Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Wer gehört dazu?

Wer gehört dazu?

Gottesdienst am Sonntag der Europawahl
Pastorin

Andrea Busse

Predigt am 9. Juni

Epheser 2, 11-22

Predigttext: Epheser 2, 11-22

Darum denkt daran, dass ihr, die ihr einst nach dem Fleisch Heiden wart und »Unbeschnitten­heit« genannt wurdet von denen, die genannt sind »Beschneidung«, die am Fleisch mit der Hand geschieht, dass ihr zu jener Zeit ohne Christus wart, ausgeschlossen vom Bürgerrecht Israels und den Bundesschlüssen der Ver­heißung fremd; daher hattet ihr keine Hoffnung und wart ohne Gott in der Welt.

Jetzt aber in Christus Jesus seid ihr, die ihr einst fern wart, nahe geworden durch das Blut Christi. Denn er ist unser Friede, der aus beiden eins gemacht hat und hat den Zaun abgebrochen, der dazwischen war, indem er durch sein Fleisch die Feindschaft wegnahm. Er hat das Gesetz, das in Gebote gefasst war, abgetan, damit er in sich selber aus den zweien einen neuen Menschen schaffe und Frieden mache und die beiden versöhne mit Gott in einem Leib durch das Kreuz, indem er die Feindschaft tötete durch sich selbst. Und er ist gekommen und hat im Evangelium Frieden verkündigt euch, die ihr fern wart, und Frieden denen, die nahe waren.

Denn durch ihn haben wir alle beide in einem Geist den Zugang zum Vater. So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist, auf welchem der ganze Bau ineinandergefügt wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn. Durch ihn werdet auch ihr mit erbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist. 

Predigt:

Der Freundeskreis von Friederike und Michael existiert schon lange. Das passt einfach zusammen: Man ist beruflich gut etab­liert, kulturell interessiert, politisch informiert und auf ähn­licher Wellenlänge. Die Gespräche an den gemeinsamen Abenden sind immer anregend, die Kleidung casual, das Essen nach Rezepten von Ottolenghi.

Und dann bringt Theresa ihren neuen Partner mit. Alle sehen es auf den ersten Blick, er ist viel zu schick angezogen für ein Abend­­essen. Alle sehen es und ver­suchen, es zu übersehen, heißen ihn herzlich willkommen. Selbst­ver­ständ­lich, so ist man. Man bemüht sich, ihn ins Gespräch mit einzu­be­ziehen, aber er war nicht in der Marathonafführung von Haratisch­wilis „Das mangelnde Licht“, die gerade alle begeistert. Vielleicht ja im Kino? Ja, in Dune Teil 2, immerhin auch ein Marathon von fast 3 Stunden, aber das hat keiner der anderen gesehen. Das Gespräch mit ihm, so zugewandt und offen man auch sein möchte, ist müh­sam. Kai wird immer stiller. Mit Versuchen, ihn einzubinden, scheint man ihn noch mehr zu stressen, ihn einfach zu über­gehen, damit fühlt sich der Rest der Gesellschaft nicht wohl. Theresa und Kai gehen früh und kommen so schnell vermutlich nicht wieder, obwohl alle das wirklich bedauern.
Wer gehört dazu? Das ist die Frage.

In unsere deutschsprachige-evangelische Gemeinde in Paris kamen immer wieder Menschen, die aus Syrien oder Iran, aus Afghanistan oder Bangladesch geflüchtet waren, Menschen, die entweder schon dort Christen waren oder jetzt welche werden wollten. Warum sie genau bei der deutschsprachigen Gemein–de gelandet waren, keine Ahnung, sprachlich war es für sie überall schwierig, aber sie wollten dazugehören. Sie kamen regelmäßiger in den Gottesdienst, als alle noch so verbun­denen Gemeindeglieder, sie kamen zum Kirchenkaffee, zu den Veranstaltungen, sie hatten ja auch Zeit. Sie baten höflich um Gespräche, um Gebete, um gemeinsames Bibellesen. Sie wollten alles lernen über diesen Glauben, der für sie nicht nur ein Schutz vor Abschiebung sein sollte, sondern der sie ehrlich berührt hatte, weil er doch verspricht, dass alle willkommen sind. Sie wollten, dass in den Predigten über Jesus und seine Wunder gesprochen wird, nicht über Kochgurus und irgend­welche sozialen Blasen und Milieus.

Pastorin und Gemeindeglieder taten sich schwer, die Bedürf­nisse waren so weit auseinander. „Wir sind doch die Altein­gesessenen“ – sagten die deutschen Zugezogenen in Frank­reich – „wir dürfen doch sagen, wo es lang geht“. Andererseits über Jesus reden, kann ja auch nicht falsch sein. Die Gespräche veränderten sich also doch ein bisschen, die Ge­meinde veränderte sich ein kleines bisschen. Die Verstän­digung blieb immer auch schwie­rig. Oft klappte sie nicht. Manche der Neuen ver­schwan­den wieder, andere waren hartnäckig.
Wer gehört dazu?

