Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Was bleibt? Was bleibt!

Was bleibt? Was bleibt!

Predigt zur Ausstelungseröffnung
Pastorin

Andrea Busse

Gottsdienst am 28. Januar

Hebräer 13, 5–14

Predigttext:

Seid nicht geldgierig, und lasst euch genügen an dem, was da ist. Denn er hat gesagt: »Ich will dich nicht verlassen und nicht von dir weichen.« 6 So können wir getrost sagen: »Der Herr ist mein Helfer, ich werde mich nicht fürchten; was kann mir ein Mensch tun?« 7 Gedenkt eurer Lehrer[1], die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schaut an und folgt dem Beispiel ihres Glaubens. 8 Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit. 9 Lasst euch nicht durch mancherlei und fremde Lehren umtreiben, denn es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade, nicht durch Speisegebote, von denen keinen Nutzen haben, die danach leben. 10 Wir haben einen Altar, von dem zu essen denen nicht erlaubt ist, die am Zelt dienen. 11 Denn die Leiber der Tiere, deren Blut durch den Hohenpriester als Sündopfer in das Heilige getragen wird, werden außerhalb des Lagers verbrannt. 12 Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. 13 So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. 14 Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. (Hebräer 13, 5–14)

Predigt zur Ausstellungseröffnung – Was bleibt

Was bleibt?
fragt mich mein Patenkind, 21 Jahre alt. Sie ist in einer Welt groß geworden/ sie soll in einer Welt Verantwortung über­nehmen, die sich immer schneller verändert. Alles scheint un­sicher geworden: Laut Scheidungsrate zerbricht ein Drittel aller Familien, die aktuelle Pisa-Studie attestiert dem Bildungs­system einen neuen Tiefpunkt, die Sozialsysteme sind in Frage gestellt, die Staatsfinanzen löcherig, milliardenlöcherig sogar, rechtsextreme Bewegungen und Parteien bringen unsere demo­kratischen Strukturen in Gefahr und der Klima­wandel unsere Lebensgrundlage. Die ganzen Rahmen­bedingungen, die ihr Halt geben, das Funda­ment, auf dem sie zu stehen glaubte, scheinen bröckelig geworden. Wo führt das hin, fragt mich die junge Frau, was bleibt?

Unsere Welt, unsere Gesellschaft wird nicht so bleiben, wie sie war. Diese Einsicht ist banal, das war schon immer so. Vieles hat sich in der Vergangenheit verändert, Vieles davon war positiv. Höherer Lebensstandard, bessere medizinische Versor­gung, leichtere Arbeitsbedingungen, mehr Rechte gerade für Frauen. Fortschritt nennt man das. Krisen, Verunsiche­rungen, Überforderungen mit dem Neuen gab es auch schon immer. Und natürlich die, die früher alles besser fanden. Nostalgie oder Rückwärtsgewandtheit nennt man das dann vielleicht. Ich will gar nicht werten, sondern nur beobachten. Ich will die Frage aufnehmen, die jede Veränderung – sei sie nun ersehnt und begrüßt oder befürchtet und abgelehnt – mit sich bringt: Die Frage nach dem, was bleibt. Was Bestand hat, Bestand haben soll in unserer Welt und auch in unserem Leben.

Was bleibt?
fragen mich auch Angehörige einer Verstorbenen. Diese Frau hat viel hinterlassen – zu viel. Ein heftiger Familienstreit um das Erbe – das bleibt. Die Tochter, mit der ich spreche, hat sich aus dem Konflikt zwischen ihren Geschwistern zurückgezogen. Hat sogar auf Ausgleichs­zahlungen aus irgendwelchen Immo­bi­lien­geschichten verzichtet und sich dafür die alte Nähmaschine und den Biedermeiersekretär der Mutter erbeten. Sie sieht vor ihrem inneren Auge die Mutter, wie sie den Stoff unter der Nadel durch­­zieht und gekonnt mit dem Fußantrieb für regelmäßigen Schwung sorgt. Oder wie sie gebeugt über dem Schreibtisch sitzt und mit ihrer feinen Handschrift eine Postkarte schreibt. Das bleibt – sagt sie – diese Erinnerungen und Bilder. Und die warmen Gefühle, die damit einhergehen. Auch der Schmerz, den die Lücke hinterlässt, wird bleiben.

