Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Frau am Fenster

Frau am Fenster

Predigt in der Reihe zu Caspar David Friedrich am 3. März
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

Sonntag Oculi, 3. März 2024

Predigt zu „Frau am Fenster“ von Caspar David Friedrich und 1. Korinther 13, 8-13

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

Caroline steht am Fenster. Die junge Familie wohnt in Dresden An der Elbe 26 im 2. Stock. Das Atelier von Caspar David Friedrich geht auf die Elbe hinaus. Wir erkennen den Raum von einem Bild seines Freundes Georg Friedrich Kersting, der das karge, penibel aufgeräumte Atelier einige Jahre zuvor 1811 gemalt hat.

Seit der aus Greifswald stammende Sohn eines Seifensieders und Lichtziehers Caspar David Friedrich sich nach dem Studium in Kopenhagen 1798 in Dresden niedergelassen hat, ist viel passiert:

Er hat im Sommer auf Rügen gemalt; er hat den halben ersten Preis bei den von Goethe ausgeschriebenen Weimarer Preisaufgaben gewonnen – und sich danach jahrzehntelang ebenso beharrlich wie vergeblich um Goethes Gunst bemüht; er hat die Besetzung Dresdens durch Napoleons Truppen erlebt; er hat versucht, seine Bilder zu verkaufen, und ist schließlich Mitglied der Dresdner Kunstakademie geworden; er hat Freunde gewonnen, wie den Maler Kersting und den genialen Arzt und Philosophen Carl Gustav Carus; er hat das Elbsandsteingebirge und den Harz erwandert …

Nach 20 Jahren ist er in Dresden richtig angekommen, verdient Geld und steht auf dem Zenith seiner Schaffenskraft und seiner Beliebtheit als Künstler. Da heiratet er, zwar nach einer angemessenen zweijährigen Verlobungszeit, aber dennoch für die meisten Freunde und Bekannten ziemlich überraschend, am 21. Januar 1818 morgens früh um 6 Uhr in der Dresdner Kreuzkirche. Nur die Mutter und der Bruder der Braut sind anwesend. Kaum einer hat damit gerechnet, dass der menschenscheue, melancholische und eigensinnige Maler sich im Alter von 43 Jahren noch zur Ehe entschließen würde.

Caroline Bommer – „Line“, wie er sie nennt – ist fast 20 Jahre jünger als er. Sie stammt aus einer bürgerlichen Dresdner Familie und war dem Maler wahrscheinlich aus dem Laden ihres Bruders bekannt, wo er seine Bleistifte kaufte.

Wir wissen von ihr fast nichts. Sie taucht zwar auf einigen Bildern von Caspar David Friedrich auf, vor allem auf den von der Hochzeitsreise im Sommer 1818 inspirierten bekannten Werken „Auf dem Segler“ und „Kreidefelsen auf Rügen“. Hier ist sie in liebesroten Kleidern zu sehen; auf dem Segler hält sich das Paar sogar an den Händen. Aber ihr Mann hat sie nie von vorne, nie ihr Gesicht gemalt.

Caroline steht am Fenster im Atelier ihres Mannes. Wir wissen nicht: Ist es das Jahr 1818? Einige Monate nach der Hochzeit, sie hat gerade die Wohnung eingerichtet, einen neuen Bratofen und einen Kachelofen setzen lassen, Geschirr und Möbel für die Wohnung gekauft. Sie sorgt jetzt für Wärme, freut sich auf das gemeinsame Leben mit ihrem Mann, als junge, aber selbstständige Hausfrau.

Oder ist es das Jahr 1819? Erwartet sie ihr erstes Kind – Emma, die am 30. August geboren wird, die der Vater besonders lieben wird, so froh er auch ist, wenn die Mutter mit ihr aufs Land fährt und er zuhause seine Ruhe hat?

Oder ist es das Jahr 1821, in dem Caroline ein totes Kind zur Welt bringen muss? Ist sie, sind die Eltern noch guter Hoffnung?

Oder ist das Bild erst 1822 entstanden, als sie schwanger ist mit Agnes, auf den später noch der Sohn Gustav folgen wird? Als die Familie in eine größere Wohnung umzieht, nur einige Häuser weiter, von der Hausnummer 26 in die Nummer 33 An der Elbe. Trauer und Anstrengung haben sich auf die Familie gelegt.

Malt Caspar David Friedrich die glückliche Vergangenheit, das Glück des Anfangs, malt er die Gegenwart, oder malt er die Sehnsucht?

Caroline steht am Fenster. Sie trägt jetzt ein grünes Kleid. Ocker und Erdbraun mischen sich in das Hoffnungsgrün. Erdig und naturverbunden wirkt es, fällt in weichen Falten. Vielleicht ist Caroline schwanger. Sie trägt das Haar ordentlich zu einem Dutt am Hinterkopf gebunden, saubere weiße Strümpfe und gelbe Hausschuhe – eine ordentliche, reinliche Hausfrau.

Caroline gehört eigentlich nicht ins Atelier ihres Mannes. Sie soll sich dort nicht aufhalten und vor allem nichts verändern. Als Caspar David Friedrich nach der Hochzeit an seine Brüder in Greifswald schreibt, wie sich bei ihm zuhause nun alles verändert, bemerkt er stolz oder etwas bockig oder auch erleichtert, dass bei ihm Atelier jedoch alles unverändert sei.

Wir sehen auf dem Bild „Frau am Fenster“ mit den Augen des Malers auf seinen Arbeitsraum, der streng und geschlossen wirkt, fast wie eine Kloster- oder Gefängniszelle, ein Refugium ohne Ablenkung oder Störung. Die Fugen im Dielenboden, die an der Wand umlaufenden Leisten und das schmale Fensterbrett geben die vertikale und die horizontale Richtung vor.

