Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – In Gottes Garten

In Gottes Garten

Predigt am 4. Februar
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

Sonntag Sexagesimae, 4. Februar 2024

Predigt zu Markus 4, 26–29

Predigttext Markus 4, 26–29

Und er sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft 27 und schläft und steht auf, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie. 28 Von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. 29 Wenn aber die Frucht reif ist, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

In diesen Wochen und Monaten läuft im Schauspielhaus das große Theaterprojekt „Anthropolis“. Fünf bedeutende Geschichten oder Gestalten aus der griechischen Mythologie werden auf die Bühne gebracht. Ganz zu Beginn, als Prolog, wird die Gründung der Stadt Theben geschildert:

Als Kadmos den Stier gefunden hat, der seine Schwester Europa entführt hat, und ihn töten will, erscheint ein Drache. Kadmos besiegt den Drachen. Und dann sät er dessen Zähne in frisch gezogene Ackerfurchen. Aus den gesäten Drachenzähnen wachsen bewaffnete Männer, die Sparter – d.h. auf Griechisch „die Gesäten“. „Spartanisch“ unempfindliche Krieger, hart und hartnäckig. Das Kämpfen liegt ihnen im Blut.

Der Mythos erzählt, wie die Saat der Drachenzähne aufgeht in immer neuen Kämpfen, Morden und Schlachten. Den „Spartanern“ und ihren Nachkommen bis heute – ob Huthi-Rebellen, Hamas oder Hell’s Angels – ist das sozusagen in die Wiege gelegt.

An die Saat der Drachenzähne musste ich denken, als ich den heutigen Predigttext vom Wachsen der Saat im Markus-Evangelium las. Der biblische Text steht dem antiken Mythos geradezu diametral entgegen. Während der Gründungsmythos von Theben das Geheimnis der Gewalt deutet, die den Bewohnern, die uns Menschen offenbar innewohnt, weist das biblische Gleichnis auf das Geheimnis der erlösenden Macht Gottes hin.

Immer wieder erzählt Jesus vom Reich – oder wörtlicher: von der „Herrschaft“ – Gottes. In Gleichnissen, mit wenigen Worten und einprägsamen Bildern, wie Miniaturen.

Man könnte das Gleichnis vom Wachsen der Saat mit fünf Pinselhaaren in ein Medaillon malen: ein Samenkorn, ein grüner Halm und eine volle goldene Weizenähre. Ein Mensch wäre dabei allenfalls im Hintergrund angedeutet.

Ich frage mich, was Jesus seinen Anhängerinnen und Anhängern mit diesem knappen Bild wohl erklären wollte? Worum ging es ihm?

Wie Getreide wächst, wussten seine Zuhörer. Es stand ihnen aus ihrem Alltag klar vor Augen: wie der Boden vorbereitet sein muss, wie man die Saat aus der halbgeöffneten Hand im weiten Bogen auf das Feld streut, wie man das Unkraut in Zaum halten und für Feuchtigkeit sorgen muss.

Das war bekannt, alltäglich. Was ist also neu? Wo liegt für Jesus der Vergleichspunkt zum Reich Gottes?

Neu ist vielleicht die Betonung, dass ein Menschen schläft und aufsteht, vor sich hinlebt, „Nacht und Tag“. Dass viel Zeit vergeht, während die Saat aufgeht. Und der Mensch weiß nicht, wie und warum.

Der Mensch ist zwar da, aber er ist nicht die aktive Hauptperson bei diesem Geschehen. „Wie von selbst“ wachsen die Samen auf. Im griechischen Urtext steht da automaté, woher unser Wort „automatisch“ kommt. Es liegt nicht in der Hand des Menschen.

Warum aber erzählt Jesus so vom Reich Gottes? Welche Botschaft wollte er seinen Jüngerinnen und Jüngern vermitteln?

Ich denke, es geht ihm bei der Miniatur vom Reich Gottes um das Sehen und Wahrnehmen. Um Aufmerksamkeit, Geduld, Vertrauen.

Wer einen Garten oder einen Balkon hat und die Geduld hat, Samenkörner zu säen, statt fertige Pflanzen zu kaufen, die wissen, in welche enge, aufmerksame Beziehung man zu den Samen, den Zwiebeln oder Knollen geraten kann, die man in die Erde legt. Wie man sich erst gedulden muss, weil gar nichts zu sehen ist – und dennoch muss man die Saat feucht halten. Wie man sich freut, wenn die ersten grünen Spitzen zu sehen sind. Wie man bei starkem Regen oder Wind um die zarten Pflänzchen bangt, sich bei Frost um die Blüten sorgt. Wie man sie immer im Blick hat, sie hegt und pflegt …

Und trotzdem liegt das Wachstum nicht in unserer Hand, folgen die Pflanzen ihrem eigenen Bauplan. Trotzdem wächst die Saat „wie von selbst“, Nacht und Tag, während wir schlafen, aufstehen, essen und andere Dinge tun. Wie nebenbei, beiläufig und alltäglich.