Wenn ein Mensch geht – sei es nach einem langen erfüllten Leben oder auch unerwartet und viel zu früh – dann fragen die, die ihm nahestehen, was geht zu Ende? Was ist unwieder­bring­lich vorbei und was bleibt von diesem Leben. Erinnerungen bleiben – sie sind kostbar, sie werde gepflegt. Sie können sich festmachen an einer Nähmaschine oder Strick­jacke, an einem Foto oder Brief oder auch „nur“ an inneren Bildern. Erinne­run­gen können auch schmerzhaft sein, eine Last. Ver­letzendes Verhalten, kränkende Worte, die das eigene Selbst­be­wusstsein aus­höhlen, sind leider oft sehr haltbar und können ein ganzes Menschenleben prägen. Von einem Menschen, der verstirbt, bleibt Ermutigendes oder auch Belas­tendes – meistens beides zugleich. Menschen hinter­lassen nicht nur Möbel- und Kleidungsstücke, Geld oder Immo­bilien, sondern auch andere Spuren, z.B. Spuren im Wesen und sogar im Aus­sehen der Hinterbliebenen. Genetisch als Erbgut bei den leib­lichen Kin­dern, tief im Wesen verankert bei denen, mit denen sie viel Zeit verbrachten, für die sie Vorbild waren, auch da – in positiver wie in negativer Weise.

Insofern liegt für uns alle, egal wie alt wir sind, die Frage nahe: Was bleibt von uns, wenn wir einmal gehen? Was hinterlassen wir an Materiellem und wie wollen wir das verteilen, so dass niemand verletzt wird und streiten muss. Was hinterlassen wir an Spuren, an Prägungen, an guten und schweren Erinne­rungen? Was bleibt von uns? Was soll von uns bleiben?

Was bleibt? Es sind viele – sehr unterschiedliche – Fragen, die sich alle aus dieser einen ergeben. Wir wollen manche davon bei den Veranstaltungen in den kommenden Tagen aufgreifen. Gemein­sam ins Nachdenken kommen und nach Antworten suchen. Hier und heute will ich schon mal ein bisschen auf Antworten schielen, die andere vor uns gegeben haben. Wir sind ja alle schon immer Erben. Auch Antworten haben wir geerbt, die wir überprüfen müssen, ob sie für uns noch Gültigkeit haben. Wir haben viel hinterlassen be­kommen nicht nur von unseren Eltern oder Großeltern, sondern von all den Menschen, die vor uns unsere Welt und Gesellschaft, Politik und Kultur gestaltet und geprägt haben. Manches – gerade im kulturellen Bereich – ist ein unglaublich reich­haltiges Erbe, das wir bestaunen können. Anderes ist ein schweres Erbe, mit dem wir lernen müssen umzu­gehen. Heute einen Tag nach dem Holocaustgedenktag und drei Tage, nachdem die Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche veröffentlich wurde, fallen uns vielleicht besonders die Schweren und Belastenden Dinge ein, mit denen wir einen Umgang finden müssen.

Was bleibt?
Auch der Glaube hat immer wieder versucht, auf diese Frage und die Verunsicherung, die damit einhergeht, Antworten zu finden: Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeiten – so eine der knappesten und prägnantes­ten biblischen Antworten aus dem Hebräerbrief. Dieser Vers stand im Altarraum der Kirche in meinem Heimatdorf. Das war sozusagen in Stein gemeißelt. Als Kind hat mich das ehrlich gesagt nicht besonders interessiert. Da war ja alles um mich herum stabil. Ich war gut aufgehoben in meiner Familie, in der Schule, im Dorf. Alles schien mir dasselbe gestern, heute und in Ewigkeit. Erst viel später, als ich dann 16mal umgezogen war, eine Freundin an Krebs gestorben und der politisch und wirtschaftliche Krisenmodus in mein Bewusstsein vorgedrungen – da hatte ich diesen Vers deutlich vor Augen, den ich so viele Stunden in meiner Kindheit angestarrt hatte, wenn der Pfarrer langweilig predigte. Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeiten.

Und ein weiterer Vers aus dem Hebräerbrief hat sich für mich damit verbunden. Auch er findet sich in einer Kirche, der ich mich verbunden fühle, weil ich dort gearbeitete habe – in der Katharinen­kirche hier in Hamburg: „Wir haben hier keine bleibende Stadt“ steht dort über dem Eingang. Er spiegelt die Erfahrung der Zerstörung wider. Im Zweiten Weltkrieg, in der Operation „Gomorrha“ wurde auch die Katharinenkirche schwer beschädigt. Die, die sie wiederaufbauten, hatten das deutlich vor Augen: Hier gibt es keine bleibende Stadt. Und wer möchte das bestreiten? Diese Welt ist nicht nur gefährdet, sie verändert sich nicht nur ständig, sie ist für uns erwiesener­maßen auch nur eine Durchgangs­station. Wir werden nicht bleiben.

