Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Das Kreuz an der Ostsee

Das Kreuz an der Ostsee

Predigt in der Reihe zu Caspar David Friedrich am 10. März
Pastorin

Andrea Busse

Sonntag Lätare , 10. März

Predigt zu "Kreuz an der Ostsee und 1. Korinther 1,18–31

Impuls 1

Unser Kreuz ist im Moment hinter dem Gerüst verschwunden. An der Leinwand heute ein anderes Kreuz, eines von Caspar David Friedrich, eines der vielen, die er gemalt hat.

Am bekanntesten ist vermutlich „Das Kreuz im Gebirge“ auch Tetschener Altar genannt. Das Bild ist in einem goldenen Rahmen eingefasst, oben gerundet und zeigt einen felsigen mit Nadelbäumen bewachsenen Berggipfel, auf dem ein Kruzifix steht. Mit diesem Kreuz-Bild gelang Caspar David Friedrich 1808 der Durchbruch in der Öltechnik, es gilt als Ikone der Kunst der Romantik und als das am meisten besprochene Werk Friedrichs. Daneben gibt es ein Bild mit fast demselben Titel: Kreuz im Gebirge. Ein Kreuz in den Bergen gibt es auch, ebenso ein Kreuz im Walde, an dessen Fuß eine Quelle entspringt. Beim Morgen im Riesen­gebirge findet sich zwar kein Kreuz im Titel, aber trotzdem sehr prominent ein Gipfelkreuz über der nebe­ligen Berglandschaft. Wie viele Bilder Friedrich mit Kreuzen versehen hat, lässt sich schwer bestimmen, manchmal ist es das Hautmotiv, manchmal im Hintergrund.

Eine Predigtreihe über Caspar David Friedrich in der Passions­zeit ohne Kreuz, das geht gar nicht. Man weiß, dass der Maler sein Kreuz getragen hat. Der Hinweis findet sich in einem nüchter­nen Eintrag im Kirchenbuch von St. Nikolai zu Greifs­wald (zitiert bei Illies, S. 132): „Den 8.12.1787 ist des Licht­gießers Fried­richs Sohn, alt 12 Jahre, da er seinen ins Wasser gefallenen Bruder retten wollte, ertrunken“. Aus dem Wasser gerettet wurde damals Caspar. Dass sein älterer Bruder sein Leben für ihn gab, wird ihn als lähmende Schuld begleiten und prägen. Immer wieder gibt es Phasen von „Melan­cholie“, so nannte man es damals, heute würde man Depression sagen. Man vermutet einen Suizidversuch; die Narben am Hals ver­sucht Caspar David Friedrich später durch Bartwuchs zu verstecken. Auch dass er im Alter von 6 Jahren seine Mutter verliert und dass zwei seiner Schwestern jung sterben, muss bleibende Spuren in der Kinder­seele hinterlassen haben.
Halt findet Friedrich in der Natur und in seinem Glauben, eben im Kreuz, das er immer wieder malt.

Das Kreuz an der Ostsee gibt es allein in 5 verschiedenen Fassungen, d.h. die Urfassung ist von ihm selbst oder von Schülern kopiert worden. Anstoß für das Bild war vermutlich das gleichnamige Trauerspiel von Zacharias Werner aus dem Jahr 1806, ein Text der mystischen Frühromantik. Das Stück spielt an der Ostsee und dreht sich um die Christianisierung der hier wohnenden heidnischen Alt-Preußen. Eingewoben darin ist eine Liebesschichte, die den Weg von der irdischen zur himm­lischen Liebe weist. Vor allem aber gibt es Anklänge an das Martyrium des Heiligen Adalbert, Bischof von Prag, der von Preußen erschlagen wurde und dem man an der Ostsee eine Kapelle mit einem großen Holzkreuz errichtete. Man weiß, dass Friedrich das Stück von Werner gelesen hat, es gibt eine Sepia­zeichnung dazu und die Beschreibung des Bühnenbildes findet sich eben in reduzierter Form in seinem Werk „Kreuz an der Ost­see“ wieder.