Ich glaube, in dem Bild der wachsenden Saat, das Jesus für das Kommen des Reiches Gottes verwendet, stecken zwei Botschaften:

Zum Einen erinnert Jesus uns an die innere Haltung einer Gärtnerin oder eines Sämanns: An die Liebe, mit der man an Sämlingen und Pflanzen hängen kann, sei es Getreide, Blumen oder Obst. An die Hingabe, sie zu wässern, zu düngen, zu schützen … An die Bereitschaft, viel für die Saat einzusetzen – während man gleichzeitig weiß, dass sie trotz aller Bemühungen gar nicht oder nur kümmerlich aufgehen kann. Später, schlechter oder anders als wir es wollten.

Ich denke, die Haltung, die Jesus uns an diesem Beispiel für das Kommen des Reiches Gottes empfiehlt, besteht in einer Mischung aus Einsatz, Neugier und Vorfreude – bei gleichzeitigem Abwarten und Loslassen. Ein Wechsel aus Hingabe und Gelassenheit. – Und vielleicht beschreibt diese Mischung, worin der Glaube überhaupt bestehen kann.

Dass wir uns durchaus einsetzen für das, was dem Reich Gottes dienlich ist, in unserem Beruf, in unseren Familien, in Gruppen oder der Gemeinde: für Verständigung und friedliche Lösungen, für die Teilhabe aller Menschen. Und dabei zugleich wissen und aushalten, dass es immer wieder auch ganz anders laufen kann, als wir selbst denken oder wollen.

Die zweite Botschaft, die das Gleichnis vom Wachsen der Saat enthält, ist die der Blickrichtung. Wie alle Gleichnisse Jesu, sei es das vom verlorenen Groschen, vom Senfkorn, Sauerteig oder von der Hochzeit, stammt es aus dem Alltag.

Jesus siedelt damit das Reich Gottes in der Alltäglichkeit des Lebens, in dieser Welt an. Das Reich Gottes liegt nicht nur im Himmel oder in der Zukunft, sondern es ist schon jetzt und hier vor unseren Augen über die Erde ausgebreitet. Wir müssen es nur sehen. Unseren Alltag wahrnehmen als einen Raum, in dem Gott wirkt, der „mitten im Diesseits jenseitig“ ist, wie Dietrich Bonhoeffer es formulierte. Der irdische Raum, der immer auch zum Himmel hin offen ist.

Aus dieser Perspektive, mit dieser Blickrichtung auf unsere Lebenswelt als Raum Gottes, erscheint es dann nicht mehr bloß alltäglich, wenn im Frühjahr die Schneeglöckchen blühen und das Getreide sprießt; wenn im Sommer Himbeeren und Weizen geerntet werden; wenn wir überraschende, beglückende Begegnungen mit anderen Menschen haben, die uns anders gegenübertreten, als wir es erwartet hätten, oder ein Fest zu einem Erlebnis eigener Tiefe und Strahlkraft wird.

Das Bild vom Wachsen der Saat lädt ein, in diesen scheinbar alltäglichen Vorgängen wie in einer Miniatur das Wachsen des Reiches Gottes zu sehen. Den Alltag nicht nur als eine drückende Last, ein deprimierendes Schicksal zu begreifen, dem wir hilflos ausgeliefert sind, wie es die antiken Mythen erzählen. Sie ist, sagt Jesus mit den Gleichnissen, vielmehr ein Raum, der darauf wartet, entdeckt zu werden. Mit all den Möglichkeiten, die in ihm schlummern. Ein Raum, eine Zeit, die das Potential in sich trägt, auch Reich Gottes zu sein. Man muss nur richtig hinsehen. Die Wirklichkeit ist mehr als wir denken, mehr als wir zu hoffen wagen, mehr auch, als wir selbst dafür tun oder darauf Einfluss nehmen.

Wie eine Gärtnerin schon im Vorfrühling auf Rosen und Sonnenblumen hofft, wie ein Landwirt im Geiste schon die Getreideähren, Apfelkisten und Heuballen vor sich sieht – so lasst auch uns auf unseren Alltag sehen!

Mit der Vorfreude und Neugier auf das, was werden kann. Mit der Bereitschaft, uns einzusetzen nach unseren Möglichkeiten, in Verantwortung vor Gott und unseren Nächsten. Mit der Gelassenheit, dass alles ganz anders werden kann. Und im Vertrauen, dass wir ein Teil von Gottes Geschichte mit seinen Menschen sind, getragen von Gott auch in Zeiten, wo die „Drachenzähne“ größer wirken als jede grüne Saat.

„Jetzt wächst es auf“, sagt Gott, „erkennt ihr’s denn nicht?“ (Jes 43, 19) Amen.