Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Todeshauch und Lebensodem

Todeshauch und Lebensodem

Predigt zu Pfingstsonntag
Pastorin

Andrea Busse

Festgottesdienst am 19. Mai 2024

Ezechiel 37, 1-14

Predigttext: Ezechiel 37, 1-14

Die Lesung aus dem Alten Testament zugleich der Predigttext, ist eine Vision des Propheten Ezechiel.

Des HERRN Hand kam über mich, und er führte mich hinaus im Geist des HERRN und stellte mich mitten auf ein weites Feld; das lag voller Totengebeine. Und er führte mich überall hindurch. Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: HERR, mein Gott, du weißt es. Und er sprach zu mir: Weissage über diese Gebeine und sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret des HERRN Wort! So spricht Gott der HERR zu diesen Gebeinen: Siehe, ich will Odem in euch bringen, dass ihr wieder lebendig werdet. Ich will euch Sehnen geben und lasse Fleisch über euch wachsen und überziehe euch mit Haut und will euch Odem geben, dass ihr wieder lebendig werdet; und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin.

Und ich weissagte, wie mir befohlen war. Und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich und die Gebeine rückten zusammen, Gebein zu Gebein. Und ich sah, und siehe, es wuchsen Sehnen und Fleisch darauf und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen.

Und er sprach zu mir: Weissage zum Odem; weissage, du Menschenkind, und sprich zum Odem: So spricht Gott der HERR: Odem, komm herzu von den vier Winden und blase diese Getöteten an, dass sie wieder lebendig werden! Und ich weissagte, wie er mir befohlen hatte. Da kam der Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und stellten sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer.

Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, jetzt sprechen sie: Unsere Gebeine sind verdorrt, und unsere Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns. Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will eure Gräber auftun und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf und bringe euch ins Land Israels. Und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin, wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus euren Gräbern heraufhole. Und ich will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt, und will euch in euer Land setzen, und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin. Ich rede es und tue es auch, spricht der HERR.

Predigt:

Großes Kino, was uns Ezechiel da bietet. Wer ist das überhaupt dieser Prophet? Jesaja, hat man schon mal gehört und Jeremia, aber Ezechiel oder Hesekiel? Schon der Name – der übrigens „Gott möge kräftig machen“ bedeutet – also schon der Name ist schwer auszusprechen. Und schwer zu verdauen ist vieles, was in seinem Buch zu lesen ist: Entrück­ungen, apokalyptische Visionen, drastische Zeichen­handlungen werden von ihm berichtet. In der älteren Forschung hat man seinen Gemütszustand bisweilen als schizophren dia­gnostiziert. Also Ezechiel fällt schon mal aus der Rolle, aber solche Fern­diagnosen über die Jahrtausende finde ich dann doch ziemlich gewagt.

Also wer ist dieser Ezechiel und was hat er uns zu sagen?
Priester war er, so kann man nachlesen, und Angehöriger einer einflussreichen Jerusalemer Familie. 597 v. Chr., als das Groß­reich Babylon das schwache Israel erobert und die oberen Zehntausend (daher stammt übrigens diese Redewendung) ins Exil führt wird, ist er, Ezechiel, dabei. Er wird in die Exulanten­siedlung Tel Abib am großen Kanal in Babylonien verschleppt.

Das ist vermutlich, wie wenn man aus einer Harvestehuder Villa in eine Flüchtlingsunterkunft mit vielen anderen und ohne jede Privatsphäre verpflanzt wird, in einem Land, in der die eigene Sprache und Qualifikation nicht mehr zählt und man kein An­recht auf Mindestlohn hat, geschweige denn eine Arbeitser­laubnis. Dafür Zwangsarbeit leisten darf, und zwar in der Land­wirtschaft, so war das damals am Großen Kanal in Babylon.

In der Trostlosigkeit dieses Exils ergreift Gottes Geist unseren Ezechiel und lässt ihn Unglaubliches sehen. Vielleicht hatten Sie vorhin – bei der Lesung und der Musik innere Bilder vor Augen: Da ist ein riesiges Feld von Gebeinen, über das der Hauch des Todes weht. Grinsende Totenschädel, verstreute Knochen – soweit das Auge sehen kann. Eine Horrorvision.