In Auftrag gegeben hat dieses Bild wahrscheinlich – so ganz genau weiß man das nicht – Sylvie von Ziegensar als Geschenk für ihren Mann den Jenaer Theologieprofessor August Koethe. Ein Briefwechsel belegt, dass Friedrich und Koethe sich gut kannten. Man vermutet auch, dass es ein Erinnerungsbild für einen verstorbenen Freund sein sollte: Der Übergang in die Nacht legt das im Bild auch thematisch nahe.

Am 9. Mai 1815 jedenfalls schickte Caspar David eine erste Skizze, Bildunterschrift „Mondschein“, an Louise Seidler, eine befreundete Künstlerin in Dresden. Er schreibt dazu:

„Das Bild für Ihre Freundin bestimmt – ist bereits angelegt, aber es kommt keine Kirche darauf, kein Baum, keine Pflanze, kein Graßhalm. Am nackten steinigen Meerestrande steht hoch aufgerichtet das Kreuz – denen so es sehen ein Trost, denen so es nicht sehen ein Kreuz.“

Lesung der Epistel aus 1. Korinther 1

Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es Gottes Kraft. 19 Denn es steht geschrieben: »Ich will zunichtemachen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.« 20 Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weisen dieser Welt? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? 21 Denn weil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die da glauben. 22 Denn die Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, 23 wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit; 24 denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. 25 Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind. 26 Seht doch, Brüder und Schwestern, auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme sind berufen. 27 Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist; 28 und was gering ist vor der Welt und was verachtet ist, das hat Gott erwählt, was nichts ist, damit er zunichtemache, was etwas ist, 29 auf dass sich kein Mensch vor Gott rühme. 30 Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der für uns zur Weisheit wurde durch Gott und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung, 31 auf dass gilt, wie geschrieben steht: »Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!«

Impuls 2

„Am nackten steinigen Meerestrande steht hoch aufgerichtet das Kreuz.“ So hat Caspar David Friedrich selbst das Bild beschrieben. Er hat das Kreuz milimetergenau in die Mitte der Lein­wand platziert. Markierungen am Rand zeigen, dass das kein Zufall ist. Es ragt weit in den Himmel, schon die Felsspitze, auf der es steht, überragt die Horizontlinie. Im Vordergrund liegt am Felsen ein großer Anker. Daneben, in eine Felsritze ge­klemmt, sieht man Gestänge, die man nutzt, um ein Boot abzu­stoßen, es an einem großen Segler festzu­machen oder auch die Wassertiefe zu messen. Das alles ist nicht so richtig gut zu erkennen, denn durch das Gegenlicht ist es vorne im Bild ziemlich dunkel.

Auch wenn Anker und Fels größer sind, so ist es doch das Kreuz, das die Komposition beherrscht und den Blick auf sich zieht – den Blick der Betrachter und auch der Menschen auf den Segelbooten, die im Hintergrund auf dem Meer gegen den Wind kämpfen. Eines ist gut zu erkennen, ein anderes ganz hinten am Horizont kaum zu erahnen. Das Kreuz, das schräg im Bild steht, ist direkt zu den Booten hin ausgerichtet, ein Orien­tierungs­­punkt für die sichere Navigation. Tief über dem Horizont und wiederum genau in der Mitte der Längsseite des Bildes steht der Mond, der gerade erst aufge­gangen sein muss. Mit den zerfransten Wolken, die nur im unteren Himmel zu sehen sind, sieht er aus wie die Linse eines Auges.

