Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Ein großer Gesang

Ein großer Gesang

Predigt zu Palmsonntag am 24. März
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

Palmsonntag, 24. März 2024

Predigt zu Philipper 2, 5-11

Predigttext: Philipper-Hymnus (Philipper 2, 5-11)

Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht:
Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein,
sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an,
ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.
Darum hat ihn auch Gott erhöht
und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist,
dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie,
die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind,
und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist,
zur Ehre Gottes, des Vaters.

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von dem,
der da ist und der da war und der da kommt!

Als Jesus in Jerusalem einzog – oder besser: einritt: ein junger König auf einem zu kleinen Esel –, da jubelten die Leute. So wird es in den Evangelien erzählt. Sie standen am Wegrand, breiteten ihre Umhänge vor ihm auf der Straße aus, rissen Palmwedel von den Bäumen und riefen: „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ (Joh 12, 13)

Jubelrufe und Hymnen, Hurra und Hosianna – so klang es bei Jesu Ankunft in Jerusalem. Begeisterung über den ersehnten Messias, den neuen, anderen König, der die Mächtigen vom Thron stürzen würde, die Kindermörder wie Herodes, die Unterdrücker wie die römischen Besatzer. Der die Verhältnisse ändern würde: Frieden und Gerechtigkeit statt Waffen, Hungerlöhne und Abgaben.

Im Rückblick wissen wir, wie schnell die Stimmung umschlug. Wie aus dem „Hosianna“ das „Kreuzige“ wurde. Und der Umstürzler, der kleine König und radikale Menschenfreund weggeschafft werden sollte. „Weg, weg mit dem“, ruft der Chor in der Johannes-Passion von Bach.

Am Anfang aber: Hurra und Hosianna, Palmzweige und Hymnen. Heute, am Palmsonntag, erinnern wir uns, steigen mit ein in die Liebes- und Leidensgeschichte von Jesus, stellen uns mit an den Weg, auf dem er einzieht.

Was wir wohl rufen, welche Hymnen oder Lieder wir wohl singen würden? Was käme uns in den Sinn, müssten oder dürften wir Jesus begrüßen?

„Halleluja“ – oder auch: „Na, endlich!“
„Komm, Herr, segne uns!“ – oder: „Großer Gott, wir loben dich“?

Welche Lieder wir wohl überhaupt gemeinsam auswendig singen könnten? Welche Hymnen noch zu uns gehören?

Unweigerlich denkt man an die Nationalhymnen. Und an Fußballhymnen: „Mein Hamburg lieb ich sehr, sind die Zeiten auch oft schwer …“, „Hamburg, meine Perle …“ Lieder, die man in großer Gruppe singt, wenn man mitfiebert, mitleidet, mitjubelt mit dem eigenen Team.

Und bei manchen Rock- oder Schlager-Hymnen würden wir zumindest manche Teile auch gemeinsam hinbekommen: „Live is Life“, „We don’t need no education“ oder „Atemlos durch die Nacht“ … Einprägsame Texte, leichte Refrains, nicht allzu viel Melodie, die davon leben, dass man sie laut zusammen singt.

Der Predigttext heute am Palmsonntag ist auch eine Hymne. Ihre Melodie kennen wir leider nicht mehr, aber am Sprachrhythmus des griechischen Urtextes kann man erkennen, dass es einmal ein Lied war, so ähnlich wie die Psalmen. Wir haben den sog. Philipper-Hymnus vorhin gemeinsam im Wechsel gelesen.

„Philipper-Hymnus“ heißt er, weil der Apostel Paulus den Text im Gefängnis, wahrscheinlich in Rom, an die Gemeinde in Philippi in Nordgriechenland schrieb. Hier hatte er etwa 12 Jahre zuvor selbst eine christliche Gemeinde gegründet. Im Gefängnis nun schreibt er, dichtet er, woran er sich festhält, was seine Hoffnung ist. Er dichtet sein Lebenslied, seine Hymne, die er – wie es Hymnen an sich haben – mit anderen teilen und laut singen möchte.

„Seid so gesinnt“, schreibt Paulus, „wie Jesus Christus es auch war“ oder: „wie es uns in Gemeinschaft mit Jesus Christus entspricht“ (Phil 2, 5). Er bezieht die Gemeinde in Philippi, die Gemeinden in Ephesus, Korinth, Rom, Jerusalem und auch uns heute mit ein, die ganze große Fan-Gemeinde. So, als würde er sagen: „Das ist unser, das ist euer Lied!“

Und dann folgt der erste christliche Hymnus überhaupt, das erste Christuslied, das wir kennen.

