Wahrheit oder Pflicht
Sonntag Rogate, 15. Mai 2023
Predigttext
Predigt
Gnade sei mit euch und Friede von Gott!
„Wahrheit oder Pflicht?“ Diese Frage werden manche von Ihnen kennen als Partyspiel. Die Älteren vielleicht auch vom „Flaschendrehen“, das auf Geburtstagen oder Partys gespielt wurde und wird.
Bevor die entscheidende interessante Frage gestellt wird, muss der oder die Befragte festlegen, ob sie mit „Wahrheit“ oder mit „Pflicht“ antworten wird. Ob sie oder er eine bestimmte Frage wahr und ehrlich beantworten wird oder lieber eine Pflichtaufgabe lösen will. Typische „Wahrheit oder Pflicht-Aufgaben“ sind dann Fragen wie: „Hast du schon mal etwas geklaut?“ Oder: „Küsse den Jungen im Raum, den du am liebsten magst!“
Immer geht es darum, eine besonders spannende oder heikle Frage zu beantworten – und je nach Alter betrifft dies dann vor allem das Küssen und Klauen oder auch Mutproben, Geheimnisse oder extreme Erfahrungen. Es ist jedenfalls ein beliebtes Spiel, um sich näher kennenzulernen und die eigene Neugier zu befriedigen!
Um Wahrheit und/oder Pflicht geht es auch bei dem heutigen Predigttext aus dem 1. Timotheusbrief. Um die Pflicht zum Beten, zu der der Apostel die Gemeinde ermahnt, und um die Wahrheit, die es dadurch zu erkennen gilt.
„Betet“, schreibt der Verfasser, der sich als Apostel Paulus ausgibt, aber wahrscheinlich ein anderer war. „Vor allen Dingen tut Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen! Ihr als Gemeinde, als Christinnen und Christen – vor allem andern: Betet!“
Warum? möchte man fragen. Warum sollte Beten wichtiger sein als zum Beispiel Kranke versorgen oder sich um Arme kümmern? Warum sollte Beten wichtiger sein als in der Bibel lesen oder Gottesdienst feiern?
„Betet“, schreibt der unbekannte Apostel, „für alle Menschen, für die Könige und für die Obrigkeit!“
Und wir denken vielleicht: Für alle Menschen beten, na gut, aber warum besonders für die Herrschenden?
„Damit“, schreibt er, „wir als Christen ein ruhiges, zufriedenes Leben führen können.“ Ohne Krieg und ohne Verfolgung oder Repressalien, wie damals im Römischen Reich und heute in Nordkorea, Afghanistan, im Iran oder der Ukraine. Damit wir unseren Glauben in Frieden ausüben dürfen – und wir heute denken dabei unsere Geschwister anderer Religionen und Weltanschauungen mit. Damit das Recht der freien Religionsausübung bleibt bzw. hergestellt wird und es überall Respekt und Schutz der Religionen gibt.
Betet, so lese ich den Brief, damit ihr Gottesdienste feiern, Religionsunterricht geben, Bibeln drucken oder als Christen erkennbar diakonisch tätig sein dürft. Damit ihr sagen und zeigen dürft, dass ihr euch in eurem Leben auf Jesus Christus bezieht!
„Betet für die Könige, die Regierenden, Vorgesetzten, Entscheider und Verantwortungsträgerinnen“ – das schreibt der Apostel sicher auch deshalb, weil viel in ihren Händen liegt. Beten mögen wir, damit sie klug und gerecht entscheiden, an den Menschen und der Zukunft orientiert, an Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.
Betet, damit ihr Handeln getragen sei von unserem Gebet!
Folgt man so den Worten des Briefschreibers, weitet sich der Begriff, den wir vielleicht üblicherweise vom Beten haben: Vom Abend- und Tischgebet, vom ganz persönlichen Gebet für mich, meine Familie und Freunde.