Es gibt einen längeren Text über das „Kreuz an der Ostsee“ von Johann Heinrich Meyer, selbst Maler, Kunstschriftsteller und Goethes rechte Hand in Kunstangelegenheiten. Er schreibt ein bisschen abfällig: „Solch einfachen Einkleidung in land­schaft­l(iche) Bilder bediente sich der geniale Künstler geistliche Religionsbegriffe allegorisch darzustellen“ (Zitiert bei Busch, S. 115) und dann rattert Meyer den traditionellen Deutungskatalog der dargestellten Motive runter. Das Kreuz auf dem Felsen als (Zitat) „Signal für die Schiffe“ steht natürlich für den Opfertod Christi. Der Anker ist das Hoffnungszeichen, woran wir uns in stürmischen Zeiten festmachen können. Die Schiffe stehen für unsere Lebensreise durch das bewegte Meer, auf der wir Orientierungspunkte brauchen, erst recht wenn die Nacht des Lebens anbricht, also die Reise Richtung Ewigkeit führt. Der Mond leitet die Schiffe aus unruhiger See in den Hafen des Glaubens. Das abgelegte Gestänge mag für das Ende des tätigen Lebens stehen.

Natürlich spielt die Symbolik der dargestellten Gegenstände eine Rolle, aber das Bild Friedrichs innerhalb weniger Minuten wie mit einer Vokabeltabelle Anker = Hoffnung, Fels = Halt zu entschlüsseln, das greift sicher zu kurz und wird dem Werk nicht gerecht.

Ein anderer Zeitgenosse Friedrichs, der Gelehrte und Schrift­steller Christian August Semmler, der 1808 und 1809 zwei größere Aufsätze über Friedrich verfasst, scheint mir mehr Finger­spitzengefühl für die Deutung zu haben. Er schreibt: „Es gibt unter der zahlreichen Gattung allegorischer Bilder eine Art Bilder“ – (und er macht klar, dass er die gut findet) „wo es der Künstler gar nicht darauf anlegt, eine bestimmte Gedanken­reihe auszudrücken (…)“, sondern „jedem An­schauer überlässt, sich diese Beziehung nach der individuellen Richtung und Stimmung seines Gemütes weiter auszu­denken.“ (zitiert bei Busch, S. 127).

Und Werner Busch, ein Kunsthistoriker, der in seinem 2023 erschienenen Buch „Romantisches Kalkül“ das Kreuz an der Ostsee als Ausgangspunkt für seine Interpretation von Fried­richs Malerei nimmt, schreibt über seine Werke: „Wenn man vor ihnen steht, merkt man, dass man sie nur re­zipieren kann, indem man sich auf sie einlässt und sich dafür Zeit nimmt. Das ist ganz strategisch von Friedrich so angelegt. Aber es gibt keine Lösung. Jahrzehntelang war die Forschung überzeugt, alle Bilder seien plan religiös, man müsse sie nur geradezu zeichenhaft aufdröseln. Inzwischen ist klar, dass das nicht funktioniert.“

Ich glaube auch, dass wir schon selbst unsere je eigene Deutung finden müssen, unseren eigenen Sinn, dass wir selbst zur Be-sinnung kommen müssen und können vor diesem Bild. Der Mond, der wir eine Iris in den Wolken platziert ist, fordert uns dazu auf, ihm ins Auge zu blicken und selbst zu sehen, zu spüren, zu hören, was uns anspricht. Nehmen wir uns jetzt dazu noch einen Moment Zeit.

MUSIK

Impuls 3

Ein Bild vom Kreuz – „denen so es sehen ein Trost, denen so es nicht sehen ein Kreuz.“ Zitat Caspar David Friedrich.
„Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es Gottes Kraft“ Zitat Paulus.

Was also sehen wir? Was hören wir?
Das Kreuz ist nie einfach. Es ist und bleibt anstößig.

