Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Angesprochen Werden

Angesprochen Werden

Festgottesdienst zu Ostern
Pastorin

Andrea Busse

Predigt am 31.3.2024

Predigt zu Johannes 20, 11–18

Gebet:

Dies ist der Tag, denn du Gott, für uns gemacht hast.
Damit hast du einen neuen Anfang gesetzt, wo sich alles im Kreis dreht.
Du hast vom Leben erzählt, wo alles an den Tod glaubt.
Du hast uns gefunden, wo wir steckengeblieben sind.
Lass uns aufstehen und das Leben suchen, das uns verloren ging.
Lass uns aufstehen und die Heiterkeit entdecken, die uns abhanden kam.
Lass uns aufstehen und die Liebe wiederbeleben, die wir haben erkalten lassen.
Gott, sei du mit uns, damit wir aufstehen mit dir. Amen.
(Aus: Feministische Predigtreihe, hg. von Sabine Väuerle ind Elisabeth Müller, Frankfurt/Berlin 1996-1997, S. 152)

Predigttext:

Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie nun weinte, beugte sie sich in das Grab hinein und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo der Leichnam Jesu gelegen hatte. Und die sprachen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist. Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir: Wo hast du ihn hingelegt? Dann will ich ihn holen. Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister! Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott. Maria Magdalena geht und verkündigt den Jüngern: »Ich habe den Herrn gesehen«, und was er zu ihr gesagt habe. (Johannes 20, 11–18)

 

Predigt:

Liebe Gemeinde,

heute feiern wir Ostern. Ein wunderbares Fest. Wir haben die schwere Passionszeit hinter uns, wir dürfen den Blick abwenden vom Leid und Schmerz und uns freuen, dass das Leben stärker ist als der Tod.
„Dass das Leben stärker ist als der Tod“ – Das klingt schon verdächtig nach Floskel.
Was heißt das eigentlich konkret: Leben stärker als der Tod.
Wie kann ich mir das vorstellen mit der Auferstehung?

Helfen mir die Bilder dabei, die andere sich gemacht haben?
Hier in unserer Kirche gibt es ein Osterbild: Jesus schwebt mit triumphierender Geste aus dem Grab. Ich gebe zu, ich kann damit wenig anfangen, und es erstaunt mich nicht, dass das Bild versteckt in der Sakristei hängt.
Helfen mir vielleicht eher die Geschichten dabei, die alten bibli­schen oder auch die neuen, aktuellen?
Es gibt eine Ostergeschichte, die mich schon immer ganz beson­ders angesprochen hat, weil es darin um das Angesprochen-Werden geht. Wir haben sie gerade gesungen gehört. Ostern liegt in unserem Predigttext heute eigentlich in einem einzigen kleinen Wort, ein Name nur, „Maria“.

Am Anfang steht die Trauer. Im nächtlichen Dunkel beginnt Marias Weg. Früh morgens macht sie sich auf zum Grab Jesu. So wie es Unzählige tun, die einen geliebten Menschen verloren haben: Am Grab suchen sie Trost in ihrem Schmerz, und im Erinnern ersehnen sie die Nähe des Verstorbenen. So möchte Maria dem verstorbe­nen Jesus nahe sein. Sie möchte festhalten, was er ihr bedeutet hat – er, der ihr einen neuen Lebensinhalt gegeben hat, er – der ihr Leben war. Das ist es ja eben: Sie und die anderen Jünger, sie trauern ja nicht nur um einen Menschen, den sie geliebt haben, sondern auch um das, wofür er stand. Für dieses Lebendig­machende, Verwandelnde, Hoffnungs­volle. Ihr Lebensentwurf ist mit ihm zerbrochen. Die Trauer ist doppelt tief und verzweifelt.

Auch wir trauern nicht nur um Menschen, sondern auch um ver­passte Mög­lichkeiten, um vertane Chancen, um Lebenswege, die wir nie gegangen sind. Manchmal trauern wir auch um den Menschen, der wir gerne wären und nie sein werden.

