Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Wir sehen von ferne

Wir sehen von ferne

Predigt an Karfreitag
Pastorin

Andrea Busse

Gottesdienst am 29. März 2024

Predigt zu Matthäus 27,33–55

Psalm 22 & modernes Gebet

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.
Ich muss mein Kreuz auf mich nehmen.
Keiner kann mir das abnehmen.
Es ist mein Schmerz, meine Einsamkeit.
Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht,
und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.
Manchmal entzieht sich Gott. Ich spüre ihn nicht mehr, ich verstehe ihn auch nicht.
Er ist mir fremd.
Aber du bist heilig,
der du thronst über den Lobgesängen Israels.
Du bist so anders, Gott, als ich dich gerne hätte.
Thronst weit oben – heilig bist du nicht alltäglich.
Unsere Väter hofften auf dich;
und da sie hofften, halfst du ihnen heraus.
Ich lese die alten Geschichten,
ich höre von Menschen, die dir vertraut haben trotz allem.
Zu dir schrien sie und wurden errettet,
sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden.
Sie haben zu dir gerufen und du warst da.
Ich rufe zu dir und hoffe, dass du da bist –auch für mich:
Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe;
denn es ist hier kein Helfer.
Ich brauche deine Nähe, wenn es um mich herum eng wird,
wenn die Angst sich breit macht.
Aber du, HERR, sei nicht ferne;
meine Stärke, eile, mir zu helfen!
Mein Gott, hast du mich verlassen?
Ich lasse dich nicht.
So wenden wir uns dir zu und rufen dich an: Kyrie eleison!

Predigttext:
Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte, gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und da er’s schmeckte, wollte er nicht trinken. Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum. Und sie saßen da und bewachten ihn. Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König. Da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken.
Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz! Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Er ist der König von Israel, er steige nun herab vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben. Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren.
Von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia. Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken. Die andern aber sprachen: Halt, lasst uns sehen, ob Elia komme und ihm helfe!
Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.
Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen. Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen! Und es waren viele Frauen da, die von ferne zusahen.

Predigt:

Gekreuzigt, gestorben und begraben – so haben wir gerade gesprochen. Ein paar wenige Worte nur, dann sind wir schon bei der Auferstehung. In Wirklichkeit liegen zwischen „gekreu­zigt“ und „gestorben“ qualvolle Stunden. Dieser Tag heute, dieser Text heute aus dem Matthäus­evange­lium zwingt uns zur Verlang­samung. Den Raum der Schmerzen, der Verlassenheit, des Zweifels, des Spottes ­– den müssen wir heute aushalten. Das Kreuz steht ja nicht im luft­leeren Raum: Da stehen Menschen drum herum, nahe dabei und weiter weg. Und wir auch – ziemlich weit weg, getrennt durch eine lange Zeit der Überlieferung und Deutung. Da stehen Menschen und schauen auf das Kreuz und den, der dort stirbt. Da wird geredet, kommentiert, gefragt und ge­schwiegen. Lassen Sie uns einmal gemeinsam mit Matthäus lauschen:

„Er hat Durst. Normalerweise gibt man den gekreuzigten Verbrechern Wein mit Myrrhe, das lindert den Schmerz etwas. Aber der hier ist besonders: Der kriegt Wein mit Galle! Das ist so bitter, davon kann man sich eigentlich nur übergeben. PAUSE Das wollte er natürlich nicht trinken. Dann hat er halt weiter Durst! Selbst schuld.“

„Selbst schuld. Die hier hängen, sind ja alle verurteilt worden. Haben irgendwas verbrochen. Geschieht ihnen also recht. Wir machen nur unseren Job. Befehl ist Befehl. Und unser Befehl heißt: Hinrichtungen. Genauer: Kreuzigungen. Und danach Wache schieben, bis sie definitiv tot sind. Appetitlich ist das natürlich nicht. Mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Am besten man guckt nicht so genau hin. Ich gucke lieber auf das, was so übrigbleibt. Ein schönes Gewand z.B. Das wollte sich natürlich jeder von uns unter den Nagel reißen. Im Endeffekt haben wir gelost. Ich hab’s nicht bekommen. Vielleicht habe ich beim Nächsten mehr Glück.“