Das dreiteilige Fenster ist von innen mit Holzläden verschlossen. Es erinnert an ein Triptychon, an einen Flügelaltar, dessen Seitenflügel geschlossen sind. Der Blick richtet sich ganz auf die Figur vor dem mittleren, geöffneten Fenster. Man könnte fast an Maria denken, die Jungfrau, die Mutter, die Heilige …

Das Fenster wie ein „religious window“, aufgeladen durch die Dreigliedrigkeit eines Flügelaltars, die zentrale Position der zwischen Innen und Außen vermittelnden Frau, die scharfe Trennung zwischen Licht und Dunkelheit, Enge und Weite.

Caroline steht am Fenster. Wir ahnen mehr als wir sehen, was sie sieht: die Elbe, darauf Boote und Segel. Ein Mast ragt ins obere Fenster. Am gegenüberliegenden Ufer zartgrüne Pappeln im Wind, ein heller frühlingsleichter Himmel.

Was sieht, was denkt Caroline am Fenster? Was sieht, was denkt Caspar David Friedrich, als er seine junge Frau so stehend, schauend, schweigend malt?

Ein Sehnsuchtsbild, typisch für die Romantik: der Dualismus von Außen und Innen, Tag und Nacht, Mann und Frau, den die romantischen Maler und Dichter sehnsuchtsvoll zu überwinden suchten. Als Ziel die Überwindung des Trennenden, die Verschmelzung der Gegensätze vor Augen bzw. im Herzen. Die Sehnsucht, die als zutiefst bestimmendes Gefühl ihren Wert und ihre Bedeutung in sich hat.

Ob Caroline so sehnsuchtsvoll wie ihr Mann war? Und wenn ja, worauf richtete sich wohl ihre Sehnsucht? War sie ästhetisch, religiös geprägt wie seine, oder richtete sich ihre Sehnsucht auf Konkreteres, vielleicht auf Freundinnen, auf Reisen, auf andere Beschäftigungen und Anregungen?

Sehnte sich Caroline nach draußen, nach Weite, Bewegung und – nicht zuletzt – nach geistiger Freiheit und Bildung? So, wie es Frauen ihrer Zeit und Mädchen und Frauen in manchen Ländern bis heute geht.

Machte sie sich Gedanken über ihre Zeit und Gesellschaft, interessierte sie sich für Politik, wollte sie vielleicht sogar – und sei es durch das Fenster – Einfluss nehmen?

So, wie es uns im Alten Testament von Rahab erzählt wird, die bei der Belagerung von Jericho einen Korb aus ihrem Fenster herabließ, darin zwei feindliche Kundschafter hochzog, in ihrem Haus versteckte und so die Stadt vor der vollständigen Zerstörung bewahrte (vgl. Jos 2).

Oder wie es von Michal erzählt wird, die ihren Mann David heimlich durch das Fenster hinausließ, damit Saul ihn nicht töten konnte (vgl. 1. Sam 19).

Hielt Caroline Ausschau nach etwas, wartete sie auf jemand, sann sie auf Ausbruch, träumte sie von Aufbruch – oder ist genau dies einfach der Platz, den sie kennt und mag: in der Sicherheit des Hauses und der Ehe, in der Behaglichkeit von Hauspantoffeln und weißen Strümpfen am Fenster stehen und sich am bunten Treiben auf der Elbe freuen? Nichts wünschen, nichts hoffen, nichts wollen …

Aus Briefen und Gedichten, von den mehr oder weniger religiösen Bildern von Caspar David Friedrich wissen wir – jedenfalls teilweise – wie er über Himmel und Erde, Glauben und Gott dachte. Wie es in ihm eine ständige Beschäftigung mit der Vergänglichkeit gab, die Neigung zur Dämmerung, zum Mondlicht, zur Stille und Nacht, eine Sehnsucht nach Erlösung von Ungleichheit, Angst und Unfreiheit, im Inneren wie im Äußeren.

Das Bild von Caroline am Fenster drückt diese Sehnsucht auf eine helle, freundliche Weise aus: Caroline, die uns den Blick geradeaus versperrt, lenkt unsere Blicke nach oben. Da sehen wir, bloß durch ein schmales, zartes Fensterkreuz getrennt, den Himmel. Unverstellt, hoch und weit, Luft und Licht.

Als wäre dort Gottes Raum, die Ewigkeit, das Heil, vollkommener Frieden – wo Frau und Kinder nicht stören, Geldsorgen und Geltungsängste sich in Luft auflösen, die Trauer um die vielen verstorbenen Familienmitglieder leichter wird.

Hier, in diesem Leben, im Haus, im Alltag, mit der Familie, so mag Caspar David Friedrich gedacht haben, sehen wir eben bloß wie „durch einen Spiegel in einem dunklen Bild. Dann aber – im Himmel, im Licht, dort oben – werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.“ (1. Kor 13, 12)

Marcel Proust hat die Botschaft, die der Maler im leuchtenden Himmelsblau versteckt hat, wohl genau verstanden. In „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ riet er: „Halten Sie stets ein Stückchen Himmel über ihrem Leben frei!“ [zit. nach F. Illies: Zauber der Stille, 2023, S. 236]

Wie Caroline das wohl gehört hätte?

Amen.

 

vgl. Boris von Brauchitsch: Caspar David Friedrich. Biographie, Berlin 2023; Florian Illies: Zauber der Stille. Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten, Frankfurt a.M. 2023.