Maria stellt sich der Trauer: Sie geht zum Grab, sie weint, blickt ins Dunkle, sie weicht dem nicht aus, stellt sich dem Schmerz. Wer das tut, dem öffnen sich neue Lebensperspektiven. Maria sieht mehr als vorher, sie sieht die Engel. Das sind seit alters her Lebensboten. Und zur weinenden Maria sprechen sie. Sie sprechen so, dass sie sich umwendet. Wechselt sie dabei auch die Perspektive? Was sie nun sieht, ändert auf den ersten Blick gar nichts: Ein Gärtner. Der fragt das Naheliegende: Warum weinst du? Ein Gespräch mit einem Fremden. Aber plötzlich geschieht das Wunder. Völlig unerwartet. Bei diesem Unbekannten, den sie für den Gärtner hält. Auf einmal wird sie angesprochen: „Maria“. Das eine Wort ändert alles. Es ist nicht die Gestalt des Mannes – ein Unbekannter, ein Un-erkannter. Es ist nicht mal die Stimme. Nur WIE er sie anspricht. So hatte das nur Jesus getan. Niemand anders hatte sie so im Innersten berührt mit seinen Worten, niemand anders hatte ihr so viel gesagt, wenn er sie nur ansprach. Maria! Auf einmal erkennt sie das wieder. Kein Zweifel: Jesus ist es gewesen, der sie angesprochen hat. Und in dem gleichen ver­trauten Ton kann sie sagen: Rabbuni! Mein Meister! Das ist Ostern. Jesus, der Totgeglaubte lebt. Vertraute Worte, Worte, die Leben wecken. Nichts Spektakuläres. Weder das leere Grab, noch die Engel können den Osterglauben begründen. Für Maria ereignet sich Ostern ganz anders, nur in einem Wort. Und doch weiß sie: Jesus ist da, er lebt.

Und Jesus hält keine Vorträge, er erklärt nicht, was es auf sich hat mit der Auferstehung – das könnte keine Tränen trocknen. Er ist nur einfach da und spricht Maria mit ihrem Namen an. Das verwandelt Maria, so wie es auch andere verwandeln würde. Wenn jemand mich beim Namen nennt, mich ansieht, mich wirklich meint – das kann wie neues Leben sein. Ein Wort, das mich anrührt – das kann mich herausholen aus dem Dunkel, aus der Traurigkeit und zu neuem Leben wecken.

Marias Geschichte ist eine uralte Ostergeschichte, eine der ersten. Es gibt auch neue Ostergeschichten. Ich habe von einer Jugend­lichen gehört, die nicht mehr Teresa heißen will, sondern Nicki. Sie kann sich nicht festlegen, was sie/was er ist: Junge oder Mädchen. Nicki, das kann beides sein, das ist offen genug. Aber für ihre Eltern ist das unvorstellbar. Ihr Mädchen, ihre Tochter, ihre Teresa eben. So haben sie sie tausendmal genannt, so steht es in der Geburtsurkunde, auf dem silbernen Serviettenring, auf den Schul­zeug­nissen. So ist es in ihr Herz geschrieben. Aber Nickis Herz fühlt sich nicht als Teresa. Teresa, das war immer das falsche Leben. Das hat sie nicht gemeint oder nur einen kleinen Teil von ihm. Nicht genug. Die Jugendliche wird depressiv, auto­aggressiv, das ist nicht das Leben, das er will, das sie aushält. Der Vater sieht sein Kind leiden, er sieht die Striche an den Armen, wo es sich geritzt hat, die Narben, den Schmerz, er fühlt sich total hilflos. Also sucht er sich Hilfe, professionelle. Und irgendwann kann er verstehen, dass es einfach nur darum geht zu leben. Und dass sein Kind nur leben kann, wenn er sein darf, wie sie ist. An dem Abend klopft der Vater an die Tür des Kinderzimmers. Keine Reaktion, wie so oft. Und dann überwindet er sich, klopft noch einmal und ruft: Nicki? Da ist er der Name, der so viel mehr bedeutet. Die Tür öffnet sich langsam. Die Tür des Kinderzimmers, die Tür innerhalb der Familie, die Tür zu einem neuen Leben.