„Das Schild soll da noch hoch an den Balken: Das Schild, auf dem der Urteilsspruch steht: „Dies ist Jesus, König der Juden.“ Ganz schön jämmerlich, euer König. Ganz schön jämmerlich, eure Versuche, sich gegen uns Römer aufzu­lehnen, ihr seht doch, wo das endet. Es ist gut, dass hier ein Exempel statuiert wird. Guckt euch an, was euch blüht! Ich will nicht bei einem Anschlag aus dem Hinterhalt mein Leben verlieren. Daran vergeht euch hoffentlich die Lust, wenn ihr den hier seht.“

„König der Juden!“ Mein König war der nie! Er hat den Mund viel zu voll genommen. Unsere ganze Tradition hat er in Frage gestellt, als ob er besser wüsste, wer Gott ist als wir, die wir uns seit Jahrhunderten damit beschäftigen und unser Wissen weiter­geben. Aber wer den Mund weit aufreißt, dem laufen die Leute natürlich nach. Und ja, er hat vielen geholfen. Aber jetzt – jetzt kann er nicht mal sich selbst helfen. Wenn was dran ist an dem, was er da vollmundig verkündet hat, dann ist jetzt der Moment: Dann komm jetzt runter vom Kreuz.“

„Ein „König“ zwischen uns Räubern – du bist auch nichts anderes als wir: ein Krimineller, der sich hat erwischen lassen!“

„Was ruft er jetzt? Eli … irgendwas… Er meint bestimmt Elia, einen berühmten Propheten der Juden. Na, dieser Jesus war ja bekannt für spektakuläre Wunder. Ich bleibe lieber noch ein bisschen. Vielleicht passiert hier heute noch etwas Aufregen­des! Das will ich nicht verpassen.“

„Es standen aber alle seine Bekannten von ferne und sahen das alles.“ Von ihnen hören wir nichts. Sie trauen sich nicht, den Mund aufzu­machen. Wir können vielleicht ahnen, wie schwer es ist, Worte zu finden für das, was sie fühlen: Das Entsetzen, die Angst, die Hoffnungslosigkeit und Trauer. Vielleicht sogar Wut, so enttäuscht worden zu sein.
Sie sehen von ferne.
Wir sehen von ferne.
Die Schädelstätte ist weit weg. Uns trennen viele Jahrhunderte von dem Geschehen damals. Das Kreuz ist vielen fremd geworden. Früher galt Karfreitag als höchster Feiertag der Protes­tanten, heute ist das Osterfest beliebter. Da kommen mehr Menschen in den Gottesdienst. Die Botschaft vom Sieg des Lebens ist so viel positiver. Und doch ist das Kreuz präsent in unseren Kirchen, es ist das Symbol unseres Glaubens. „Das genialste Logo, mit dem wir nichts Rechtes anfangen können“, wie Oliviero Toscani behauptet hat. Stimmt das? Auch heute stehen Menschen vor dem Kreuz. Ich will jetzt ihren Fragen und Stimmen einmal Raum geben:

Ich habe z.B. gelesen von einer Kirchengemeinde, die für einen Kirchenumbau auf die Suche ging nach einem Kreuz, das über dem Altar hängen sollte. Der Kirchengemeinderat fuhr durch die Gegend und guckte sich Kreuze an. Da war eines, vor dem blieben sie lange stehen. Das war das Bild eines ge­quälten Menschen. Der Schmerz auf dem Gesicht, die ver­zogenen und verdrehten Glied­maßen, das Blut der Wunden. Und einer sagte „Sowas können wir nicht nehmen, das kann man sich doch nicht jeden Sonntag anschauen. Das ist ja schrecklich.“
Eine andere antwortete: „Leiden sieht immer schrecklich aus, so ist das nun mal. Meint ihr denn das war damals ein schöner Anblick?“
Die nächste meinte: „Ich glaube, Leiden kann man überhaupt nicht wirklich darstellen. Es käme doch keiner auf die Idee heute das Sterben eines Schwerst­kranken zu malen. Wir fände das doch auch verfehlt, wir würden uns doch solche Kunst nicht anschauen.“ – „Naja“ erwiderte der erste „wenn wir ein Kreuz suchen, geht es ja nicht um Kunst.“ – „Aber dies hier“ – und die Kirchengemeinderätin deutete auf das umstrittene Kreuz „dies hier ist doch wohl ein Kunst­werk“. Und so standen sie dort unter dem Kreuz und diskutierten über Kunst und Kult, über Schmerzen und Leiden und auch über sich selbst. Ich weiß nicht, wie sie entscheiden haben. Wie würden wir entscheiden?