Es gibt natürlich die traditionellen Deutungen. Die Sühneopfer­theologie z.B. besagt: Menschen werden immer wieder schuldig und ver­dienen eine Strafe, diese nimmt Jesus als Sühneopfer stell­vertretend auf sich, damit wir wieder mit Gott versöhnt sein können. Eine zwangsläufig ge­schuldete Sühne­leistung zur Besänftigung des zornigen Gottes also. Ganz klassisch besungen z.B. im Eingangschor der Matthäuspassion von Bach: „All Sünd‘ hast du getragen, sonst müssten wir verzagen.“

Für andere spricht das Kreuz eher von Liebe, von einer aus Freiheit vollzo­genen Selbst­hingabe. So wie Christoffer Friedrich seinen kleinen Bruder nicht im eisigen Wasser versinken ließ, sondern hinterhersprang, aus Liebe, um sein Leben zu retten. Natürlich ohne zu wissen, dass sein Herz stehen bleiben würde. Menschen sind fähig zu solcher Leidenschaft, also zu Liebe, die Leiden erträgt. Liebe zu anderen Menschen, Liebe zu Ideen und Idealen auch, ohne die man glaubt, nicht leben zu können. Ich denke an Nawalny, der sicher wusste, dass er das nicht überleben würde, wenn er nach Russland zurückkehrt. Aber das, wofür er kämpfte, wofür er auch nach seinem Tod noch steht, war ihm wichtiger als reine Lebenszeit. Das Kreuz wird dann zum Zeichen der Hingabe an das, was mehr wert ist, als das eigene Leben.

Manche sehen im Kreuz den entscheidenden Schnittpunkt des menschlichen Lebens: Der Querbalken weist uns wie offene Arme darauf hin, dass wir als Menschen, als Gemeinschaft miteinander verbunden sind, füreinander sorgen können, aufeinander Acht haben, wenn wir – Längsbalken – uns in Beziehung setzen zu Gott. Auch eine mögliche Sichtweise, die einen etwas anderen Schwerpunkt setzt.

Vielleicht sieht mancher von Ihnen in erster Linie das Auf­strebende dieses Kreuzes: die Ausrichtung in den Himmel hinein. Der Verweis, dass diese Erde und das was wir hier sehen, der Fels, der Boden, der Untergrund, dass das nicht alles ist, sondern, dass der Himmel offensteht. Das Kreuz weist durch die Wolken hindurch in die Weite. Es gibt ein Darüber­hinaus für uns Menschen.

Für eine andere mag das Kreuz in allererster Linie Symbol sein für das Leid. Für das Kreuz, das man auf sich nehmen muss. Auch für menschliche Grausamkeit. Dann zeigt es, dass wir keinen Heile-Welt- oder Selbstoptimierungsglauben haben, dass Schmerz, Schuld, Scheitern und Scham nicht ausge­blendet werden. Sie kommen vor in unserem Leben und in der Welt. Die christliche Verkündigung geht nicht darüber hinweg, sondern im Gegenteil, sie stellt das in den Mittelpunkt, sie kann es in den Mittelpunkt stellen, weil sie Trost kennt: Den Trost nämlich, dass wir in all dem nicht allein sind, weil unser Gott das Leid kennt, weil er es – am Kreuz – am eigenen Leib erlebt hat und wir deswegen nie, nicht einmal im Sterben, alleine sind.

Es gäbe noch viel mehr Blickwinkel auf das Kreuz. So wie Caspar David Friedrich immer wieder das Kreuz gemalt hat, so könnte ich immer wieder neue Formulierungen und Deutungs­inhalte finden, die sich gegenseitig ja nicht ausschließen. So wie seine Bilder so ist auch das Kreuz offen für unsere eigenen Sinnfindungen: Es fragt uns danach, es fordert uns heraus. Wir müssen unseren eigenen Zugang dazu finden, sonst bleibt es – wie Caspar David Friedrich sagte – ein Kreuz. Längsbalken, Querbalken, sonst nichts. Möge das Kreuz uns das sein, wovon sein Bild erzählt: Halt und Trost, Hoffnung und Orientierung im Leben und darüber hinaus. Amen.

Quellen:
Werner Busch, Romantisches Kalkül, Caspar David Friedrichs Kreuz an der Ostsee, Berlin 2023
Florian Illies: Zauber der Stille. Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten, Frankfurt a.M. 2023.
https://www.tagesspiegel.de/kultur/ausstellungen/kunsthistoriker-uber-caspar-david-friedrich