Angesprochen werden, als die, die wir sind. Eine Erfahrung, die wir alle machen können, sicher schon öfter gemacht haben. Unspektakulär eigentlich. Aber sie holt ins Leben. Das Wunder von Ostern ist kein fernes Ereignis der Vergangenheit und auch keines der fernen Zukunft. Es geht nicht um ein unver­ständ­liches magisches Ereignis, sondern um das Wunder des Leben-Dürfens, Leben-Könnens.

In Gottes Liebe, so erzählt Marias Geschichte, ist Jesus lebendig. Von ihm beim Namen genannt, finden Menschen neues Leben. Das ist Ostern, das kann auch heute geschehen. Manchmal ganz unerwartet: im Gespräch mit einem Unbekannten, in einer alltäg­lichen Begegnung oder in der Gemeinschaft der Gemeinde. Da können wir uns auf einmal angesprochen fühlen und wissen: Ich bin ganz persönlich gemeint. Ich, so wie ich bin, bin von Gott geliebt, von anderen geschätzt. Das verwandelt.

Maria jedenfalls hört auf zu weinen und sie will nach Jesus greifen. Sie will diesen beglückenden Moment festhalten. Sie will nach ihrem Glück greifen – und dann dieses abweisende: „Rühr mich nicht an!“ Der Auferstandene ist nicht zu fassen. Ostern ist nicht mit Händen zu greifen, nicht zu begreifen. Man kann solche Erfahrungen, wenn man sich plötzlich angesprochen fühlt – man kann diese Erfahrungen nicht festhalten – sie sind flüchtig wie das Glück.

„Rühr mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater.“ sagt Jesus. Noch nicht aufgefahren, aber auch nicht mehr ganz hier, zumindest nicht greifbar hier. Er ist nicht von dieser Welt, hinter dieser Wirklichkeit liegt eine andere. Zwei Wirklichkeiten: nicht mehr Tod, Verlorenheit, Verzweiflung, Einsamkeit, Schuld – aber auch noch nicht das andere. Das Neue ist erfahrbar, aber nicht festzuhalten; nicht ganz und doch ganz bestimmend, wenn man darauf vertraut.

Von Auferstehung spricht der Text überhaupt nicht. Das Wort kommt nicht vor. Die Geschichte spricht davon, dass wir im menschlich sichtbaren Jesus Gott erfahren können, dass beide Wirklichkeiten eins sind, dass wir in dieser Erfahrung das Leben haben, dem man vertrauen kann. Vielleicht spricht sie auch davon, dass der Kern unserer Wirklichkeit die Liebe ist, die sich im Glück des Augenblicks erleben lässt. Ein Moment des Glücks hebt ja die Zeit auf und ist insofern ewig und nicht dem Tod unterworfen. Es ist der Moment, wenn die beiden Wirklichkeiten eins werden, der Moment der Hingabe ans Leben. Man kann auch sagen: Es ist Gegenwart Gottes. So wie Maria sie erlebt.

Darin und daraus zu leben ist wunderbar. Solange wir leben, leben wir mit beiden Wirklichkeiten, der irdischen und der, die darüber hinausgeht. Und solange wir leben, wird die Einheit immer wieder zerfallen. Solange ist Wahrheit und Liebe zerbrechlich wie ein Spiegel, wie eine Wasseroberfläche, die man nicht berühren darf, weil sonst das Bild verschwimmt. Aber es ist die Wahrheit, die den Tod überwindet. Die Leben schenkt, das stärker ist als der Tod. In diesem Sinne: Frohe Ostern! Amen.