Albanien, Bosnien und Herzegowina, Georgien, Moldau, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien, Türkei, Ukraine – sie alle wollen dazugehören, zur EU. Von manchen Ländern könnten wir vielleicht auf Anhieb nicht mal die Hauptstadt nennen. Und wir fragen uns: Wie stabil sind die demokratischen Systeme dort? Fangen wir uns da nicht ein neues „Ungarn“ ein, kann das die EU verkraften, wie verschiebt das die Balance zwischen Nettozahlern und -empfängern? Wen wollen wir wirklich als Mit-Bürger in der EU haben – mit all den Rechten, die wir schon lange genießen. Z.B. dem Wahlrecht, von dem Sie heute hoffentlich alle Gebrauch machen. (Der Hinweis musste jetzt natürlich sein!).
Also: Wer gehört zu uns?

Wer gehört dazu? – Die Frage hat schon die junge christliche Gemeinde umgetrieben und führte zu heftigen Konflikten. Ent­standen war die Jesusbewegung ja innerhalb der jüdischen Gemeinden, durch Menschen, die in Jesus den erwarteten Messias erkannt hatten. Aber nicht alle sahen das so, im Gegenteil, die meisten nicht. Stattdessen begeisterten sich Leute außerhalb des Judentums für die Botschaft von Jesus: Unbe­schnittene, also Heiden. Sollten die dazugehören? Die standen doch der jüdischen Religion gar nicht nahe und die ist die Voraussetzung für die Predigt vom Messias, auf griechisch vom Christus. Diese Leute waren „ausgeschlossen aus dem Bürgerrecht Israels“, wie es im Epheserbrief heißt. Und weiter im Zitat „den Bundesschlüssen der Verheißung fremd.“

Heiden und Juden, das waren streng getrennt Blasen, Welten. „Ihr wisst, dass es einem jüdischen Mann nicht erlaubt ist, mit einem Nichtjuden Umgang zu haben und zu ihm zu kom­men.“ sagt Petrus, als er den heidnischen Hauptmann Kornelius taufen soll – und dann trotzdem tauft, denn – und jetzt zitiere ich noch einmal unseren Epheserbrief: „Jetzt aber in Jesus Christus seid ihr, die ihr einst ferne wart, nahe geworden. Denn er ist unser Friede, der aus beiden eins gemacht hat und hat den Zaun abgebrochen, der zwischen uns war.“

Zäune aufbauen, Mauern aufbauen – ist so viel einfacher, als sie einzureißen. Denn was könnte da passieren, wenn man sie einreißt – da könnten ja viele kommen! Und es kamen vielen – zumindest viele Heidenchrist:innen. Die christliche Botschaft breitet sich aus von Palästina bis hierher zu uns und noch weiter. Wir würden sonst auch nicht dazu­gehören. Wäre dieser Zaun nicht eingerissen worden, gäbe es kein jüdisch-christ­liches Abendland.
Wer gehört dazu?

Dazugehören ist ein urmenschliches Bedürfnis. Wir alle wollen uns irgendwo beheimaten, verwurzeln; wir wollen ankommen, bleiben dürfen, ein Dach über dem Kopf haben und uns Zuhause fühlen. Der Schreiber des Epheserbriefes nimmt dieses Bild vom Zuhause auf und malt es aus. Er zeichnet das Bild vom „Vater­haus“, in dem Israel sozusagen das Geburtsrecht hat, in dem aber alle willkommen sind. Und zwar eben nicht nur als Besuch, der kommt und wieder geht, nicht nur als Gäste, die fremd in dem Haus sind, sondern als echte „Mitbürger der Heiligen“ so heißt es. Heute würde man vielleicht sagen: als WG-Mitbe­wohner gemeinsam und gleichberech­tigt mit Israel.

Und eben als „Gottes Hausgenossen“, denn als Vater-Haus ist es natürlich auch Gottes-Haus, und zwar ein ganz besonderes. Gotteshäuser kennen wir viele, wir sitzen hier in einem ganz besonders schönen. Aber Kirchen können zerstört werden, das Mahnmal St. Nikolai in der Innenstadt erinnert uns daran. Der zerstörte Tempel in Jerusalem erinnerte den Schreiber des Epheser­briefes und alle seine Leser:innen daran. Deswegen soll dieses neue Gotteshaus anders sein, nicht aus Backstein oder Ziegel, sondern ein Haus aus lebendigen Steinen. Funda­ment sind die Apostel, also diejenigen, die die Nachricht von Jesus in die Welt gesandt und sie auch für uns Nachkomm­en­de aufge­schrieben haben. Der Eckstein, der alles zusammen­­hält ist Jesus Christus selbst. Und darauf und daraus kann das Haus wachsen, mit lebendigen Steinen. Das sind all die Gläu­bigen, das wir sind, und diese Steine müssen ineinander­greifen, damit es hält.