Ein Kreuz, das den Leidenden zeigt, das uns die Schmerzen vor Augen hält? Oder lieber eines, das Christus als den Sieger über Sterben und Tod darstellt, triumphierend? Ein Kreuz, das stört, oder eines, das passt? Unser Kreuz passt gut in den Kirchraum. Am Anfang zu gut. Am Anfang war der Altar aus Holz und wenn man „von ferne stand“, dort hinten, dann war das Holz vor dem roten Backstein kaum wahrzunehmen. Es wurde fast unsichtbar. Deswegen hat man den Altar vergoldet. Nun ist das Kreuz sichtbar. Golden. Wertvoll und kostbar zeigt es sich.

„Ist das echtes Gold?“, fragen mich die Grundschulkinder, die hierher kommen. Und ein Junge fragte auch: „Wollte der denn eigentlich sterben?“

Und eine Konfirmandin fragte: „Konnte sich Gott nicht etwas anderes ausdenken, um die Menschen zu erlösen, als einen so grausam verenden zu lassen?“

Das Kreuz stellt viele Fragen. Es stellt uns in Frage.
Es fragt uns, wie wir umgehen mit dem Kreuz, das wir tragen müssen. Welchen Raum dürfen eigene Verletzungen und Krän­kungen in unserem Leben haben? Manche von uns tendieren ja dazu, schnell alles schön zu reden und zu verdrängen. Andere fühlen sich im Gegenteil im Selbst­mitleid ganz wohl und reden von nichts anderem. Wie tragen wir unser Kreuz?

Das Kreuz fragt uns auch, wie wir mit dem Leid anderer um­gehen: Trauen wir uns nahe ran oder stehen wir dann lieber von ferne. Wehren wir es ab? „Im Grund bist du ja selbst schuld“, auch wenn wir das natürlich nur denken und nicht sagen. Oder haben wir gute Ratschläge parat, wie andere ihr Leid mindern könnten? „Steig doch herunter von deinem Kreuz!“ Sind wir unsicher, haben Angst etwas Falsches zu machen oder zu sagen und bleiben deswegen lieber auf Distanz? Können wir das Leid anderer aushalten, mittragen?
Auch darauf werden wir nicht die eine Antwort geben können. Aber darüber nachdenken sollten wir, wenn wir uns hier unter unserem Kreuz versammeln.

„Unser Kreuz“ – Ein goldenes Kreuz. Ja, für mich ist das Kreuz wertvoll und kostbar und zu Recht Symbol unseres Glaubens. Es steht für Leid und für Hoffnung. Für Hoffnung im Leid. Es zeigt, dass Grausamkeit, Leid und Tod in unserem Glauben Raum haben dürfen. Und es steht dafür, dass Gott Leid mit­tragen kann. Dass er es aushält. Wenn wir unser Kreuz tragen, sind wir nicht allein, weil unser Gott am eigenen Leib erlebt hat, wie sich das anfühlt. Kein Moment im Leben so dunkel, kein Schmerz so uner­träglich, dass Gott fern wäre. Er steht nicht fern, er steht nah. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.“ ruft Jesus. Es ist ein Ruf der Gottverlassenheit, aber kein unbe­kannter. Es ist der erste Vers aus Psalm 22, den wir gemein­sam gesprochen haben. Und somit ist es eben nicht nur ein Ruf der Gottverlassenheit, sondern Auftakt eines Gebets, das die Nähe Gottes sucht – und findet und auch von Gottvertrauen spricht.

Gekreuzigt, gestorben und begraben,
hinabgestiegen in das Reich des Todes,
am dritten Tage auferstanden.
Ende und Neuanfang im Zeitraffer. Zwischen den Verletzungen und Kränkungen unseres Lebens, zwischen der Trauer und dem Neuanfang liegen viele Tage, manchmal Jahre. Da gibt es leider keinen Zeitraffer. Den Raum müssen wir aushalten. Aber wir sind nicht allein in diesem Raum – das ist die Hoffnung die das Kreuz uns schenkt. Und die ist wertvoll und kostbar. Amen.