Das Beten bekommt noch eine andere Dimension. Es geht nicht allein um die persönliche Zwiesprache zwischen Gott und mir, meine eigene Besinnung und Beziehung zu Gott, sondern um ein umfassenderes Verständnis, eine Haltung oder einen sog. performativen Akt. Das heißt, man tut oder vollzieht etwas, das nach außen sichtbar oder hörbar ist und zugleich eine Wirkung hat. Es geht nicht nur um die performance, sondern um ein Tun, das wirkt. Diese Annahme gilt für jeden Gottesdienst, sie gilt für den Segen und sie gilt nach dem Apostel auch für das Gebet:
Ich falte oder öffne die Hände, ich hebe oder senke den Kopf, ich stelle mich in eine bestimmte Beziehung zu Gott und zu denen, für die ich bitte, ich spreche, ich bete – und dadurch geschieht etwas, verändert sich etwas.
Der Apostel meint, es verändert sich dadurch nicht weniger, als dass wir durch unser Beten mithelfen, dass in unserer Welt die Wahrheit zu Tage tritt. Er schreibt: „Beten ist vor Gott gut, denn er will, dass allen Menschen geholfen wird und sie die Wahrheit erkennen.“
Gottes Wahrheit. Gottes Blick auf uns und unsere Welt. Gottes Wunsch und Wille für uns und seine Welt.
Gottes Wahrheit, die wir nicht ganz verstehen. Die sich zeigt in der Offenbarung seines Sohnes Jesus Christus und in seinem Wort in der Bibel und in der Schöpfung – und die uns zugleich auch immer verborgen bleibt. Gottes Geheimnis.
Betet also, damit alle Menschen, alle Welt eine Ahnung von Gottes Wahrheit bekommt. Eine Ahnung, dass unser Leben nicht aufgeht in uns selbst, unserem Können, unserem Wissen, unseren Maßstäben … Dass diese Welt nicht nur aus dem Augenscheinlichen besteht.
Sondern es Geheimnisse des Lebens gibt, die viel größer sind als wir selbst: Das Geheimnis der Geburt, der Liebe, des Mitgefühls, der Versöhnung … Betet, damit es andere Gefühle und Gedanken, Sichtweisen und Stimmen gibt als die, die in unserer Welt offenbar das Sagen haben. Damit eine andere Wirklichkeit und Wahrheit Gestalt gewinnen.
„Das ist eure Pflicht“, sagt der Apostel, „vor allen anderen Dingen“: Für diese Wahrheit einzustehen. Dieser Wahrheit durch euer Beten in der Welt Raum zu verschaffen. Sie Wirklichkeit werden zu lassen. Deutlich zu machen: Diese Wahrheit ist auch da.
Liebe – auch da. Mitleid – auch da. Bitten um Vergebung – auch da. Bereitschaft zur Umkehr und Veränderung – auch da. Begleitung von Kindern und Kranken – auch da. Durch unser Gebet.
Ich weiß, dass viele Menschen beten. Kinder, die in der Gute-Nacht-Kirche beim Abendgebet wie von selbst still werden und stolz zeigen, wie sie schon ihre Finger verschränken können. Jugendliche, die selbstverständlich beten, für gute Noten wie für kranke Großeltern. Erwachsene, die für ihre Kinder und Enkel um Gesundheit, Frieden oder Liebe beten, heute vielleicht für ihre Mütter und Großmütter.
Gebete, die unsere Welt verändern, weil sie neben all den anderen Worten und Taten auch da sind.
Beim Rausgehen von der Mittagspause sagte mir am Donnerstag eine Frau: „Zuerst fand ich es doof, das Gebet am Ende der Andacht. So formal aufstehen, die Hände falten und immer das Vaterunser … Aber ich habe mich daran gewöhnt. Ich merke, dass es mir guttut, dass ich reinkomme ins Beten. Es ist eigentlich ganz schön!“
Ja, es ist schön, es ist gut und heilsam für uns und unsere Welt, wenn wir beten und Gottes Wahrheit Raum bekommt.
Jede und jeder von uns kann ins Gebet einstimmen. Man kann damit immer anfangen, auch wenn unser Gebet abgebrochen ist oder wir wenig Übung haben. Es braucht nicht viele Worte, sie dürfen sich wiederholen, müssen nicht originell sein … Wir können unsere eigenen Worte oder geprägte Worte benutzen, wie „Gott sei Dank!“ oder „Herr, erbarme dich!“ oder einen Psalm.
Vor allem aber: Betet! Und seid gewiss, dass auch unsere Gebete gehört werden und wirksam sind.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.