Es ist ein schillerndes Bild: Wir bauen das Haus und bewohnen es auch. Unsere Arbeitskraft wird gebraucht, aber es wächst durch Gottes Geist und gibt uns Schutz und Obdach. Es ist ins­gesamt eine im wahrsten Sinn des Wortes „erbauliche“ Angele­genheit für uns.

Und dann kommt es wie bei jedem Haus: Man feiert Richtfest, Einzug und Hauswarming-Party, man ist Feuer und Flamme – das haben wir an Pfingsten gerade gefeiert. Aber dann gehen ein paar Wochen ins Land, und es staubt und der Putzplan muss geschrieben werden. Der Geist kam wie ein Beben von Himmel und hat Feuerzungen angezündet und dann versucht man, diese zum Dauerbrenner zu machen. Nach den Hochfesten – Ostern, Himmelfahrt, Pfing­sten, meinetwegen auch noch Trinitatisfest, sind wir heute am 2. Sonntag nach Trinitatis endgültig im Alltag gelandet, in dem Wissen, dass wir die nächsten Sonntage nur noch zählen: 3. nach Trinitatis, 4.,5.,6. bis zum 23. nach Trinitatis geht das jetzt so weiter. Der Soziologe Max Weber hat von der „Veralltägli­chung des Charis­mas“ gesprochen.

All das müssen die „Mitbewohner der Heiligen, die Hausbe­wohner Gottes“, muss die „göttliche WG“ erstmal aushalten und hinkriegen. Und – so macht dieser Text es unmissverständlich klar – dieses WG-Leben funktioniert nur, wenn es a) friedlich abläuft und b) wenn die Tür offen­bleibt. Wenn auch Fremde einziehen dürften und zu Mitbe­wohner:innen werden. „Denn Christus hat den Frieden gebracht denen, die fern waren und denen die nahe waren“, also denen, die das Hausrecht beanspruchen und denen, die Obdach suchen. Das ist die Verheißung und gleichzeitig die Herausforderung für diese Wohngemein­schaft.

Für jede Generation stellt sich diese Herausforderung anders dar: Wir heute haben ein schönes Haus, wir haben erbau­liche Orte und Gemeinschaften, gute Angebote, aber plötzlich gibt es gar nicht mehr viele, die wirklich darin und damit leben wollen. Im Gegenteil, sie wollen gar nicht Hausbe­wohner:innen werden, sondern Gäste bleiben. Sie wollen gerne kommen und wieder gehen. Sogenannte Passagere. Sie wollen z.B. in der Kirche getraut werden, nicht nur für die Party und die Kulisse, sondern für den Segen und für die durchbetete Atmosphäre, die dieser Raum ausstrahlt. Dafür sind sie em­pfäng­lich, danach gibt es ein Bedürfnis. Aber Kirchenmitglied wollen sie lieber nicht werden. Sie wollen zu Besuch kommen, aber nicht am Putzplan beteiligt werden. Machen wir denen die Tür vor der Nase zu? Oder sollen wir taufen, trauen, beerdigen ohne Kirchenmitgliedschaft, den Solidargedanken aushebeln, wenige die Arbeit machen und die Miete zahlen lassen?

Was der Autor des Epheserbriefes wohl dazu sagen würde? Was er schreibt ist: „Denn durch Christus haben wir alle in einem Geist Zugang zum Vater!“ Und der Geist weht bekanntlich, wo er will. Er hält sich nicht an Mietverträge und Hausregeln, auch wenn wir gerne diese Sicherheit und Klarheit wollen.

Das Bild vom Haus, das hier gemalt wird, ist vielleicht ein Traum­haus, eine Vision. Reich Gottes eben – das heißt es ist schon da, aber auch noch nicht ganz. Und doch gibt dieses Vaterhaus, dieses Gotteshaus uns, die wir hier sitzen, ein Dach über dem Kopf, ein Zuhause. Und wir tun hier das, was man in einer guten WG tut: Wir reden mitein­ander, wir streiten auch mal miteinander, wir teilen uns ein bisschen was von unserem Leben mit, wir bewahren auch unsere Privatsphäre, wir trösten und kritisieren einander – und wir essen miteinander. Und genau das wollen wir nun tun, wenn wir jetzt Abendmahl miteinander feiern und uns dabei ver­sichern, dass wir dazugehören, dass wir gemeinsam an einen Tisch gehören, weil Gott uns eingeladen hat. Amen.