Paulus wäre nicht Paulus, wenn das Lied nicht klug, kraftvoll und kompliziert wäre. So leicht zu verstehen wie eine Fußball-Hymne ist es jedenfalls nicht …

Paulus zeichnet Jesu Weg nach. Er setzt im Himmel ein: Jesus war göttlicher Gestalt, das war ihm so geschenkt, er musste es sich weder erwerben noch rauben. Und ebenso selbstverständlich oder freiwillig wurde er ein Mensch, klein, schwach und sterblich – bis zum Tod am Kreuz. Da hat Gott ihn erhöht, ihn den Tod besiegen lassen und in den Himmel gerufen. Hat ihm einen Namen gegeben, der höher, größer und mächtiger als alle anderen Namen der Welt sind. Alle – im Himmel und auf der Erde, im Leben und im Tod –, alle werden bekennen, dass Jesus Christus der Herr ist, König des Kosmos.

Das, so die Intention von Paulus, soll euer Lied sein, eure Hymne, euer Bekenntnis. Der ist es, zu dem ihr gehört, an dessen Weg ihr steht, dem ihr auf seinem Weg nachfolgen sollt.

Es ist ein Weg, der in die Tiefe führt. Paulus beschreibt das mit der „Knechtsgestalt“ und dem „Gehorsam“. Und meint damit weder blinden Gehorsam gegenüber Menschen und menschengemachten Mächten, wie Geld oder Waffen, noch meint er Passivität, Selbstaufgabe oder Unterwerfung.

Mit der Tiefe, dem „Knechtsein“ und „Gehorsam“, meint er vielmehr das Vertrauen auf den kleinen König, den radikalen Menschenfreund, für den kranke Menschen ebenso wertvoll sind wie starke, Arme wie Reiche, Gebildete wie Ungebildete. Er meint den Glauben an, die Verbindung mit dem König, der ohne alle Insignien von Macht einzieht, ohne Krone, ohne Zepter, ohne Schwert.

Ihm „gehorsam“ zu sein, uns an ihn zu halten, das hat Martin Luther unübertrefflich in seiner sog. Freiheitsschrift formuliert:

„Ein Christenmensch ist ein freier Herr – oder: eine freie Frau – über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht – oder: eine gehorsame Magd – aller Dinge und jedermann untertan.“ (Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520)

Freiheit, die uns erwächst aus der Bindung an Jesus Christus. Bereitschaft zum Dienst und zur Hingabe, die aus Freiheit entsteht.

Von dieser Freiheit habe ich gehört, als ich letzte Woche eine Dame aus unserer Gemeinde zum 80. Geburtstag besucht habe. Sie nutzte meinen kurzen Besuch, um mir etwas Wesentliches von sich zu erzählen. Sie zeigte auf den blauen Siegelring an ihrem kleinen Finger. Ihr Vater hatte ihr diesen Ring zur Konfirmation machen lassen, mit dem Familienwappen. Jahre später war sie auf einem Empfang mit vielen Gästen. Da stand ihr ein großgewachsener, gutgekleideter Herr gegenüber, der den Ring sah und sagte: „Wie ich sehe, sind wir vom gleichen blaublütigen Stamm!“ – „Nein“, hat sie gesagt, „Sie irren sich. Ich bin bürgerlich, ein ganz normaler Mensch. Und außerdem bin ich Christin, da spielt so etwas keine Rolle!“

Sie hätte die Nähe dieses Mannes nicht ertragen, ihn widerwärtig gefunden. Obwohl sie ihr Leben lang im Hotel gearbeitet hätte und vielen Menschen zu Diensten gewesen sei. Aber so etwas – da gäbe es doch Grenzen!

Für diese Frau wurde die Grenze, die Kontur ihres christlichen Glaubens in dieser Begegnung deutlich. Die Überheblichkeit des Mannes, sein Machtgebaren verletzte sie, machte sie und andere Menschen klein. Und obwohl sie eine Frau, eine Angestellte, ohne Titel, ohne Mann, ohne großes Geld war, widersprach sie. Als „ein freier Christenmensch über alle Dinge und niemandem untertan“.

Uns von solchen Menschen und Mächten, die andere kleinmachen, ausgrenzen und ausbeuten, abwenden. Uns gegen sie wehren und protestieren – auch für andere, die sich schlechter wehren können als wir. Uns anders verhalten, der Menschenfreundlichkeit und dem Frieden folgen – dazu sind wir frei durch unseren Glauben, unsere Bindung an Jesus Christus.

Und davon müssten wir eigentlich viel lauter singen! Von der Freiheit, die aus Liebe entsteht, aus Liebe zu dem König auf dem kleinen Esel, dem Herrscher ohne Abzeichen, unserm Bruder und Freund. „Halleluja“ und „Hurra“, „Na endlich“, „Gott sei Dank“! Amen.