Und doch gibt es solche Totenfelder ja leider ganz real. Es gibt sie die verdorrten Gebeine, die zurückbleiben auf den Flucht­routen durch die afrikanische Wüste, verzweifelte Menschen, die das Mittel­meer nie erreichen. Das Mittelmeer ist selbst ein Massen­grab geworden für Tausende Flüchtende jährlich. Und natürlich gibt es die Totenfelder auf den Kriegsschau­plätzen: Leichen auf den Straßen von Butscha, im Kibbuz Beeri, unter den Trümmern in Gaza.

Abgründe der Unmenschlichkeit werden uns da gezeigt und viele dieser verdorrten Gebeine werden vergessen oder bekommen im besten Fall ein Andenken gegen das Vergessen, rücken ein in die Erinnerungskultur. Manchmal mag es gelin­gen, dass Unrecht zur Sprache kommt, dokumentiert wird in Prozess­akten. Das macht die Toten allerdings nicht lebendig.

Meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden? fragt Gott Ezechiel.
Meinst du wohl….
Meinst du, da geht noch was?
Meinst du, es gibt Hoffnung?
Meinen wir angesichts der Totenfelder, deren Andenken wir wahren oder die wir Menschen gerade ganz aktuell neu schaffen, meinen wir angesichts dessen, dass diese Welt noch zu retten ist? Was meinen Sie?

Die Horrorvision des Ezechiel ist auf jeden Fall nicht das Ende des Kapitels, sondern der Anfang. Da passiert etwas auf dem Totenfeld: Die Knochen rücken zusammen, sortieren sich, finden sich zu Körpern, Sehnen bilden sich, Fleisch und Muskeln, Haut umschließt sie, Haare wachsen, Gesichter werden erkennbar. Ein Wind hebt sich, ein Atmen, er bläst Leben in die verdorrten Körper.

Odem, Hauch, Wind, Atem, Geist – auf Hebräisch heißt all das Ruach. Und diese Ruach – sie ist tatsächlich weiblich – eine Geistkraft also eher, sie ist schon von Anfang an da. Schon als die Erde wüst und leer war, schwebt die Geistkraft Gottes über dem Wasser und wird kurz darauf dem Menschen als Leben eingehaucht.

Diese Geistkraft ist der zentrale Begriff der Vision und der Grund, warum wir sie inzwischen nicht mehr an Ostern, sondern an Pfingsten bepredigen. Es ist nicht wirklich eine Auf­erstehungsgeschichte, auch wenn sie auf den ersten Blick so daherkommt, sondern eine Geist-Geschichte. Im Gespräch mit seinem Propheten Ezechiel, den Gott diese Wandlung vom Horror zur Hoffnung schauen lässt, erklärt er zum Schluss, was da geschieht. Die Deutung wird also netterweise mitge­liefert:

„Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, jetzt sprechen sie: Unsere Gebeine sind verdorrt, und unsere Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns.“

Die Israeliten befinden im Exil, ihr Land ist verwüstet, Jerusalem zerstört und das Volk sitzt an den Flüssen von Babylon und weint. Sie haben ihre Hoffnung verloren. Sie glauben nicht mehr an eine Rückkehr und Rettung, sie werden untergehen. Verdorrt, verloren, vorbei. Babylon hat Israel das Existenzrecht genommen.

Und dahinein sagt Gott: „Ich meine sehr wohl, das geht noch was.“
„Siehe, ich will eure Gräber auftun und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf und bringe euch ins Land Israels. Und ich will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt, und will euch in euer Land setzen. Ich rede es und tue es auch, spricht der HERR.“

Ein Hoffnungsbild für Israel und was für eines. Und Gott tut es! Er führt sein Volk heraus aus dem Exil, Jahrzehnte später unter dem Perserkönig Kyrus dürfen sie zurückkehren und bauen ihr Land wieder auf.

Und Jahrhunderte später kehren sie zurück aus den Gräbern und Gaskammern Deutschlands und Europas. Sie kehren zurück in diesen Landstrich und gründen den Staat Israel.

„Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr.“

Ich erinnere hier noch einmal an den Wochenspruch, denn ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich kann diese Worte vom Volk Israel, das Gott in sein Land setzen will, nicht lesen, und gleichzeitig ausblen­den, was gerade in diesem Land geschieht und welche Toten­felder dort neu entstanden sind und entstehen und welche Horrorvision dort gerade Realität wird.

Da sind die Bilder vom entsetzlichen Massaker am 7. Oktober und von der humanitären Katastrophe im Gazastreifen jetzt. Und wieder tun sich menschliche Abgründe auf und wieder schreien die Gebeine der Toten – und dabei ist es egal, ob sie auf Hebräisch oder Arabisch schreien.