Aber der Hebräerbrief setzt ein Punkt und kein Fragezeichen hinter das „Was bleibt“. „Hier haben wir keine bleibende Stadt, die zukünftige suchen wir“. Wer durch den Eingang der Katha­rinen­­kirche in den Altarraum schaut, sieht dort im zentralen Fenster das Bild der zukünftigen Stadt, das neue Jerusalem, wie es in der Offenbarung ausge­malt ist. Wie das wirklich aus­sehen wird, das wissen wir nicht. Aber eines wissen wir darüber: Das bleibt. Die künftige Stadt, unsere verheißene Heimat ist auf Ewigkeit angelegt. Wir sind, so sagt es die Bibel immer wieder Gottes Kinder und damit seine Erben, Erben des Reiches Gottes.

Mir scheint, als ob der Schreiber des Hebräerbriefes unsere aktuelle Ausstellung kommentieren wollte, sich einmischen wollte in unser Nachdenken über das, was wir erben und vererben, über Vergängliches und Bleibendes. Das Materielle wird nicht bleiben, betont er und mahnt „Seid nicht geld­gierig!“ (Wäre ein guter Ratschlag in mancher Erbstreitigkeit). Und er schließt kausal an: Denn er, also Gott, hat gesagt: „Ich will dich nicht verlassen und nicht von dir weichen.“ Das bleibt. Das trägt, das ändert sich nicht und wird durch nichts in Frage gestellt: Die Zusage Gottes, an unserer Seite zu sein. Da ist kein Platz für ein Fragezeichen, da steht ein Punkt.

Wir als Christinnen und Christen besitzen schon ein reich­haltiges, ein bleibendes Erbe: Wir haben all die Geschichten der Bibel geerbt. Neben unseren leiblichen Eltern sind die Menschen, von denen dort erzählt wird, unsere „Vorfahren“, Vorbilder im Glauben, die uns prägen, eine religiöse DNA vermachen. In der Bibel sind uns Zeugnisse vererbt, die von Erfahrungen mit Gott erzählen, wir finden dort aufgeschrieben all unsere existentielle Fragen und Spuren der Antwortsuche und -versuche. Wir sind Erben dieses Glaubens, der uns Beständigkeit verheißt. Was nicht heißt, dass die Formen, in denen dieser Glaube gelebt wird, sich nicht ändern dürfen, das tun sie, das müssen sie – wir sind schließlich Lutheraner. Aber: Jesus Christus ist derselbe, gestern, heute und in Ewigkeit.

Wir spüren dieses Erbe, wenn wir die alten Kirchenlieder singen. Wenn wir dann trotz all unserer Zweifel uns mitein­schwingen können in die Glaubensgewissheit von Komponisten und Dichtern, die lange vor uns gelebt haben. Wir sind Erben von solchen Gebäuden, die ausstrahlen, dass viele Menschen vor uns hier gebetet, gesungen und auf Gottes Wort gehört haben. Und wir wollen dieses Gebäude weiter­vererben – möglichst heil und saniert – an die, die nach uns kommen und nach uns glauben und beten, zweifeln und hoffen. Wir erben die Hoffnung, dass der Glaube, der sich für so viele Menschen vor uns als tragfähig erwiesen hat, auch uns tragen kann und uns hilft, zu leben und zu lieben.

Was bleibt?
Vermutlich haben Sie eher Paulus im Ohr als den Hebräerbrief: „Nun aber bleiben diese drei: Glaube, Liebe, Hoffnung“ – so hat Paulus es zusammengefasst. Es ist einer der Verse, der bei Trauerfeiern immer wieder gewählt wird. Dann wenn Menschen ganz essentiell mit der Erfahrung konfrontiert werden, dass etwas abbricht, aufhört, nicht nur vergänglich ist, sondern tatsächlich vergangen, dann spüren sie, dass die Liebe nicht endet. Dann sprechen wir von der christlichen Hoffnung, dass der Tod nur ein Wechsel ist und nicht das Ende und dann meldet sich der Glaube zu Wort, den er Hebräerbrief so formu­liert: Gott spricht: Ich will dich nicht verlassen und nicht von dir weichen. Das bleibt. Amen