kein Wunder. Wer sein Leben verändert, der erschüttert auch das Leben seiner Mitmenschen, ob die nun wollen oder nicht.

Unsere klagende Angestellte verlangt ein Zwischenzeugnis und geht auf Jobsuche. Ihr Mann ist entsetzt: Was denkt dein Chef jetzt, der stellt dich doch jetzt aufs Abstellgleis, wenn er weiß, dass du auf dem Absprung bist. Und in der nächsten Sparrunde bist du dran. Wieso riskierst du deine sichere Stellung? So einen gut bezahlten Job findest du nie wieder!

Unsere 80-jährige hat den Weg in eine Senioren-Skatrunde gefunden, und nicht nur das: Sie hat dort jemanden kennen­gelernt, jemanden, den sie sehr nett findet. Die Kinder finden das lächerlich – Händchenhalten in deinem Alter, Mutter, das ist doch peinlich!

Wer am gewohnten Trott etwas ändert, der eckt an, der gerät schnell in Konflikte. „Du bist gesund geworden“ sagt Jesus, als er den Mann im Tempel sieht. Dieser Mann ist seine ersten Schritte gegangen, er hat nicht klein beigegeben, als man ihm vorgeworfen hat, dass er sein Bett herumträgt am Sabbat. Er hat es nicht abgestellt und stillgehalten. Er hat sich nicht wieder lahmlegen lassen. Er ist zum Tempel gelaufen.

„Du bist gesund geworden. Sündige hinfort nicht mehr, damit dir nicht Schlimmeres geschehe.“ sagt Jesus bei der zweiten Begegnung. Das gehört mit zur Heilung, denn Heil schließt Körper und Seele mit ein. Wenn etwas zerbrochen ist – eine Vase etwa – dann liegt es in Stücken. Wenn etwas heil ist, ist es ganz. Kein Mensch kann stückweise heil werden, das ist ein Widerspruch in sich. Heil für Körper und Seele gehört zusammen. Und es gehört auch zum Sabbat.

Jesus macht in dieser Begegnung und auch sonst immer wieder klar: Der Sabbat, der Ruhetag, mit allen seinen Vorschriften ist nicht dazu da, uns lahm zu legen. Sondern er soll uns helfen, wieder auf die Beine kommen. Im wahrsten Sinn des Wortes Kraft zu tanken, damit wir aufstehen und gehen können. Aber dazu muss man ab und zu sitzen dürfen, ausruhen. Das hat nichts mit Lähmung zu tun, sondern mit Heilwerden und Heilbleiben an Körper und Seele.

In vielen biblischen Geschichten wird erzählt, wie Menschen heil werden. Und es gibt viele weitere solche Geschichten, die nicht in der Bibel stehen. Gott traut uns zu, dass wir heil werden können. Er fragt uns, ob wir es wollen. Dann wird die Welt nicht rosarot sein, dann werden wir nicht tanzen und springen. Aber wir können aufstehen, unser Bett nehmen und gehen. Amen