Die Frage ist gleich:
Meinst du wohl….?
Meinst du wohl, da geht noch was?
Meinst du wohl da gibt es Hoffnung, Hoffnung auf Leben und Zukunft? Hoffnung auf den Wind, den Gott herbeiruft, auf den Geist? Auf eine Geistkraft, die für Frieden sorgen kann, für Verstän­digung zwischen den Sprachen, den Kulturen, den Völkern. Und dieses Fragen hinein hören wir heute die Geschichte von Pfingsten, vom Geist, der ausgegossen wird, und alle können sich verstehen und verständigen.
Meinst du wohl da geht noch was….?

So haben sich vermutlich auch die Jünger und Jüngerinnen damals in Jerusalem gefragt. Die ganze Stadt feiert ausgelassen das Schawuotfest und sie sitzen drinnen hinter verschlossenen Türen. Sie haben auch ein Totenfeld vor Augen, eine Schädelstätte, genannt Golgatha. Ein Kreuz und die ausgetrockneten Gebeine ihres geliebten Freundes. Ins Grab haben sie die gelegt. Und dann haben sie ihn wieder­gesehen irgendwie lebendig, aber nicht greifbar, bei ihnen, aber dann doch entrückt in den Himmel. Das alles ist so verwirrend, sie verstehen das nicht, können nicht damit um­gehen. Die Trauer lähmt sie noch immer, sie haben Angst, wissen nicht, wohin mit sich. So sitzen sie hinter verschlos­senen Türen, igeln sich ein, machen dicht.

Und dann passiert etwas: Dann wird der Wind herbeigerufen wie damals bei Ezechiel. Ein frischer Wind bläst durch das Haus, wie ein Brausen und Beben, so erzählt es die Pfingstgeschichte. Er öffnet die Fenster und Türen des Hauses und die Herzen der Jünger. Er treibt sie nach draußen. Er be-geistert sie. Sie sind Feuer und Flamme. Leben kommt in sie, mit diesem Hauch, Atmen, Wind, die Geistkraft bringt das Leben zurück und die Hoffnung.

Meinst du da geht noch was?
Meinst du es gibt Hoffnung für diese Welt?
Für den Nahen Osten, für die Ukraine, für diesen gebeutelten Planeten?
Nein, sagen sicher die Pessimisten.
Nein, sagen vielleicht auch die Realisten.
„HERR, mein Gott, du weißt es.“ – sagt Ezechiel
Und Gott sagt: Ja, da geht noch was. Mein Geist geht, er weht, er kommt. Er schafft neues Leben. Das ist die Hoffnung, die Pfingsten uns predigt.

Hoffnung auf Neuanfang, für den uns Gott die Kraft schenkt. Das heißt nicht, dass uns alles in den Schoß fällt. Als die Israeliten damals aus dem Exil heimkehrten, wich die Euphorie schnell der Ernüchterung. Sie kamen in eine zer­störtes Nachkriegsland, der Aufbau war mühsam und dauerte Jahrzehnte. Neuanfang ist mühsam. Als die Juden und Jüdinnen vor den Pogromen und aus den KZs nach Zion flüchteten, wurden sie nicht mit offenen Armen empfangen. Wie schwierig die Geschichte des Staates Israels ist, erleben wir ja gerade ganz aktuell. Neuanfang ist nicht ein Happy End, es ist eben ein Anfang. Aber dass es einen Anfang geben kann, wenn alles zuende scheint, Lebensodem, wo Todeshauch zu spüren war, das ist der Geist der Hoffnung, den wir heute an Pfingsten feiern.

Schließen möchte ich mit einem Text von Dietrich Bonhoeffer über diese Hoffnung:
„Mich beschäftigt die Behauptung“, schreibt Dietrich Bonhoeffer, „dass kein Mensch ohne Hoffnung leben kann, und dass Menschen, die wirklich alle Hoffnung verloren haben oft wild und böse werden. Es bleibt dabei offen, ob hier Hoffnung gleich Illusion ist. Gewiss ist auch die Bedeutung der Illusion für das Leben nicht zu unterschätzen; aber für Christen kann es sich doch wohl nur darum handeln, begründete Hoffnung zu haben. Und wenn schon die Illusion im Leben des Menschen eine so große Macht hat, dass sie das Leben in Gang hält, wie groß ist dann erst die Macht, die eine absolut begründete Hoffnung für das Leben hat und wie unbesiegbar ist so ein Leben.“ Amen.